TTIP spaltet- medialer Aufschrei nach den Enthüllungen der TTIP-Leaks: Hysterischer Gutmenschen-Protest oder berechtigte Sorge über gesellschaftliche Standards? Weshalb das geplante Freihandelsabkommen TTIP die Massen emotionalisiert- Ein Überblick.
Die TTIP- Vision der Freihandelsverfechter klingt zunächst auch für Kritiker verlockend: Die Schaffung der größten Freihandelszone der Welt wird angestrebt, in der mehr als 820 Millionen Konsumenten von einem riesigen Warenangebot und sinkenden Preisen profitieren können, da mit dem Abkommen sämtliche Zölle fallen gelassen würden. Jedoch werden bereits heute Waren im Wert von mehr als 2 Milliarden Euro täglich gehandelt- auch ein Ergebnis der bereits mit durchschnittlich 4% sehr niedrigen Zölle auf Industriegüter. Dennoch werden die Chefunterhändler beider Seiten nicht müde, die erheblichen Effekte auf die Beschäftigung und das zusätzliche Wachstum zu betonen. Wer könnte schon etwas gegen zusätzliches Wirtschaftswachstum und die Schaffung neuer Jobs einwenden?
Bei genauerer Betrachtung werden die angeführten Vorteile von TTIP jedoch schnell als euphemistische Scheinargumente enttarnt: Die bei den Verhandlungen federführende Europäische Kommission hat eigens eine Studie beim Centre for Economic Policy Research in Auftrag gegeben. Die ernüchternden Ergebnisse der Studie bilden die Grundlage der Pro-TTIP Argumentation: Im Zeitraum von 10 Jahren ist für Europa mit einem zusätzlichen Wachstum von 0,48% zu rechnen. Als Langfristeffekt wohlgemerkt- d.h. jährlich springt nur ein zusätzliches BIP- Wachstum von 0,05% dabei heraus.
In Anbetracht dieser verschwindend geringen Wachstumssteigerung muss die Frage gestattet sein: Welchen Benefit hätte Europa überhaupt von dem Abkommen? Die Reaktion vom ehemaligen Handelskommissar und TTIP- Chefunterhändler Karel de Gucht spricht Bände, als er von Journalisten mit den Ergebnissen seiner eigens in Auftrag gegebenen Studie konfrontiert wird.
Die erwarteten Wachstumseffekte können also schwerlich den Enthusiasmus vieler Wirtschaftsvertreter begründen. Mit dem Abkommen, wie es momentan verhandelt wird, würden ihnen jedoch weitere Türen hin zu einer deregulierten Wirtschaft ermöglicht.
Zentrales Ziel der US-Seite ist die Öffnung der europäischen Daseinsvorsorge für private amerikanische Unternehmen. So hat die US- Delegation in Verhandlungen verlangt, die EU müsse alle Vorbehalte zum Schutze der öffentlichen Sozialversicherungssysteme fallenlassen- unvorstellbar bei dem erreichten Sicherungsniveau und der Größe der europäischen Wohlfahrtsstaaten. Staatliche Transferleistungen sind historische Errungenschaften, die das europäische Werteverständnis von Solidarität und einem gewissen Grad an sozialer Gleichheit widerspiegeln. In diesem Verhandlungspunkt wird besonders deutlich, dass es um mehr geht, als ein reines Wirtschaftsabkommen. Vielmehr geht es um die Entscheidung, wie gesellschaftliches Leben organisiert werden soll: Individuell und eigenverantwortlich, oder gemeinschaftlich solidarisch. In den Verhandlungen über die Öffnung der Daseinsvorsorge prallen zwei Systeme aufeinander, die nicht miteinander vereinbar sind. Diese Diskussion spiegelt sich im Verhandlungspunkt über den Negativlistenansatz wider.
Öffentliche Dienstleistungen wie Sozial- und Krankenversicherungsschutz unterliegen in den EU- Mitgliedsstaaten einem besonderen Schutz, auch wenn jeder Mitgliedsstaat seine eigene Definition und Ausgestaltung dieser Dienstleistungen festlegen kann. Jedoch sind sie sich über den Sinn und Zweck dieses besonderen Schutzes einig: sie erfüllen fundamentale Dienste für die Gesellschaft und sichern die Daseinsvorsorge jedes Einzelnen. Aus diesem Grunde unterliegen diese Güter nicht denselben Markt- und Wettbewerbsregeln wie alle anderen Dienstleistungen, die auf dem Markt angeboten werden. Bei bestehenden Handelsabkommen wie dem GATS, die von der WTO verhandelt worden sind, wurde dieser eingeräumte Schutzstatus stets berücksichtigt.
Dies wurde durch eine sogenannte Positivliste sichergestellt. Öffentliche Dienstleistungen waren dadurch automatisch vom Handelsabkommen ausgenommen, es sei denn, sie wurden explizit auf der Positivliste für die Privatisierung und den freien Wettbewerb freigegeben. So wurden international neue Handelsregeln etabliert und die Handelsbeziehungen oftmals weiter vertieft- jedoch ohne die nationalen Sicherungssysteme anzutasten. Dieser in der Vergangenheit funktionierende Ansatz findet bei den TTIP Verhandlungen keine Beachtung. Stattdessen wird der Ansatz der Negativliste verfolgt- alle öffentlichen Dienstleistungen, die nicht explizit auf der Liste aufgeführt sind, werden den verschärften Markt- und Wettbewerbsbedingungen ausgesetzt. Öffentliche Güter verkommen so zum handelbaren Gut: Gesundheit, Arbeitslosenversicherung, Alterssicherung- nach den Vorstellungen der Amerikaner sollten alle Bereiche für private Unternehmen zugänglich sein.
Mit dem Beharren auf die privaten Schiedsgerichte in den Vertragstexten entfremdet die amerikanische Seite den originären Zweck dieser privaten Gerichtshöfe: Um Kapital und Unternehmensbesitz von Investoren vor dem willkürlichen Zugriff von korrupten Regimes in Entwicklungsländern zu schützen, wurde dieses Instrument in viele Handelsverträge mit den betroffenen Staaten aufgenommen. Schutz vor staatlicher Enteignung war das Ziel- und ist für ein Handelsabkommen zwischen Europa und Amerika schlichtweg ungeeignet. Die aus dem Unternehmermunde unverdächtig klingende Planungs- und Investitionssicherheit soll so gewährleistet werden- bedeutet für die Zivilgesellschaft jedoch erhebliche Einbußen im politischen Gestaltungsspielraum.
Gesellschaftliche Bedürfnisse sind so wandelbar und unbeständig wie die Natur des Menschen selbst: Sie richten sich an den aktuellen Emotionen und Gefühlen aus, und sind gerade aufgrund ihrer Flexibilität fortschrittlich. Im Falle von Fukushima brauchte es zunächst die große Katastrophe, bis viele Staaten den Atomausstieg beschlossen haben. Dennoch war dies eine folgerichtige Entscheidung in Anbetracht der realen Gefahren, die von jedem einzelnen Atomkraftwerk ausgehen. Die sprunghafte Entscheidung der Bundesregierung damals wäre nicht möglich gewesen, wenn Unternehmen die Möglichkeit gehabt hätten, vor privaten Schiedsgerichten zu klagen: Wann immer zukünftige Unternehmensgewinne durch politische Entscheidungen geschmälert werden könnten, würde den Unternehmen die Möglichkeit eingeräumt, ganze Staaten vor den privaten Gerichtshöfen auf Milliardenbeträge zu verklagen.
Allein die Möglichkeit dieser Klagen würde die gesamte Mentalität in der Politik verändern: stets würde zunächst abgewogen, wie aussichtsreich mögliche Schadensersatzklagen von Unternehmen sein könnten. Nicht das Gemeinwohl als oberstes Leitmotiv politischer Entscheidunge würde die Norm sein, sondern die Kompatibilität neu beschlossener Gesetze mit den Unternehmensinteressen. Politik wäre nicht länger mehr die legitime Interessenvertretung des Volkes, sondern einzig und allein Bittsteller und Garant für den Profitfetisch der Großunternehmen.
Auch im Bereich des Verbraucherschutzes treffen mit dem amerikanischen Nachsorge- und dem europäischen Vorsorgeprinzip zwei Systeme aufeinander, die sich nicht harmonisieren lassen. Der Unterschied ist wieder ganz grundlegender Natur: Neue Produkte dürfen in Europa nur auf den Markt gebracht werden, wenn zweifelsfrei feststeht, dass sie nicht gesundheitsschädlich sind. Behörden genießen die weitreichende Kompetenz, Neuzulassungen zu verbieten, sofern diese wahrscheinlich gefährlich sind.
In den Vereinigten Staaten hingegen gibt es weder verpflichtende Registrierungen oder Sicherheitstests, bevor von den Behörden grünes Licht gegeben wird. Können jedoch Gesundheitsschäden oder Sicherheitslücken im Nachhinein nachgewiesen werden, drohen dem Hersteller Millionenklagen von privaten Anwälten- Unternehmen versuchen deshalb, sich in viele Richtungen abzusichern. Phänomene wie „Vorsicht, heiße Flüssigkeit!" auf To-Go-Kaffeebechern oder Warnungen wie „Bitte nicht hinauslehnen" auf Fensterrahmen sind keine Seltenheit. Beide Systeme sind in sich schlüssig- vergleicht man sie jedoch miteinander, zeigt sich schnell, dass das europäische System höhere Verbraucherstandards garantiert.
Als besonders deutliches Beispiel dienen Kosmetika: Auf detailreichen Listen ist in Europa aufgeführt, welche Substanzen nicht verarbeitet werden dürfen. 1.300 Substanzen sind nicht erlaubt, weitere 260 nur eingschränkt; in den USA sind es gerade einmal 8 chemische Stoffe. Auch der Einsatz von Pestiziden wird in den Staaten liberaler gehandhabt: 82 Pesitizide, die in Europa verboten sind, werden ohne weitere Auflagen in den USA eingesetzt. Eine Harmonisierung dieser beiden Prinzipien kennt deshalb nur zwei mögliche Szenarien: Entweder eine Absenkung der europäischen Verbraucherstandards, oder eine drastische Erhöhung der amerikanischen Standards.
Die Früchte des ProtestsDoch entgegen aller Beschwichtigunsversuche und den Unmutsbekundungen führender Politiker über die Skepsis und die Proteste gegen TTIP scheint das verbreitete Unbehagen gegen das Handelsabkommen Gehör zu finden- offenbar schwindet zunehmends auch bei der Kommission der Optimismus vergangener Tage: nachdem geheime Verhandlungsdokumente geleaked wurden, scheint insbesondere die stets auf höchste Diskretion bedachte amerikanische Seite nicht wirklich „amused" darüber zu sein, dass nun viele der Verhandlungspositionen öffentlich zugänglich sind und droht damit, die Verhandlungen scheitern zu lassen.
Auch in der großen Koalition scheint TTIP Gesprächsbedarf zwischen CDU und SPD ausgelöst zu haben. Während Bundeskanzlerin Merkel das Abkommen noch immer zügig zum Abschluss bringen will, fehlt Wirtschaftsminister Gabriel dafür die „notwendige Fantasie"nach den Enthüllungen von Greenpeace, obgleich der SPD-Vorsitzende in der Vergangenheit nicht müde wurde, die positiven Effekte des Abkommens ins Licht zu rücken.
Es wäre richtig und wichtig, dass TTIP in seiner jetzigen Form scheitert, und damit ein eindeutiges Signal in Richtung der verantwortlichen Technokraten sendet: Ein allumfassendes Freihandelsabkommen, das die Standards des gesellschaftlichen Zusammenlebens für die nächsten Jahrzehnte festlegen soll, kann nicht unter Ausschluss demokratischer Institutionen und der breiten Öffentlichkeit verhandelt werden. An diesem offensichtlichen Mangel in der Grundkonzeption der geheimen Verhandlungsstrategie gräbt sich TTIP sein eigenes Grab, und beweist gleichzeitig, dass sich ziviler Protest in der heutigen Zeit noch lohnen kann- trotz den wehleidigen Versuchen vieler Politiker, den Protest zu diskreditieren.