Bislang ließen sich die düsteren Schriften über das Fortbestehen von Demokratie und freier Gesellschaft von Platon und Aristoteles als pessimistische Trugschlüsse einer Zeit abtun, in der unsere Errungenschaften in puncto Demokratie und selbstbestimmtem Leben so weit entfernt waren wie die Erde vom Mars. Zu aufgeklärt und resilient schien unsere Gesellschaft, als dass sie sich durch medial geschürte Stimmungsschwankungen in die verführerischen Arme von Demagogen begeben würde. Das politische System galt lange Zeit als ausgereift- die Gewaltenteilung als elementarer Schutz vor dem Wiederkehren historischer Dunkelkapitel. Doch wer Demokratie bislang als notwendiges Ergebnis menschlicher Fortentwicklung betrachtete, sieht sich in jüngster Vergangenheit einer schmerzlichen Realität ausgesetzt: das beschauliche Österreich hat in letzter Sekunde den stramm rechten Norbert Hofer von der FPÖ als Bundespräsidenten verhindert. Donald Trump sichert sich mit einem angstschürenden Vorwahlkampf die republikanische Präsidentschaftskandidatur und im Rest Europas geben neurechte Parteien den Takt an.
Folgt auf unsere Demokratie die Tyrannei?Holt man nun Aristoteles´ Kreislauf der Verfassungen wieder hervor, erscheint die aktuelle Entwicklung lediglich als folgerichtiger Übergang der Spätdemokratie in das nächste absolutistische Regime. Aristoteles unterstellt einen zwingenden Verfallsprozess einer jeden Verfassung, weshalb sich „gute" und „schlechte" Verfassungen zyklisch im Zeitverlauf abwechseln. Zu den „guten" Verfassungen zählt er die Monarchie, Aristokratie und Politie, in denen die Machthabenden stets im Sinne des Gemeinwohls handeln und sich dem Volkswillen verpflichtet fühlen. Diese entarten im Laufe der Zeit zwangsläufig in ihr jeweiliges Gegenstück. Der gute Monarch wird abgelöst vom herrschaftssüchtigen Tyrannen, die korrupten Oligarchen folgen auf die Herrschaft der Besten und die anarchische Demokratie entspringt aus der guten Politie. Aristoteles hegte seinerzeit eine tiefe Abneigung gegen die Demokratie- für ihn war sie die irrationale, von Gefühlen geleitete Herrschaft des Pöbels. Jedoch lag „das Gute" für ihn in keiner der Verfassungsformen. Lediglich Mischformen aus den drei guten Verfassungen schützen die Gesellschaft vor dem Verfallsprozess.
Bei genauerem Hinsehen finden sich einige Punkte, die darauf hindeuten, dass wir die Stufe der Spätdemokratie erreicht haben. Rückblickend hat das Internet einen entscheidenden Beitrag dazu geleistet. Seit den frühen 2000ern haben sich die Regeln des Politikbetriebs eklatant verschoben. Einer breiten Masse ist es nun möglich, sich mit Gleichgesinnten zu vernetzen. Meinungen werden geteilt, gute und weniger gut recherchierte Informationen verbreitet: die sozialen Medien sind zu einem entscheidenden Medium politischer Meinungsbildung geworden. Doch hat diese an sich positive Entwicklung auch eine dunkle Seite der Medaille. Die mediale Demokratie spielt längst nicht mehr nach den Regeln, die sich ihre theoretischen Vordenker ausgedacht haben. Das Konstrukt des Gemeinwillens, oder auch die Schwarmintelligenz, ist nur in der Theorie das Ergebnis eines diskursiven Prozesses, in dem sich die Vernunft und somit ein für alle Gruppen erträglicher Kompromiss durchsetzt. Die mediale Demokratie erhebt Gefühle, Emotionen und Narzissmus über die Vernunft, empirisch nachweisbare Phänomene oder lebhafte Debatten. Das beste Beispiel hierfür sind viele Online-Debatten, die sich in den Kommentarspalten von Nachrichtenportalen oder den Internetseiten einiger Organisationen abspielen- Die Debatten werden persönlich, emotional, und ohne Aussicht auf Konsens geführt, bevor sie überhaupt begonnen haben. Godwin´s Gesetz - es ist nur eine Frage der Zeit, bevor eine Kommentarspalte die Hiter-Diskussion aufbringt- wird jeden Tag Realität.
Dies übersetzt sich für die Politik in eine einfache Formel: Je pathetischer an die Gefühlsebene der Menschen appelliert wird, desto größer sind die Aussichten, sich mediales Gehör zu verschaffen. Wird diese Ebene erst einmal erreicht, ist der Weg bis zum nächsten fanatischen Herrscher jedoch nicht mehr weit. Auch für Platon liegt diese Entwicklung in der Natur der Sache: Mit voranschreitender Demokratisierung werden Gesellschaften anfälliger für Demagogen, die vielen Abgehängten neuen Halt und einfache Antworten versprechen. Plötzlich wird ein Donald Trump salonfähig mit einfachen, prägnanten Botschaften, deren inhaltlicher Gehalt in früheren Zeiten maximal belächelt worden wäre. Die Bedrohung durch den IS? Ganz einfach, mit harter Hand zurückschlagen. Von 50 Gefangenen werden 49 mit in Schweineblut getränkten Kugeln hingerichtet, der Überlebende wird freigelassen und die Schreckensbotschaft verbreiten. Wie löst man das Grenzproblem mit den nicht registrierten Latinos? Alles Verbrecher, Vergewaltiger und Diebe. Eine undurchlässige Grenzmauer, die von den Mexikanern bezahlt wird, leistet Abhilfe. Problem gelöst.
Solche Figuren wie Trump konnten nur durch die sensationistische Medienberichterstattung so groß werden. Dennoch wäre es zu einfach, die Verantwortung gänzlich auf die Medien zu schieben. Auch in Europa wurde das Potential rechter Bewegungen zu lange unterschätzt und mit einer Politik der „Alternativlosigkeit" noch weiter befördert. Je länger unsere Demokratie bestehen bleibt, desto offensichtlicher zeigt sich, dass die freie und gleiche Gesellschaft mit all ihren bunten Facetten, längst nicht nur Befürworter hat, sondern auch eine große Gruppe von Gegnern auf den Plan ruft.
Die Gründe hierfür sind nicht schwer auszumachen und insbesondere in der häufig globalisierungskritischen Arbeiterklasse zu finden. Die verfügbaren Jobs vieler Arbeiter sind von jeglichem Sinn entfremdet und schlecht bezahlt. In weiten Teilen Europas sind selbst schlecht bezahlte Jobs Mangelware. Gleichzeitig sind die ehemals geläufigen Orte für Sozialisierung wie die Kirche, Gewerkschaften und traditionelle Familienverbünde rückläufig. Zusätzlich hat die globalisierte Wirtschaft Millionen von Arbeitern einem neuen Konkurrenzdruck ausgesetzt- anfang der 90er Jahre hat niemand die Betroffenen gefragt, ob es die Zukunft ist, die sie sich wünschen. Der Prozess verlief schleichend- und unumkehrbar zugleich. Soziale Isolation und der Rückzug aus dem öffentlichen Raum augrund aufgestauter Verzweiflung ist kein seltenes Phänomen mehr- und die Brutstätte für die Ablehnung der heutigen Verhältnisse.
Der Soziologe Heinz Bude sieht 15% aller Beschäftigten in Deutschland davon betroffen, und nennt diese Gruppe „Dienstleistungsproletariat". Die Betroffenen arbeiten als Gebäudereiniger oder Paketzusteller und haben keinerlei Aufstiegschancen. Oftmals verharren sie über Jahre in derselben Position und entlarven das ominöse Versprechen „Wer hart arbeitet, wird gerecht entlohnt" als inhaltsleere Phrase. Auch die romantisierende Erzählung der Regierungsparteien „Aufstiegschancen durch Bildung" erweist sich nur als bedingt richtig. In Zeiten, in denen 50% oder mehr Absolventen eines Jahrgangs mit Abitur abschließen, ist das Abitur längst kein Garant mehr für eine qualifizierte Beschäftigung. Im Gegenteil- der Wettbewerb verschärft sich, den Betroffenen wird viel mehr als „nur" noch das Abitur abverlangt. Einer großen Gruppe gut qualifizierter Menschen steht ein begrenzter Pool an geeigneten Arbeitsplätzen zur Verfügung, und erhöht somit den Verdrängungsdruck und die Zukunftsangst.
Diese sozialen Spannungen bereiten das Feld für neue Autoritäre, welche die Frustration und Wut nur allzugern aufgreifen und auf gesellschaftliche Randgruppen lenken. Schnell werden Gründe für die eigene Situation ausgemacht- und die Schuldigen eindeutig identifiziert. Das Rückbesinnen auf nationale Identität verspricht eine Rückkehr zu geordneten Strukturen, eine Abkehr von der unübersichtlichen, globalisierten Welt. Die gefühlte Schwäche vieler Menschen findet einen sicheren Hafen in den radikalen Versprechen der Autoritären: Alles befremdliche wie die Eliten, Migranten und grün versiffte Universitäten mit ihrem Genderwahn werden abgelehnt.
Nun gibt es zwei Möglichkeiten, mit diesen Spannungen umzugehen. Man kann die abgehängten Mitglieder der Gesellschaft weiterhin als Ewiggestrige, Menschenfeinde und rechten Abschaum bezeichnen und die weitere Spaltung unserer Gesellschaft riskieren. Aussichtsreicher erscheint es jedoch, die Verhältnisse grundlegend zu hinterfragen und somit nach den Gründen für die verzweifelte Situation vieler Menschen zu suchen.Es bleibt uns allen zu wünschen, dass es nicht erst wieder einer autoritären Machtübernahme bedarf, um uns trotz aller Herausforderungen an all die Vorteile einer freien, progressiven Gesellschaft zu erinnern.
Der rezensierte Artikel „ Democracies fall, when they are too democratic" ist im NewYork Magazine erschienen.