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Wenn Deutsche Eritreer das Laufen lehren

Vier junge Flüchtlinge entdeckten in Hamburg ihre Leidenschaft fürs Laufen. Die Ziellinie des Haspa-Marathons ist für sie eine wichtige Etappe auf dem Weg, in Deutschland anzukommen.

Micheal, Micheale, Merhawil und Hailemicheal wirken verloren in dem großen Pavillon, in dem andere Sportler ihre Zeiten feiern und sich die Spannung wegmassieren lassen.

Zwischen kernigen Zwei-Meter-Männern und drahtigen jungen Frauen mit geflochtenem Haar fallen die vier Läufer auf. Sie sind die erste Flüchtlings-Staffel, die je bei einem Hamburg-Marathon angetreten ist.

Die „Sports Arena“, ein großer Pavillon gleich neben der Zielstrecke, ist Schauplatz des Spiels nach dem Spiel: Es riecht nach Essen und Schweiß, die Sportler löschen ihre Erschöpfung mit Bier und Sprudel. Der Gang durchs Zelt gleicht einem Hindernislauf: Frisch geduscht und halbnackt zupft ein älterer Sportler sich das Wechselhemd über den faltigen Oberkörper; daneben, an einer Säule, strecken andere ihre Beine und Arme in die Luft, als ob das die Strapazen der letzten drei bis vier Stunden lindern könnte. Die Flüchtlings-Staffel hat schon Schlimmeres erlebt. Laufen als Event, das kannten sie nicht. Dass sie gut darin sind, hat traurige Gründe: 15 Kilometer Schulweg sind besser als jedes Stadion, der Hunger der Armut besser als jede Diät.

Vor sieben Monaten kannten sie weder den Sport, noch die Stadt oder einander.

An einem Januartag haben die fünf Männer aus Eritrea, alle Anfang zwanzig, das Laufen für sich entdeckt. In Straßenschuhen und Stoffhosen joggten sie damals los; heute sprinten sie im Trikot und mit einer Goldmedaille um den Hals durch die Zielgerade.

Der Bürgerkrieg hat sie im September 2015 aufs Mittelmeer getrieben. Heute leben sie im Zentralaufnahmelager für Flüchtlinge in Neugraben-Fischbeck. Ausgerechnet hier, in einem ausgemusterten Baumarkt, fanden sie so etwas wie Heimat. Genauer gesagt: Sie fanden Frank Stitzel – oder wurden von ihm gefunden.

Hamburg, das war für sie Ankunft und Aufgabe zugleich. „Eine schöne Stadt“, sagt Micheale, „aber so groß und alles neu.“ Die Stadt kann Frank Stritzel nicht verkleinern, aber er kann Menschen den Horizont erweitern. Frank ist 63 Jahre alt, in seinem alten Leben war er Berufsschullehrer. Laufen ist sein Ausgleich, das war es immer schon. Auf einem Feierabendlauf im Januar läuft ihm die Inspiration über den Weg: „Warum laufe ich eigentlich alleine, wenn ich von jungen, sportlichen Menschen umgeben bin?“ Wenige Tage später läuft er los, diesmal in Begleitung. Zehn bis fünfzehn Läufer touren jeden Dienstag- und Samstagabend mit Frank durch Hamburg Süd. Die fünf Eritreer waren ihm gleich aufgefallen. „Das Klischee vom Eritreer als begabten Läufer hat sich einmal mehr bestätigt“, sagt er und lacht.

Wenn Frank von den Anfängen in Stoffhosen und Straßenschuhen erzählt, löst sich die Spannung aus den Gesichtern von Micheal, Micheale, Merhawi und Hailemicheal. Sie lachen herzlich, klopfen ihrem deutschen Helden auf die Schulter. Wo die Sprache fehlt, lötet der Sport sie zusammen. Samson ist das Sprachtalent im Flüchtlingsheim in Neugraben-Fischbek. Wenn er Franks Worte übersetzt, lauschen seine Landsmänner gebannt. Deutsch will Frank seinem Team auch noch beibringen – „wie ginge das besser als mit Sport?“ Frank und seine Flüchtlinge laufen gegen Lagerkoller, Langeweile und Einsamkeit an – und lernen ganz nebenbei Hamburg kennen.

Heute haben sie in der Staffel die schönsten Ecken Hamburgs erschritten. Welcher Teil des Marathons ihnen am besten gefallen hat? Micheal strahlt, endlich eine leichte Frage: „Die Zuschauer, das Klatschen, super Stimmung!“, antwortet er. Auch Merhawi sagt etwas, in seiner Muttersprache Tigrina. Samson übersetzt: „Er will nach Hause.“ Fünf Minuten später sitzen sie in der S-Bahn Richtung Neugraben-Fischbek.


Text: Ana-Marija Bilandzija
Foto: Michael Rauhe, Abendblatt Online
Recherche und Niederschrift im Rahmen des Auswahlverfahrens der Henri-Nannen-Schule