Es ist früher Nachmittag und Reza steht an der Metrostation von Piräus. Hastig nimmt der Junge ein paar tiefe Züge seiner Zigarette, dann schnippt er sie auf die Gleise und steigt in den bereitstehenden Zug. Wohin er will? „Zum Victoria-Platz. Mit der Mafia treffen", sagt er mit schiefem Grinsen und zupft an seinem T-Shirt, das ihm am verschwitzen Rücken klebt.
Athen brütet an diesem Tag bei 38 Grad vor sich hin und auch hier am Hafen, im Süden der griechischen Hauptstadt, geht kein Lufthauch. Außerdem ist Reza (Name von der Redaktion geändert) gerade eine halbe Stunde zu Fuß zur Station gelaufen. Seit fast vier Monaten lebt der 17-jährige Afghane in einem improvisierten Flüchtlingslager am hintersten Terminal des Fährhafens. Sein Zuhause ist ein kleines, blaues Zelt auf Beton.
Bis zur Abfahrt füllt sich der Waggon mit Urlaubern und Einheimischen, aber auch mit anderen Bewohnern der Zeltstadt - hauptsächlich junge Männer und Familien, denen man die Strapazen der vergangenen Wochen und Monate ansieht. Neugierig werden sie von Touristen beäugt. Kein Wunder, denn während die Berichterstattung der vergangenen Monate Griechenland als ein von Flüchtlingen überschwemmtes Land im Ausnahmezustand dargestellt hat, sind sie im Alltag jetzt kaum mehr sichtbar.
Im Athener Umland hat die griechische Regierung wie im Rest des Landes mithilfe von EU-Mitteln große Lager hochgezogen und dort die meisten der rund 15 000 in der Region gestrandeten Menschen untergebracht. Die Lager wurden in aller Regel auf abgelegenen Industriebrachen errichtet und sind von Zäunen oder Mauern umgeben. Journalisten ist der Zugang verwehrt. „Meine Mutter sagt, der einzige Ort, an dem sie die Flüchtlinge noch sieht, ist die Metro", erzählt Eleni, eine junge Griechin, die als freiwillige Helferin im Hafen-Camp mitarbeitet und gerade auf dem Weg nach Hause ist. „Ich glaube, die meisten Griechen haben schon vergessen, dass die Leute hier sind."
Das Zeltdorf am Hafen von Piräus, in dem zwischenzeitlich über 4000 Menschen lebten, ist in diesen Sommertagen eines der letzten großen „wilden" Camps Griechenlands. Die Behörden scharren jeden Tag mehr mit den Hufen. Nachdem sie seit April Geflüchtete nach und nach vom Hafen in die offiziellen „hospitality center" im Umland umgesiedelt haben, wollen sie das provisorische Camp mit seinen verbliebenen rund 1000 Bewohnern jetzt endgültig räumen lassen. Wegen der hygienischen Bedingungen dort, sagen sie. Aber vor allem, um Begegnungen zwischen Urlaubern und Geflüchteten auf ein Minimum zu beschränken.
Während sich die Bahn voller schwitzender Körper in Bewegung setzt und aus dem schönen, neoklassischen Kopfbahnhof heraus an Fabrikruinen und leer stehenden Lagerhallen vorbeifährt, erzählt Reza, dass er wie Tausende andere auf dem griechischen Festland ankam, als gerade die Balkanroute dichtgemacht worden war. In eines der offiziellen Camps wollte er nicht gehen. Fast wie Gefängnisse seien die. Am Hafen blieb er, weil ihn dort keine Zäune einsperrten und das Wasser nah ist. Außerdem ist er mit der „Grünen Linie", wie sie wegen ihrer Farbe auf dem Metroplan oft genannt wird, schnell in der Athener Innenstadt. Fahren darf er im öffentlichen Nahverkehr umsonst - eines der wenigen Zugeständnisse, das die Stadtverwaltung an die Situation der Geflüchteten gemacht hat.
Die Bahn hat Piräus mittlerweile unbemerkt verlassen. Die Linie zwischen dem wichtigen Hafenzentrum und der griechischen Hauptstadt ist die älteste Bahnstrecke Griechenlands. Als sie 1869 eröffnet wurde, waren beide noch getrennte Ansiedlungen und die Fahrt lief größtenteils an Feldern und kleinen Gehöften entlang. Heute ist nicht mehr erkennbar, wo die eine Stadt endet und die andere anfängt. Die Vorstädte mit ihren immer gleichen Apartmentblocks gehen nahtlos ineinander über. Sie sind Produkte früherer Migrationsphasen - aus Kleinasien, vom Balkan und aus der griechischen Provinz -, derentwegen schnell und massenhaft günstiger Wohnraum gebraucht wurde. Der Großraum Athen ist eine Region der Einwanderer, dessen Bevölkerungszahl sich seit 1900 fast verzehnfacht hat.
Nach etwa 20 Minuten erreicht die Bahn das historische Zentrum von Athen. Urlauber verrenken die Hälse, um besser nach draußen schauen zu können, wo der Blick über liegengelassene Felsblöcke, Säulen und Olivenhaine streift. Die Gleise sind praktisch in die antike Agora am Fuß des Akropolis-Hügels hineingebaut. An der Station Monastiraki spuckt die Metro eine Menschentraube aus, die sich zwischen Tempelresten, Souvenirshops und Straßenverkäufern verstreut. Auch Reza ist hier früher manchmal ausgestiegen und hat mit seinen Freunden die Stadt erkundet - damals, als er noch guter Dinge war und Geld übrig hatte. Er zeigt ein Smartphone-Foto, auf dem er vor der Akropolis posiert.
Heute hat er keinen Blick mehr für die antike Kulisse vor dem Zugfenster. Nach fast vier Monaten am Hafen und ohne jede Perspektive, das gebeutelte Griechenland in naher Zukunft auf legalem Weg verlassen zu können, interessiert ihn etwas ganz anderes. Denn auf ihrer Fahrt von Piräus in den schicken Vorort Kifissia im Norden Athens macht die Grüne Linie auch an den Hotspots des Athener Schlepperwesens Halt. Schon eine Station später erreicht sie Omonia, ein unübersichtliches Monstrum von Platz voller Beton und brausendem Verkehr. Es sind hauptsächlich Syrer, die sich hier mit „der Mafia" treffen, um über Preise für gefälschte Pässe zu verhandeln, mit denen sie das Land per Flieger verlassen können. Die Preise starten bei 3000 Euro. So viel Geld kann Reza nicht aufbringen, nicht mal, wenn seine Eltern noch mal ihr Erspartes zusammenkratzen und es ihm per Geldtransfer nach Griechenland schicken.
Doch die Schlepper haben auch für untere Preiskategorien etwas im Angebot - am günstigsten ist es, sich in einem Container oder auf der Achse eines Lkw liegend auf eine Fähre nach Italien schmuggeln zu lassen. Das ist Rezas Plan.
Er steigt am Victoria-Platz aus, wo die Schlepper bevorzugt Afghanen ansprechen. Anders als Omonia ist der Victoria-Platz ein hübscher Ort. Kaum Verkehr, Bäume, Sitzbänke und ringsherum Kneipen und Cafés. Bis vor wenigen Monaten war der Platz berüchtigt, TV-Teams aus aller Welt kamen, um zu zeigen, wie es aussieht, wenn Hunderte von Menschen mitten in einer europäischen Großstadt im Freien schlafen. Die waren hier nach erfolglosen Versuchen, weiter Richtung Norden, nach Westeuropa zu gelangen, gestrandet. Mittlerweile hat die Polizei den Platz geräumt, aber auf den Bänken sitzen immer noch viele Afghanen, darunter Jungen wie Reza, mit Kindergesichtern und verwegenen Frisuren.
Der Victoria-Platz ist für ihn ein vertrautes Umfeld. Dreimal hat er schon versucht, Griechenland mithilfe von Schleppern zu verlassen, zwei Mal zu Fuß über den Balkan, ein Mal versteckt in einem Container. Dreimal erwischte ihn die Polizei. Und immer wieder kam er nach Athen zurück, kehrte an den Hafen zurück. Dennoch und obwohl er weiß, dass seine Chancen auf Asyl in Europa gering sind, ist er wild entschlossen, es wieder zu versuchen. „Hier gibt es für mich nichts." Am Hafen kann und will er nicht mehr lange bleiben, Unterkünfte und Betreuung für unbegleitete Minderjährige gibt es kaum in Athen. Soziale Hilfe-Strukturen sind über die Krisenjahre immer weiter abgebaut worden. Und seit ihre Heimat wie ein sicheres Herkunftsland behandelt wird, haben viele Afghanen Angst, abgeschoben zu werden, wenn sie in die offiziellen, von Zivilverwaltung und Militär geführten Lager gehen.
Einige Jungs, die Reza kennt, sind auf der Straße gelandet, manche im nahe gelegenen Pedion tou Areos, einem der größten Parks von Athen. Der ist nicht nur einer der wichtigsten Drogenumschlagplätze, hier halten auch ältere Freier nach Strichern Ausschau. Junge Flüchtlinge, denen das Geld oder die Kraft ausgegangen ist, um weiterzukommen, werden leicht zum Freiwild. Auch Reza erzählt peinlich berührt, wie ihm mal in der Metro ein Mann seine Hand aufs Bein gelegt habe - ganz ungeniert, zwischen all den Leuten. Aber so verzweifelt ist er noch nicht. Er glaubt an sich: „Das nächste Mal sehen wir uns in Deutschland", sagt er zum Abschied.
Die Einheimischen sind weitgehend unter sich, als die Metro Richtung Norden weiterfährt, vorbei am riesigen Olympia-Komplex in Maroussi. Zum zehnten Jahrestag der Spiele von 2004 sorgte europaweit eine Fotoreportage für Aufsehen, die den Verfall der olympischen Anlagen dokumentiert, von denen viele völlig ungenutzt sind. Weniger bekannt ist, dass Athen auch sonst hohe Leerstandsraten verzeichnet. 2014 zählte die Stadtverwaltung 1200 verlassene Gebäude allein in der Kernstadt. Ein Gang durch die Gegend um Omonia und Victoria zeigt, dass die Dunkelziffer noch höher liegen dürfte. Ganze Straßenzüge wirken, als wären nur noch die Erdgeschosse in Benutzung.
Viele Menschen in Athen schließen daraus, dass es auch anders laufen könnte mit den Flüchtlingen. Statt sie in abgelegenen Lagern zelten zu lassen, könnte der vorhandene Wohnraum genutzt werden.
Rund 1000 Menschen sind tatsächlich schon so untergekommen - allerdings nicht offiziell. Sie leben in Häusern im und um den Stadtteil Exarchia, die von Aktivisten zu diesem Zweck besetzt wurden. Eines der alternativen Wohnprojekte findet sich grad um die Ecke vom Victoria-Platz und hat es bis in deutsche Medien geschafft: Das Hotel City Plaza stellte vor einigen Jahren krisenbedingt den Betrieb ein, seine Einrichtung blieb komplett erhalten. Heute leben dort fast 400 Menschen aus verschiedenen Ländern - Geflüchtete und einige Aktivisten - zusammen. Ab September sollen die fast 200 Kinder dort sogar griechische Schulen besuchen. Eine kleine, zumindest temporär Realität gewordene Utopie, die zeigt, dass Lager oder Obdachlosigkeit nicht die einzige Alternative sind.
Zwar haben die Behörden die Besetzer oft gewähren lassen - so waren die Menschen ja weg von der Straße. Aber obwohl Organisationen wie Ärzte ohne Grenzen die Zustände in den Lagern seit Monaten kritisieren, machen weder die konservative Stadtregierung noch das Griechenland regierende linke Syriza-Bündnis Anstalten, im Umgang mit Geflüchteten nach neuen Wegen zu suchen. Im Gegenteil: Gerade verschärft sich der Ton. Athens Bürgermeister Giorgos Kaminis hat angekündigt, die Häuser räumen zu lassen, denn sie stellten ein Gesundheitsrisiko dar.
Und so werden Menschen wie Reza weiter auf der Straße landen, zu Tausenden hinter den Mauern der großen Lager langsam in Vergessenheit geraten oder sich von Schleusern auf lebensgefährlichen Wegen Richtung Norden schaffen lassen. Und die Metro wird vielleicht der einzige Ort sein, an dem Touristen wie Athener sich kurz erinnern, dass da ja noch etwas war.