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Column

Auf der Autobahn der Zeit


„Der durchschnittliche Büroarbeiter kann sich im Schnitt etwa elf Minuten mit einem Thema beschäftigen, bevor er vor einer eingehenden E-Mail, Anrufen oder SMS-Eingängen unterbrochen wird. Die Informationsgeschwindigkeit ist um 1010 % gesteigert.“


Ein Satz aus einer Statistik. Ein Satz, der uns zu denken geben sollte, denn wir sind alle davon betroffen. Eine Tatsache, die uns übrigens durch den Rausch an Kommunikation und Aktion in die Einsamkeit treibt. Trotz modernster Technik, die uns eigentlich das Leben leichter machen soll, scheinen wir in ein Chaos der immerwährenden Beschäftigung und des Zeitmangels zu rennen. Denken Sie darüber nach. Wann gönnen Sie sich Zeit zum Nichtstun? Wann haben Sie während des Tages Augenblicke, die nicht nach Plan verlaufen? Selbst die Freizeit wird zum Stress, sie ist überverplant. Auch das heißersehnte Wochenende ist angefüllt mit Pflichten, die sich kein anderer aufbürdet, als man selbst. Jede freie Minute wird getaktet und muss gefüllt werden mit Zwängen. Schuld an allem ist der Zeitmangel: Ich habe keine Zeit. Mir reicht dazu die Zeit nicht. Mir läuft die Zeit davon. Die Zeit vergeht so schnell. Dies sind Sätze, die in allen Altersgruppen und Gesellschaftsschichten laut werden.


Wir scheinen uns in einer rasenden Zeitmaschine zu befinden und verkürzen dadurch eigentlich nur unsere Lebensqualität. Schauen wir uns einmal an, was in Deutschlands Schlafzimmern vor sich geht. Durchschnittlich haben die Deutschen 17,6 Minuten lang Sex. In so manchen primitiven Ländern Afrikas dauert das Liebesspiel statistisch gesehen länger. Im Gegensatz dazu sehen wir aber 225 Minuten pro Tag fern. Aldi absolviert an der Kasse 86 Kunden pro Stunde.


Weit über die Hälfte der Deutschen empfinden die ständige Unruhe und dauerhafte Alltagshektik als Stress. Es scheint sich eine Gesellschaftskrankheit zu entwickeln, die sich Depression nennt und aus Stress resultiert. Sie legt sich über uns und ist einfach nicht heilbar, trotz noch nie so dagewesenem Fortschritt, Mobilität und einem Gesundheitssystem, das es kaum in anderen Ecken der Erde so gibt. Keine Gesellschaftsgruppe scheint vor ihr gefeit zu sein. Diese Epidemie führt uns in die Einsamkeit, in eine Massendepression und letzten Endes zur Stagnation. Führt man ein Telefonat mit einem Kollegen oder einem Freund, ist es eine Seltenheit, das Wort Stress nicht zu hören. Gestresst zu sein ist bereits eine Normalität. Gefährlich, wenn sich ein solcher Gefühlszustand in unser Gehirn pflanzt, sich dort manifestiert und sich daraufhin bei sämtlichen Aktivitäten in unser neurologisches System pflastert. Es entsteht eine unaufhaltsame Kettenreaktion. Gestresst zu sein ist ein akzeptierter Zustand, wer nicht gestresst ist, hat es wohl zu gut. Eine gesellschaftliche Absurdität entsteht dabei. Eine Akzeptanz eines beängstigenden Zustands, der zu Chaos, Krankheiten und Ängsten führt. Das Resultat ist Panik.


Dabei ging es uns noch nie so gut wie heute. Eigentlich. Heutzutage kann jeder werden, was er will. Frauen dürfen studieren und arbeiten. Wir sind alle versichert, so mancher vielleicht auch überversichert. Wir haben Rechte und Rente. Wir haben ein Gesundheitssystem und ausreichend Nahrung. Wir leben länger und wir haben mehr Zeit, denn vieles wird uns abgenommen. Die Spülmaschine reinigt das Geschirr. Die Waschmaschine wäscht die Wäsche. Die Marmelade muss nicht gekocht werden, sondern es gibt sie im Glas im Supermarkt, wo es auch sonst so einiges gibt, was man früher selber machen musste. Eigentlich sollten wir weiser sein. Aber wir haben anscheinend zu viele Möglichkeiten. Wir haben Auswahl und wir können wechseln, egal ob Partner, Arbeit oder Handy. Irgendwie kommen wir in eine schreckliche Qual der Wahl der Freiheiten. Kämpfen um unser Überleben müssen wir nicht mehr, so wie es unsere Vorfahren tun mussten. An diese Stelle scheint eine Fehlpolarisierung getreten zu sein. Statt Kampf um die Existenz versinken wir in einem Strudel an Möglichkeiten, und werden einfach nicht glücklicher. Früher gab es die Großfamilie, das war der einzige Schutz. Trotzdem geraten wir in Massenpanik, da wir nicht wissen, ob in 20 Jahren in Deutschland die Altersarmut eintritt. Früher wussten wir nicht, ob das Neugeborene überhaupt überleben wird, heute sagen viele, in die Welt von heute setzen wir keine Kinder. Früher gaben wir uns trotz quälender Armut zufrieden, wenn der Frost die Ernte nicht zerstörte, heute geraten wir in Sorge, weil wir uns das neueste Handy nicht leisten können. Je größer die Möglichkeiten und die Beschleunigung, desto weniger Zeit steht uns zur Verfügung und desto größer wird die Sorge.


Dann rennen und hetzen wir der Zeit hinterher, ohne Atempause, direkt in ein Labyrinth hinein, in dem uns ein immer schneller werdender Rhythmus beschleunigt. Ein Stillstand ist angstbesetzt. Der Lebenszeit scheinen wir einen Schritt voraus zu sein, ja, wir wollen sie beinahe überholen. Dabei vergessen wir die Nichtigkeit darin, im Angesicht der Weltzeit, in der unser kurzer Aufenthalt gerade so einschlagend ist, wie eine Stecknadel, die auf den Boden fällt, wenn überhaupt.


Und dabei ändert sich nichts an der eigentlichen Zeit, diese bleibt dieselbe. Eine Stunde ist immer noch eine Stunde, eine Minute eine Minute und eine Sekunde war und wird immer eine Sekunde lang dauern. Dennoch rennt sie uns weg, die wertvolle Zeit. Diese scheint all unser Maß zu sein, an der wir uns festhalten, und die uns dirigiert und manipuliert. Aber sie rennt uns nicht weg, sie kann es ja gar nicht, denn sie ist eigentlich nicht existent, sie ist von uns geschaffen. Wir sind es die weglaufen und dann direkt auf die von uns kreierte Autobahn der Zeit. In einer Wahnsinnsgeschwindigkeit verfallen wir einem neurotischen Aktionismus und gelangen dabei in einen Strudel, der nicht mehr zu stoppen scheint. Jede freie Minute muss gefüllt werden, mit Denken, Handeln, Planen, Freunden, Familie, Einkaufsplänen, Whtsapp, E-Mails und Telefonaten. Nach der Arbeit berauschen wir uns regelrecht, zum Beispiel mit dem Fernseher oder stundenlangem Computerspielen, das uns in einen Trancezustand zu bringen scheint. Unbewusst sucht der Körper und der Geist dabei nur eines, nämlich das, was er eigentlich braucht: eine Denkpause, Bewegungslosigkeit, ein Anhalten. Während wir mit unseren Kindern spielen, schauen wir auf die Uhr oder mal kurz auf unser Handy. Der Fernseher läuft parallel und der Laptop steht auf dem Esstisch, da noch eine wichtige Arbeitsmail erwartet wird. Denken Sie doch mal an ein Wartezimmer in einer Arztpraxis oder an ein S-Bahn-Wagon. In diesen zehn bis 30 Minuten versuchen wir alles zu regeln, was wir vorher nicht geschafft haben. Handys werden gezückt, Termine gemacht, SMS geschrieben, und die Mutter wird schnell angerufen, um sich zu entschuldigen, dass es die letzten Tage nicht geklappt hat, sie anzurufen, denn diese Woche war einfach zu stressig.


Es ist nicht die Zeit, die uns entrinnt, sondern wir sind es, die durch einen Dauerlauf vor etwas davonrennen. Wir kaschieren die Angst etwas zu verpassen, die Angst vor dem Tod, die Angst vor Herausforderungen, die Angst vor uns selbst mit einer hysterischen Hyperaktivität. Unsere eigenen Schranken, vielleicht auch negative Seiten unserer Selbstbilds verlernen wir so zu sehen und auch zu fühlen. Mechanisch folgen wir einer Allmachtsphantasie, denn wir können plötzlich alles. Mechanisch werden bedeutet aber auch, dass wir uns selbst aufgeben, uns weder richtig kennen noch richtig zu fühlen wagen. Das Schreckensbild daran ist, dass wir alle einheitlich und gleich wie kleine Roboter demselben Schema folgen und dabei nicht mehr sehen, dass wir uns mehr und mehr an Lappalien und Nichtigkeiten ergötzen als an den wirklich wesentlichen Dingen im Leben. Wo bleibt jetzt noch die so hart erkämpfte Freiheit?


Wir sind dank Elektrizität länger wach, schlafen aber weniger und unruhiger. Wir essen schneller und anscheinend gesünder, sind aber ständig krank. Antworten wir nicht gleich auf eine eingehende SMS, könnte die Welt untergehen. Früher hat ein Briefprozess Tage gedauert, heute soll alles sofort geschehen. Ob unser menschliches Gehirn dafür schon ausgestattet ist, sei in Frage gestellt. Schlafforscher sagen, dass wir nachts drei- bis viermal leicht aufwachen. Dies stammt aus der Zeit, als die Menschen noch am Lagerfeuer schliefen und sich vor wilden Tieren und anderen Feinden in Acht nehmen mussten. Wenn wir diesen Instinkt immer noch so aktiv in uns tragen, wie sollen wir innerhalb kürzester Zeit mit dem Wahn an Technologie und der Beschäftigung fertig werden. Wir geben dem Ganzen den modernen Namen Stress, und vergessen dabei, dass wir eine Wahl haben.


Alice Romas, 01.02.2013