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Asylpolitik: Ein Schicksal, mehrere Verfahren

Als Hava Samar* im Spätsommer 2018 durch die leeren Straßen von Eisenhüttenstadt zum brandenburgischen Ankunftszentrum für Flüchtlinge fährt, glaubt sie, endlich angekommen zu sein. Fast zwei Jahre lang hat die Afghanin auf diesen Moment gewartet. Ihr letztes Geld hatte sie einem Schlepper gegeben, damit er ihre 16-jährige Tochter Nasrin nach Deutschland bringt. Sie selbst war mit ihrem jüngeren Sohn in einem überfüllten griechischen Flüchtlingslager zurückgeblieben. Zwei Jahre, in denen ihre Tochter in einem Heim für minderjährige Flüchtlinge in Brandenburg lebte, während sie selbst in Griechenland ausharrte. Jetzt sollte sie Nasrin endlich wiedersehen, sie wollten ein neues gemeinsames Leben beginnen.

Doch vier Wochen später ist alles vorbei: Hava Samar darf nicht in Deutschland bleiben. Mutter und Tochter teilen zwar dasselbe Schicksal voller Gewalt, dieselbe Verfolgungsgeschichte, werden in ihrer afghanischen Heimat von denselben Männern bedroht. Doch Menschen im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) trafen zwei vollkommen entgegengesetzte Entscheidungen: Nasrin erkannten sie als Flüchtling an. Der Asylantrag ihrer Mutter wird abgelehnt.

Viel spricht dafür, dass Hava Samar Opfer eines strukturellen Problems geworden ist, das durch die verschärfte Asylpolitik der vergangenen Jahre entstanden ist. Der Kern dieses Problems liegt in der Kombination extrem beschleunigter Asylverfahren und der Unterbringung der Geflüchteten in Sammelunterkünften fernab städtischer Zentren.

Diese beiden Mechanismen zeigen sich deutlich in den sogenannten Ankerzentren, deren Eröffnung Bundesinnenminister Horst Seehofer Mitte vergangenen Jahres verkündete und die es zunächst nur in Bayern, Sachsen und im Saarland gab. Ähnliche Zentren existierten aber auch vorher schon in anderen Bundesländern. Auch das sogenannte Ankunftszentrum in Eisenhüttenstadt, in das Hava Samar kam, gehört dazu. Ihnen allen ist gemeinsam, dass dort Asylsuchende durch sehr schnelle Verfahren geschleust werden und währenddessen in großen, oft abgelegenen Einrichtungen leben - nicht eingesperrt, aber weitgehend isoliert vom Rest der Gesellschaft. Wer abgelehnt wird, das ist die Idee, soll künftig direkt aus diesen Zentren abgeschoben werden. Wer anerkannt wird, kann umziehen. Ziel dieser Verfahren ist es, Effizienz und Ordnung in die Asylverfahren zu bringen, die nach der Ankunft vieler Geflüchteter 2015 oft chaotisch und langwierig waren.

Ob das gelingt, ist fraglich. Einen Effekt haben die Verfahren in diesen Zentren definitiv: Für Asylsuchende wird es immer schwieriger, in diesem für sie existenziellen Verfahren ihre Rechte auf Information, Beratung und Unterstützung wahrzunehmen - wenn sie sie überhaupt kennen.

Anker- und Ankunftszentren

Im Koalitionsvertrag von Anfang 2018 kündigten Union und SPD an, alle Asylanträge würden künftig in zentralen Ankunfts-, Entscheidungs- und Rückführungseinrichtungen (Anker) bearbeitet. Dort sollen alle relevanten Behörden - vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) über Ausländerbehörden bis zu Jugendämtern - "Hand in Hand" arbeiten und so die Verfahren beschleunigen.

Bis zum Abschluss der Verfahren sollen die Antragsteller in den Zentren bleiben, höchstens jedoch 18 Monate.

Die ersten neun Ankerzentren eröffneten offiziell Anfang August 2018. Rund ein Jahr später zählte das BMI 14 Ankerzentren und "funktionsgleiche" Einrichtungen, darunter sieben in Bayern und drei in Sachsen.

Doch die Tendenz zur Zentralisierung und Beschleunigung der Verfahren hat schon deutlich früher begonnen: Seit Anfang 2016 entstanden in vielen Bundesländern sogenannte Ankunftszentren, dort plante man, Asylverfahren in nur 48 Stunden durchzuführen.

Insbesondere die Ankerzentren standen von Anfang an in der Kritik, auch weil ehrenamtliche Helfer, Anwälte und Wohlfahrtsverbände kritisieren, dass sie die Asylsuchenden dort kaum erreichen.

Nasrin war vorbereitet

Als Hava Samars Tochter Nasrin Ende 2016 nach Deutschland kam, herrschte in den Außenstellen des Bamf Chaos, 1,2 Millionen Flüchtlinge waren seit 2015 ins Land gekommen. Auf den Schreibtischen der Entscheider türmten sich Akten, ständig wurden neue Leute eingestellt, um die Asylanträge der Neuankömmlinge zu bearbeiten. Auf einem solchen Aktenberg landete Nasrins Antrag.

Nasrin lebt heute in einer Einrichtung für Jugendliche in Frankfurt/Oder und geht in die 10. Klasse einer Berufsschule. In den schmucklosen Räumen eines Jugendhilfevereins erzählt sie, wie es ihr damals erging. Eine zurückhaltende junge Frau, die Jeans zum modisch gewickelten rosa Kopftuch trägt.

Nasrin hatte einen schweren Start in Deutschland. Sie litt unter der Trennung von der Mutter, schlief schlecht, hatte psychische Probleme. Aber weil sie alleine kam und noch nicht erwachsen war, unterstützten Sozialarbeiter sie von Anfang an. Sie konnte in der betreuten Wohnung leben, die Sozialarbeiter halfen ihr im Alltag und erklärten ihr, was im Asylverfahren von ihr erwartet würde. Es dauerte monatelang, bis ihr Asylantrag bearbeitet wurde. Das zehrte an den Nerven. Aber es hatte auch einen entscheidenden Vorteil: Nasrin hatte Zeit, sich auf ihren Anhörungstermin vorzubereiten. Und als es soweit war, begleitete sie ein Vormund.

Nasrin berichtete der Bamf-Entscheiderin, dass die Familie in Afghanistan in permanenter Angst gelebt habe, seit ihr Vater, ein Sicherheitsbeamter, 2003 von den Taliban ermordet worden war. Ihre Mutter hatte danach nicht wieder geheiratet und in einer Fabrik unter deutsch-afghanischer Leitung gearbeitet, um die Familie zu ernähren. Das habe einflussreichen Männern in ihrem Heimatort nicht gepasst. Die Mutter zog mit ihren Kindern in die Provinzhauptstadt. Doch der Onkel, bei dem sie dort unterkamen, sei ebenfalls ermordet worden. Immer wieder seien sie danach bedroht worden. Taliban-Anhänger in der Nachbarschaft hätten versucht, Nasrins jüngere Brüder dazu zu zwingen, sich zu Dschihadisten ausbilden zu lassen.

Mehrere ältere Männer hätten sie heiraten wollen - gegen ihren Willen, erzählte Nasrin. Auf dem Schulweg sei sie verfolgt worden. Irgendwann habe sie sich nicht mehr in die Schule getraut. Die Mutter habe ihre Stelle verloren, weil auch ihre Arbeitgeber bedroht worden seien. "Wir hatten keine Ruhe, sondern ständig Angst", wird Nasrin im Anhörungsprotokoll zitiert, das ZEIT ONLINE vorliegt.

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