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Ideen für drei Leben

Sein Arbeitstag beginnt um 18 Uhr, meterlange Seitenfolgen schmücken die Regale in seinem Büro, und die ersten Notizen schreibt er immer von Hand: Holger Karsten Schmidt bedient manches Klischee des Drehbuchautoren. Sein Name ist nicht jedem bekannt, doch als Fernsehzuschauer kommt man fast nicht an seinen Krimis vorbei.

„Vor 12 Uhr bin ich nicht zu erreichen“, stellt Holger gleich zu Beginn klar, „Daran müssen sich die Redaktionen und der Verlag eben halten.“ Gegen 18 Uhr setzt sich Holger an seinen Schreibtisch im Einfamilienhaus, das er in Asperg bei Ludwigsburg mit seiner Ehefrau Ira bewohnt, und brütet über Stoffen, die Zuschauer und Leser mitreißen sollen. Davor erledigt er nur Telefonate und beantwortet E-Mails. Er genießt die Ruhe, hört den Grillen zu und bringt – mal bis 2 Uhr, aber auch mal bis zum Sonnenaufgang – seine zahlreichen Ideen zu Papier.

Bereits im Alter von sechs Jahren verspürte Holger den Drang, Geschichten niederzuschreiben. In seiner ersten Kurzgeschichte jagten ein paar Männer Islands Küste entlang; heute sind politische Thriller, Actionfilme und zeithistorische Stoffe sein täglich Brot. Mit elf Jahren gewinnt er einen Kurzgeschichtenwettbewerb und realisiert: 'Das macht dir nicht nur Spaß, du scheinst auch ganz gut darin zu sein.' Der Spielfilm BUTCH CASSIDY AND THE SUNDANCE KID tut sein Übriges – Holgers Feuer für filmisches Erzählen ist entfacht. Es folgt der Klassiker: An einer Super8-Kamera übt sich früh, was später Holgers Leben füllen soll.

Bevor er seiner Leidenschaft folgt und den Weg zum Film findet, macht Holger 1986 eine Lehre zum Datenverarbeitungskaufmann, die ihn, wie er scherzhaft sagt, „vor allem lehrte, diesen Beruf nicht ausüben zu wollen.“ Nach der Lehre muss er eine Entscheidung treffen, denn man bietet ihm die Übernahme der EDV-Abteilung eines Verlags an – mit nur 24 Jahren. Die Frage 'Ist es das, was ich mein Leben lang machen will?' beantwortet Holger entschieden mit 'nein'. Um Zeit zu gewinnen, schreibt er sich für ein Studium der Germanistik und Politikwissenschaften mit dem Schwerpunkt Medienwissenschaften an der Universität Mannheim ein und erfährt ganz nebenbei von seinem eigentlichen Traumstudium. Ein Kommilitone, der BWL studiert, erzählt Holger von seinem Plan, sich an der Filmakademie für den Studiengang Produktion zu bewerben. Holger macht sich schlau und denkt sich: 'Drehbuch, das wär's!'
1992 kehrt er Mannheim den Rücken zu, um in Ludwigsburg Drehbuch zu studieren. Eine spannende Zeit: Holger studiert im zweiten Jahrgang überhaupt; politische Diskurse um die neue Hochschule und den Aufbau des Studienschwerpunkts erlebt er hautnah mit. „Die Überzeugung, mit der Albrecht Ade angetreten ist, um die Filmakademie zu gründen, fand ich sehr mutig und spannend. Der Filmakademie ist es tatsächlich gelungen, Anspruch und Marktfähigkeit zu vereinen.“ Während andere Filmhochschulen „fünf Minuten lang eine Zigarette abfilmten“, hätte die Ludwigsburger Filmschmiede früh verstanden, wie der Spagat zwischen Zuschauern und hoher Kunst gelingt.

Neben den theoretischen Grundlagen seines Schaffens lernt Holger an der Filmakademie Kniffe, die bis heute seinen Berufsalltag prägen. „'Denk' mal genau
das Gegenteil', sagte mein erster Dozent Wolfgang Kirchner, als ich mal nicht weiter wusste. Und plötzlich war alles klar.“ Wenn er an die Zusammenarbeit mit den Dozenten zurückdenkt, bewundert Holger vor allem das Fingerspitzengefühl und die Sanftmut, mit denen "uns sensiblen Schreiberseelen" begegnet wurde. Holger war auch aus einem anderen Grund genau zur richtigen Zeit an der Filmakademie: Damals, zur goldenen Zeit der privaten Fernsehanstalten, waren zahlreiche Talent Scouts an der Hochschule unterwegs. So ergreift Holger die Chance, das Buch zu einer Folge der TV-Serie AUF ACHSE mit Armin Rhode zu schreiben und findet ganz nebenbei den Einstieg in den Fernsehfilm.

Gerne erinnert sich Holger an seine abenteuerliche Studienzeit zurück: Die Drehbuch-WG am Favoritepark in Ludwigsburg war berühmt-berüchtigt, die Zeiten des gemeinsamen Schreibens, um mit dem so verdienten Geld durchs Studium zu kommen, sind unvergessen. Heute weiß Holger den Luxus zu schätzen, sich seine Projekte aussuchen zu können. Das hat er auch seinem Diplombuch 14 TAGE LEBENSLÄNGLICH zu verdanken. „Wenn man für´s Geld schreibt, tut man sich spätestens mit der vierten oder fünften Drehbuchfassung echt schwer“, sagt er, „ein Thema muss tief in mir irgendwas zum Schwingen bringen, um das richtige zu sein.“ An Ideen mangelt es Holger nie – vielmehr ist das Gegenteil der Fall: „Ein Leben ist eigentlich viel zu kurz. Ich habe Ideen und Leidenschaft für drei Leben“, sagt er nachdenklich.

Ein Blick in Holgers Terminkalender führt seine Schreiblust und -wut vor Augen: 100 Seiten Roman, ein Writer's Room (ein kreatives Zusammentreffen von Drehbuchautoren) und ein Exposé stehen allein in den nächsten dreieinhalb Wochen an. Im Laufe seiner bisherigen Karriere hat er mehr als 60 Drehbücher geschrieben, darunter vier TATORTE, unzählige Krimis und auch mehrteilige Fernsehfilme. Zwei Grimme-Preise sowie zwei weitere Nominierungen für die begehrte Auszeichnung gehen auf sein Konto. Dazu heimste er drei Nominierungen für den Deutschen Fernsehpreis ein – und das ist nur der Auszug aus einer langen Liste.

Auch bei diesem großen Output stellt Holger klar: Die Qualität darf nie unter die Produktivität gestellt werden. „Ich habe den Anspruch, mich selbst zu unterhalten und zu überraschen.“ Sein Prüfstein in allen Fragen: Ehefrau Ira. „Sie darf alles sagen – und macht auch davon Gebrauch“, fährt er fort. Manchmal, erzählt Holger, helfe es ihm schon ungemein, ihr einfach nur von seinem Problem zu erzählen. Noch während er spreche, falle ihm oft die Lösung ein.

Holgers zweites Steckenpferd sind Romane. 2011 erschien ISENHART, ein mittelalterlicher Kriminalroman, bei Kiepenhauer & Witsch. 2015 folgte AUF KURZE DISTANZ; zwei weitere Romane sind in der Pipeline. Beim Romanschreiben findet Holger etwas, das er in seinem Beruf als Drehbuchautor hin und wieder vermisst: die Freiheit nämlich, seine Geschichten genau so zu erzählen, wie er sie erzählen möchte. Erst vor ein paar Tagen erreichte ihn der Anruf eines TV-Produzenten, der ihn bat, ein Drehbuch umzuschreiben, das Holger 2013 verfasst hatte. „'Wir haben schon eine Hauptdarstellerin', eröffnete er mir am Telefon, und es könne bald losgehen.“ Holger findet, dass manche Produzenten mit Drehbüchern umgehen wie Gebrauchtwarenhändler mit ihren Waren. „Es werden zu viele halbgare Stoffe verfilmt“, sagt er. „Mir als Autor fällt es schwer, meine Figuren allein zu lassen. Sie sind für mich so etwas wie die eigenen Kinder.“ Sollte sein nächstes Buch ein Bestseller werden, würde er das Drehbuchschreiben sofort an den Nagel hängen.


Text: Ana-Marija Bilandzija
Foto: privat
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