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Zeitzeugen des Massenmords kämpfen gegen das Vergessen

Peter Hahn erinnert sich an eine vier mal vier Meter große Grube oben in den Obsthainen Neckargartachs. Im Oktober 1944 war der Neunjährige mit einem Schulfreund auf dem Weg zum Sportplatz. Zwei Mal hörten die Jungen ein Geräusch wie einen Schuss. Sie liefen in die Richtung, aus der das Geräusch kam: „Wir sahen acht KZ-Häftlinge, die zu viert je eine Stoffbahre trugen. Sie liefen an einer Grube entlang. Die Träger kippten die Bahren und zwei leblose Körper fielen in die Grube hinab.“ Zu seinem Freund sagte Peter Hahn: „Hans, da schauen wir jetzt aber nicht rein.“ Sie taten es trotzdem. Die Körper lagen dort wie sie gefallen waren: „Nackt und leblos. Blut sahen wir keines.“

Zwangsarbeit

Ende April 2015 steht der 79-jährige Peter Hahn mit dem gleichaltrigen Heinz Kurz vor der KZ-Gedenkstätte. Die gebürtigen Neckargartacher haben viel erlebt. Vor 70 Jahren – Anfang April 1945 – wurde das SS-Arbeitslager„Steinbock“ in Neckargartach aufgelöst, denn die Befreier näherten sich Heilbronn. Von zu Beginn 1200 KZ-Häftlingen waren zu diesem Zeitpunkt nur noch 850 am Leben. Zu Fuß wurden sie nach Dachau getrieben. Nur 252 kamen laut einem Aufnahme- Bericht des großen Lagers in der Nähe von München dort an. In den Obsthainen über Neckargartach liegt ein Massengrab. Darin verscharrt sind 246 KZ-Häftlinge. Sie starben an Hunger, Gewalt und Krankheiten wie Diarrhoe und Typhus – aufgrund der hygienischen Zustände im Konzentrationslager. Viele starben körperlich entkräftet den Tod durch Zwangsarbeit.

„Die ersten KZ-Häftlinge trafen im September 1944 ein“, erinnert sich Peter Hahn. Ein Großteil von ihnen wurde vom KZ Natzweiler und seinen Außenlagern nach Neckargartach verlegt. Mindestens 600 davon aus Markkirch, heute St. Marieaux- Mines, im Elsass. Den Großteil der KZ-Häftlinge machten politische Oppositionelle aus den vom nationalsozialistischen Deutschland besetzten Gebieten aus. Viele stammten aus Polen und Russland. Die Häftlinge sollten eine Rampe vom Fuße des Stiftsberg hinab auf die Sohle des Salzbergwerks graben. Dort sollte für Rüstungszwecke bombensicher produziert werden. Im Namen der IG-Farben AG – dem Vorläufer des Chemiekonzerns BASF. Ausgeführt wurden die Arbeiten durch das in Heilbronn ansässige Bauunternehmen Koch und Mayer.

Nach dem Luftangriff auf Heilbronn im Dezember 1944 wurden die KZ-Häftlinge zur Entschärfung von Blindgängern, Trümmerbeseitigung und Leichenbergung zwangsrekrutiert. Peter Hahn schmerzt das menschenverachtende Denken: „Das Regime dachte, lieber erschlägt es einen KZ-Häftling als einen Deutschen.“

Der Kontakt zu den Häftlingen war untersagt. Auch zu den SSWachmannschaften. Heinz Kurz, der damals wie heute in der Wimpfener Straße wohnt, sah die KZ-Häftlinge in Viererreihen die Wimpfener Straße herauf zur Zwangsarbeit ausrücken: „Sie waren abgemagert. Immer hatten sie Hunger. Die Schuhe bestanden teilweise nur aus der Sohle und einem Riemen.“ Heinz Kurz und die anderen Kinder haben versucht, den KZ-Häftlingen Äpfel zu geben. Die Wachen haben das unterbunden. Manchmal ließen sie Äpfel auf dem Boden liegen. Wenn sich ein Häftling danach bückte, bekam er Schläge mit dem Gewehrkolben.

Erinnerungskultur

„Mit meiner Mutter habe ich darüber gesprochen, dass da unten ein KZ ist. Der Begriff ist gefallen. Aber über das, was dort vorfiel oder warum, darüber haben wir kein Wort gewechselt“, erinnert sich Heinz Kurz an seine Kindheit. „Unsere Väter waren im Krieg oder bei der Partei. Im Nachhinein wollte keiner von ihnen darüber reden.“ Vor wenigen Jahren verstarb Stane Ursic, einer der letzten Neckargartacher KZ-Häftlinge. Peter Hahn und Heinz Kurz befürchten, dass mit dem Tod der Opfer die Erinnerung an die Ereignisse verblasst: „Nicht aus Gleichgültigkeit, sondern aus Scham.“