Kino aus Nigeria: Chika Anadu gehört zu den vielversprechendsten und politischsten Macherinnen des nigerianischen Kinos. Spätestens mit ihrem Diskiminierungsdrama „B for Boy“ sorgte sie auch im Westen für Aufsehen. Im Exklusivinterview mit JournAfrica! spricht sie über die Quellen ihrer Inspiration.
Ihren Rollkoffer geschickt durch die Menschenmenge am Londoner Bahnhof King's Cross manövrierend, eilt Chika Anadu mir entgegen. Wir sind froh, einen Interviewtermin mit ihr ergattert zu haben, bevor sie sich auf den Weg nach Brüssel macht. Als aufstrebende Filmproduzentin ist sie gern gesehenes Jurymitglied an vielen internationalen Filmfestivals. Und das ganz zu Recht: mit 'B for Boy' gelang ihr ein berührendes Drama über die Situation von Frauen in ihrem Heimatland Nigeria. Mit viel Fingerspitzengefühl und Symbolkraft macht sie darin auf kulturelle Probleme aufmerksam - und das ganz ohne vereinfachende Klischees.
JournAfrica!: Lass uns zuerst über deinen erfolgreichsten Film „B for Boy" sprechen. Er thematisiert eine paradoxe Gleichzeitigkeit, mit der junge Nigeriannerinnen zurecht kommen müssen: der eigene Anspruch auf Selbstbestimmung einerseits, die kulturellen Vorstellungen vom Frausein andererseits. Was hat dich dazu gebracht, dieses spezielle Thema auszuwählen? Was hat dich zu dieser Handlung inspiriert?Chika Anadu: Ich habe einmal gelesen, dass der erste Film, den man macht, derjenige ist, den du schon dein ganzes Leben lang vor Augen hast. In meinem Fall trifft das auf jeden Fall irgendwie zu. Der Film erzählt die Geschichte einer verzweifelten Frau, von der erwartet wird, einen Jungen zur Welt zu bringen, um ihren Mann und die Schwiegermutter ruhig zu stellen. Er thematisiert die Diskriminierung von Frauen im Namen von Kultur und Religion. Es ist aber keine persönliche Geschichte, denn ich selbst komme aus einer Familie, in der Frauen nicht unterdrückt werden. Glücklicherweise habe ich das, was ich im Film thematisiere, so nie unmittelbar kennengelernt. Trotzdem habe ich Erniedrigungen von Frauen bei Freunden und entfernten Verwandten sehr oft erlebt. Es war mir jedoch lange Zeit überhaupt nicht bewusst, dass mich das alles scheinbar sehr beschäftigt hat. Als ich dann anfing, Filme zu drehen und mir Gedanken über Geschichten zu machen, die ich erzählen will, kam mir dann genau dieses Thema als erstes in den Sinn. Es auf die Leinwand zu bringen, war also eine Art heilsame Erfahrung.
Du hast lange Zeit weit weg von deinem Heimatland Nigeria gelebt, bist aber auch immer wieder zurückgekehrt. Wo ist deine Heimat? Und sieht Nigeria anders aus, wenn man es vom Ausland aus betrachtet?Ich sage immer, dass es gut ist, dein Zuhause zu verlassen, da du eine neue, breitere Perspektive erhältst. In Großbritannien zu leben, hat mir dabei geholfen, mein Land anders wahrzunehmen. Trotzdem bleibt Nigeria für mich meine Heimat. Sogar die Nigerianerinnen und Nigerianer, die in Großbritannien geboren und aufgewachsen sind, sprechen von Nigeria als ihrem Zuhause. So reden und fühlen wir einfach. In einem gewissen Sinn kann man die eigene Heimat nie vollständig verlassen.
Findest du, dass deine Diasporaperspektive einen Einfluss auf deine Filme hat?
Es ist schon so, dass ich persönlich eine andere Perspektive bekommen habe. Ich bin also hoffentlich objektiver, verständnisvoller und werte die Dinge weniger. Was mir bei Menschen im Westen oft auffällt ist, dass es ihnen scheinbar sehr leicht fällt, sich anhand ihrer eigenen Erfahrung und Kultur ein Urteil zu bilden. Aber wenn du eine Kultur aus ihrem Inneren heraus begreifst, gleichzeitig jedoch auch darum weißt, wie sie von außen wahrgenommen wird, dann kannst du einfühlsamer sein. Als ich zum ersten Mal Nigeria verlassen habe, stand ich einigen Dingen sehr kritisch gegenüber. Wenn man älter wird, lernt man aber sehr schnell, dass weder die westliche noch die nigerianische Perspektive auf gewisse Dinge zu einhundert Prozent stimmt. Also versuche ich, mich nicht zu sehr auf die von mir negativ wahrgenommenen Aspekte einer Kultur zu konzentrieren - es gibt immer das Gute und das Schlechte. Wenn du das erkennst, dann bist du auch in der Lage, eine bessere Geschichte zu erzählen. Der Mensch ist komplex; er ist nicht einfach nur Bösewicht oder nur Superheld.
Menschen sehen dich oft als weibliche, nigerianische Filmemacherin und nicht einfach als Filmemacherin. Stört dich das?Ich würde nicht sagen, dass es mich stört, aber ich selbst sehe mich nicht explizit als weibliche, nigerianische Filmemacherin. Es stimmt, ich bin Nigerianerin, aber ich denke nicht, dass mich das alleine ausmacht. Ich denke - und das gilt ja eigentlich für jede Filmemacherin, für jeden Filmemacher - für mich ist wichtig, dass meine Filme von so vielen Menschen wie möglich gesehen werden. Meine Zielgruppe soll so unterschiedlich wie möglich sein. Ich fühle mich selber eher als filmende Aktivistin oder „regieführende Aktivistin", wie eine Freundin von mir immer sagt. Wenn du also einen Film wie „B for Boy" machst, dann dient das nicht nur der reinen Unterhaltung. Ich will zwar unterhalten, das stimmt, aber ich will gleichzeitig auch informieren und weiterbilden.
Wer klare politische Botschaften transportieren will, läuft manchmal Gefahr, vereinfachende Stereotype zu bedienen. Wie gehst du damit um? Hast du das Gefühl, dass es eine Art Konflikt gibt zwischen den politischen Inhalten und den Feinheiten eines Films, zum Beispiel wenn es um komplexe Charaktere geht?Ich bin zwar manchmal eine Aktivistin, aber ich nehme mich in dieser Rolle nicht allzu wichtig. Ich rücke lediglich Themen in den Vordergrund, ich argumentiere nicht für oder gegen etwas. Nur in dieser Hinsicht fühle ich mich als politisch Aktive. Ich hoffe, dass ich mich mit „B for Boy" für keine Seite positioniert habe; alle Charaktere haben ihre guten und schlechten Facetten. Sogar meine Heldin zeigt Schwächen. Auch ihre Schwiegermutter, die eigentlich ein klassischer Bösewicht ist, wird als eine verletzliche Frau dargestellt, die einfach nur versucht, zu überleben und ihr Vermächtnis weiterzugeben. Ich versuche, eine Aktivistin zu sein, indem ich fair in der Darstellung der Charaktere bleibe und ihnen damit gerecht werde.
Was ist deiner Meinung nach der Grund dafür, dass so wenige Filme von afrikanischen Frauen im Westen Gehör finden?Das liegt wohl daran, dass im Westen alle denken, wir würden unterdrückt [lacht]. Sie denken, dass wir zum Schweigen gebracht worden wären. Eine afrikanische Frau, die lautstark ihre eigenen Interessen vertreten kann? Das passt für viele nicht ins Weltbild. Und jetzt, wo wir unsere Stimme erheben, da meinen sie plötzlich: „Lasst uns diese Frauen unterstützten!"
Aber ich verstehe dich richtig, dass du genau diese Unterstützung nicht brauchst? Ist es wichtig für dich, dass du nur von gewissen Personen Unterstützung erfährst?Am Anfang war ich sehr wählerisch. Obwohl ich wollte, dass so viele und unterschiedliche Menschen wie möglich meine Filme sehen, wollte ich auch einfach nur eine Filmemacherin sein. Ich wollte nicht in die Schublade des „nigerianischen" oder „afrikanischen" gesteckt werden. Aber wenn du älter wirst, denkst du dir: „Solange ich meine Botschaft übermittle, macht es mir nichts aus." Darüber hinaus ändern die Menschen ja auch ihre Meinung, wenn sie die Möglichkeit haben, meine Filme zu sehen oder mich darüber sprechen zu hören. Sobald sich die Menschen mit dir verbunden fühlen, bist du plötzlich eine ganz normale Filmemacherin. Es heißt ja, dass es keine schlechte Werbung gibt; ich denke, dass das zu einem gewissen Grad stimmt [lacht].
Wie würdest du dein Verhältnis zur nigerianischen Filmindustrie bezeichnen?Ohne sie und vor allem ohne Nollywood [Nigerianisches Kino, Anmerk. d. Red.] hätte ich nie daran geglaubt, selber eine Filmemacherin werden zu können. Dort dreht sich alles um unabhängige Produktionen. Du machst alles alleine. Bei „B for Boy" war ich zum Beispiel Drehbuchautorin, Regisseurin und Produzentin in einem. Ich habe die Leute eingestellt, das Casting organsiert und dann die Verträge aufgesetzt Ich habe wirklich alles gemacht. Das ist dieser Nollywood-Style. Ich schulde der Filmindustrie in Nigeria also die Fähigkeit, einfach vom Punkt weg anzufangen, die Dinge in die eigenen Hände zu nehmen und dabei nicht den Glauben an die Sache zu verlieren.
Der Name, den du für deine Filmproduktionsgesellschaft gewählt hast, lautet „No Blondes", also "Keine Blondinen". Was ist die Idee dahinter?[lacht] Lange bevor ich entschieden hatte, Filme zu machen, wusste ich schon, dass „No Blondes" der Name meiner Produktionsfirma sein würde. Es soll ein Kommentar zu unserer Auffassung von Schönheit sein, gleichzeitig aber auch auf die Idee anspielen, Frauen nur über ihren Körper zu definieren. Es geht darum, dass Blondsein gleichzeitig mit Schönheit und Dummheit assoziiert wird. Dem wollte ich einfach widersprechen, indem ich mich darüber lustig mache.
Von: Jana Cattien
Übersetzung: Andreas Boneberg