Von
Kai Biermann,
Paul Blickle,
Ron Drongowski,
Annick Ehmann,
Elena Erdmann,
Flavio Gortana,
Alicia Lindhoff,
Christopher Möller,
Christoph Rauscher,
Stephan Scheying,
Michael Schlieben,
Julian Stahnke,
Julius Tröger und
Sascha Venohr
In großen metallenen Lettern steht es über dem Portal des Berliner Reichstages: Dem deutschen Volke. Hinter der Fassade verhandelt ein modernes Parlament, der Deutsche , die Geschicke ebenjenes Volkes. Seit genau 70 Jahren gibt es ihn. Heute sitzen die Abgeordneten wie in einer Arena im blaugrauen Halbrund. Wer will, kann ihnen von den darüberschwebenden Besuchertribünen zuhören oder ihre Reden live im Parlamentsfernsehen verfolgen.
In den vergangenen 19 Legislaturperioden traf sich der Bundestag zu 4.216 Sitzungen. Mehr als 200 Millionen Wörter haben die Stenografen und Stenografinnen des Parlaments in diesen Jahren mitgeschrieben. Doch nur winzige Ausschnitte dieser Reden schaffen es in die großen Nachrichten, der große Rest geht zu Protokoll und verschwindet anschließend in den Archiven. Eine wertvolle Quelle.
ZEIT ONLINE hat die vollständigen Protokolle aller Plenarsitzungen in einer Datenbank gesammelt, sie durchsuchbar und vor allem vergleichbar gemacht. Jedes Wort, das die Abgeordneten im Plenum von sich gegeben haben, wird mit unserem Tool darstellbar und kann mit anderen Begriffen in Zusammenhang gesetzt werden.
"Was jemand willentlich verbergen will, sei es nur vor andern, sei es vor sich selber, auch was er unbewußt in sich trägt: die Sprache bringt es an den Tag", schrieb der Romanist Victor Klemperer Ende der Vierzigerjahre in seinem LTI - Notizbuch eines Philologen. Der Sprachstil lege das Wesen der Menschen hüllenlos offen. Der Datenschatz des Bundestages bietet einen solchen Zugang - nicht nur zum Parlament, sondern auch zum sich wandelnden Zustand der deutschen Demokratie.
Wie ernst nahm der Bundestag in den vergangenen Jahren den Klimawandel? Wie häufig redeten die Abgeordneten über den Kohleausstieg, über Treibhausgase oder Plastikmüll? Was fürchteten, was hofften sie? Wer will, kann das jetzt nachschauen, kann vergleichen, ob das Klima den Abgeordneten wichtiger war als Rente, Arbeitslosigkeit, Steuern - oder umgekehrt. Kann dank der grafischen Analyse sehen, zu welchem Zeitpunkt welche Themen debattiert wurden und wie sich die Aufmerksamkeit über die Jahre verändert hat.
Unsere Auswertung beginnt mit der ersten Sitzung des damals in Bonn neu konstituierten Bundestages am 7. September 1949 und endet mit der letzten Sitzung in Berlin vor der Sommerpause 2019, der Sondersitzung am 24. Juli, während derer Annegret Kramp-Karrenbauer als Verteidigungsministerin vereidigt wurde.
Unser Tool macht es möglich, die Geschichte der Bundesrepublik wie in einem Vergrößerungsglas zu betrachten, ihre Wendungen, ihre Entwicklung zu verstehen. Die Kurven zeigen, welche Debatten groß und wortreich waren, welche klein. Was wurde wann häufig diskutiert, was in all den Jahren selten oder nie, obwohl es vielleicht wichtig gewesen wäre?
Wie beispielsweise der Wohnungsbau. In den Fünfziger- und Siebzigerjahren ist er ein riesiges Thema in den Parlamentsreden. Auch in den Jahrzehnten danach beschäftigen sich die Parlamentarier und Parlamentarierinnen immer wieder mit der Frage, wie viel öffentlich geförderten Wohnraum es braucht. 2003 ist damit Schluss. Schlagartig kommt das Stichwort Wohnungsbau nicht mehr vor. Auch der Ausdruck Sozialwohnungen verschwindet aus den Reden - für zehn Jahre. Gleichzeitig ist eine Konjunktur anderer Begriffe sichtbar, die bis dahin nie eine Rolle im Bundestag gespielt hatten: Immobilien und Immobilienwirtschaft beispielsweise. Eine Welle von Privatisierungen zeigt sich darin, viele Kommunen verkaufen Wohnungen, um Schulden zu tilgen. Erst 2013 wird wieder über den sozialen Wohnungsbau verhandelt. Denn inzwischen sind die Mieten so stark gestiegen, dass viele Menschen Existenzangst haben.
Natürlich ergibt sich aus dem Vergleich einzelner Wörter kein umfassendes Bild. Ob die Abgeordneten für oder gegen ein Thema sind, lässt sich daraus nicht ablesen. Wer das verstehen will, muss in die entsprechenden Protokolle der Bundestagsreden schauen. Die Analyse eines einzelnen Begriffes kann außerdem Fallen bergen. Wer beispielsweise Sorge und Sorgen eingibt, sieht eine stetig steigende Kurve. Das bedeutet jedoch nicht, dass sich die Abgeordneten im Bundestag zunehmend Sorgen um das Land und seinen Zustand machen. Die Häufung wird durch die oft verwendeten Floskeln "Sorge tragen" und "dafür sorgen" verursacht - die eine andere Bedeutung haben.
Trotzdem bietet die grafische Analyse der Begriffe die Chance, mehr über die Themen zu erfahren, die im Parlament verhandelt werden. Ihre Häufigkeiten sortieren sich zu Erregungskurven, die nicht nur die Interessen der Fraktionen und Parlamentarier abbilden, sondern in denen sich auch die öffentliche Stimmung zeigt. Schließlich bringen die Abgeordneten auch das zur Sprache, was die Wähler bewegt.
So hat kaum ein Thema in den vergangenen Jahrzehnten eine so intensive Debatte ausgelöst wie der Zuzug von mehr als einer Million Flüchtlingen und Schutzsuchenden 2015. Selbst das Schicksal der acht Millionen Vertriebenen wurde in den Fünfzigerjahren im Parlament nicht so häufig erwähnt wie die Migrationsbewegung 2015 und 2016. Die Ausdrücke Flucht und Flüchtlinge schlagen in der Häufigkeit der Nennung nahezu jedes andere Thema, egal ob Sicherheit, Pflege oder Arbeitslosigkeit. Nur ein einziger Begriff hat einen ähnlich großen Ausschlag in der Häufigkeit verursacht und Deutschland offensichtlich ähnlich stark beschäftigt, die deutsche Einheit im Jahr 1990.
In den Bundestagsreden zeigt sich aber nicht nur das Aufkommen und Verschwinden einzelner Themen. Die Kurven geben auch Hinweise auf tief greifende Veränderungen der deutschen Gesellschaft.
So zeigt sich Anfang der Achtzigerjahre in den Bundestagsreden eine deutliche Zunahme der Wörter Angst und Ängste. Die Achtziger sind ein Jahrzehnt großer Umbrüche und schockierender Ereignisse. Im September 1982 zerbricht die sozialliberale Koalition von Helmut Schmidt. Ende 1983 stimmt der Bundestag der Forderung der Nato zu, neue Atomraketen in Deutschland zu stationieren, obwohl die Mehrheit der Bevölkerung dagegen ist. Der Nato-Doppelbeschluss, vor allem aber die Furcht vor einem Wettrüsten und einem Atomkrieg sind die beherrschenden Themen dieses Jahres. 1986 schließlich explodiert das sowjetische Atomkraftwerk Tschernobyl. All diese Ereignisse lassen sich eindeutigen Spitzen in der Angstkurve zuordnen. Genau wie später die Jugoslawienkriege, die islamistischen Anschläge am 11. September 2001 oder die Katastrophe von Fukushima - immer wenn ein solches Ereignis debattiert wird, reden die Parlamentarier und Parlamentarierinnen auch häufiger über Angst und Ängste.
Jedoch muss sich in den Achtzigerjahren etwas verändert haben. Seit dieser Zeit werden die beiden Begriffe insgesamt häufiger verwendet als zuvor. Haben die Abgeordneten und möglicherweise auch viele andere Menschen im Land einen Teil ihrer Zuversicht verloren? Dabei hatte Helmut Schmidt in einer Rede vor dem Bundestag noch 1981 gewarnt: "Vor einer Regierung, die sich selbst der Angst hingäbe, müsste man in der Tat Angst haben!"
Die Analyse kann auch zeigen, dass im Bundestag nicht nur geredet wird, sondern dass sich das Land durch die daraus folgende Politik verändert, was sich wiederum in der Wortwahl und -häufigkeit niederschlägt. Beispielsweise die Einstellung zu Frauen. Feminismus und Frauenrechte sind im Parlament schon lange ein Thema, lediglich die Begriffe wandeln sich. Ursprünglich geht es in den entsprechenden Debatten um Gleichstellung, seit der zweiten Welle der Frauenbewegung Anfang der Siebzigerjahre dann um Emanzipation, in den Achtzigern und Neunzigern reden die Abgeordneten von der Frauenpolitik, dann über die Frauenquote. Heute wird das Thema mit Begriffen wie Feminismus, Frauenrechte oder Gender Pay Gap diskutiert.
In den Bundestagsprotokollen sind auch die Namen, Parteien und in vielen Fällen die Titel der Sprecher und Sprecherinnen enthalten. Diese zeigen, dass sich die Politik verändert: Immer häufiger sprechen Expertinnen, Ministerinnen, Politikerinnen. Die Bundeskanzlerin ist eine Frau und in der Bundeswehr dienen Soldatinnen. Die Häufigkeit der Nennung von Frau und Herr gleicht sich in den Reden über die Jahrzehnte immer weiter an.
Sprache ist ein Spiegel der Gesellschaft, die Wortvergleiche sind ein Weg, in diesen Spiegel zu schauen. So wird an den Beispielen Geld und Unternehmen erkennbar, dass die Wirtschaft einen immer größeren Raum in den Reden der Abgeordneten einnimmt. Über die Jahrzehnte werden sie immer häufiger genannt. Deutschland ist ein bedeutender Wirtschaftsstandort, aber nur wenige Begriffe im Datensatz werden so regelmäßig und so oft erwähnt wie diese beiden. Nicht Bildung, nicht Umwelt, ja in den vergangenen Jahren nicht einmal mehr Arbeit. Je reicher das Land wird, so scheint es, desto mehr beschäftigt es sich mit Geld. Oder ist der Zusammenhang umgekehrt?
Die Worthäufigkeiten verraten auch etwas über die deutsche Außenpolitik beziehungsweise über die Länder, mit denen sich der Bundestag oft beschäftigt. Anfangs sind es vor allem die Besatzungsmächte und im Kalten Krieg der sogenannte Ostblock. Inzwischen hat sich das Bild entscheidend gewandelt, Deutschland ist überall auf der Welt engagiert.
Selbstverständlich lässt sich in den Daten auch beobachten, wie die Abgeordneten miteinander umgehen. Lümmel, Idiot, Übelkrähe - manche Parlamentarier brachten es dank ihrer Beleidigungen und Zwischenrufe zu einiger Berühmtheit. Doch das ist lange her, der Bundestag sei zivilisierter geworden, heißt es heute, manche sagen: langweiliger. Auf den ersten Blick scheint sich das in der Wortanalyse widerzuspiegeln. Beispielsweise in dem empörten Ausruf "unerhört!", wenn jemand einen der sonst so geschätzten Kollegen und Kolleginnen etwas härter angeht. Oder in der Erteilung eines Ordnungsrufes, einer Rüge durch den Parlamentspräsidenten oder die Parlamentspräsidentin.
Betrachtet man die Begriffe unerhört und Ordnungsruf, müssen die Anfangsjahre im Parlament recht rüpelhaft gewesen sein. Demokratie und Umgang mit anderen Meinungen mussten offenbar erst geübt werden. Von den knapp 800 Ordnungsrufen, die in den Protokollen verzeichnet sind, entfällt ein großer Teil auf die ersten Legislaturperioden. Zwischen 1970 und 1985 gibt es dann noch einmal eine Hochphase des Streits und der Ausrufe, von da an wird es immer friedvoller.
Oder doch nicht? Denn einen Aufschwung in den Zwischenrufen erleben seit Mitte der Achtzigerjahre zwei andere Wörter: Quatsch und Blödsinn. Offenbar ändert sich nicht die Empörung, sondern nur, wie sie zum Ausdruck gebracht wird. Und seit die AfD 2017 in den Bundestag eingezogen ist, nehmen die Ordnungsrufe des Parlamentspräsidiums wieder zu.