Noch nie haben sich so viele fürs Fliegen geschämt wie diesen Sommer. #Zugstolz könnte die Lösung sein. Kann man den irgendwo lernen? Unser Autor hat es versucht.
Ich war vielleicht zwölf, erinnere mich aber genau an die Stimme aus dem Lautsprecher: "Bolzano! Bolzano! Bolzano!" Es ist mitten in der Nacht, und der Schaffner klingt hellwach. Gelbes Licht bescheint den Bozener Bahnsteig, Insekten kreisen. Ich liege oben auf der Klappliege, Kopf auf Höhe des geöffneten Schiebefensters, und atme die warme Luft. Als der Zug anfährt, zieht die Dunkelheit vorm Fenster Streifen. Ich drehe mich auf den Rücken und lausche, wie das Klackern der Schienen seinen Rhythmus wiederfindet.
Es war ein Sommer in den Neunzigerjahren, der Beginn eines Familienurlaubs. Wir waren auf dem Weg zum Gardasee, an dessen kaltes Wasser ich mich auch noch gut erinnere, unsere Badestelle lag im Schatten einer beinahe senkrechten Felswand. Aber darum soll es hier nicht gehen, was zählt, ist die Anreise. Ich habe mein Gedächtnis nach Zugerlebnissen durchkramt, auf der Suche nach einer Erinnerung, die für mich die Schönheit des Bahnfahrens symbolisiert. Ich wollte wissen, ob ich das Gefühl nachempfinden kann, das gerade eine steile Karriere hinlegt: Zugstolz. Auf Schwedisch tågskryt, was man dazu sagen sollte, weil ein Schwede den Begriff erfunden hat. Ihm war aufgefallen, dass auf Instagram und Facebook immer mehr Selfies auftauchten, die im Zug oder am Bahnsteig aufgenommen worden waren. Die Absender wollten zeigen, umweltfreundlich unterwegs zu sein. Zugstolz ist die spiegelverkehrte Variante von flygskam, Flugscham, die immer mehr klimabewusste Reisende befällt. Der Grund: Fliegen setzt bis zu zehnmal mehr klimaschädliches frei.
Spätestens jetzt, am Ende dieses Sommers, ist die Wahl des Verkehrsmittels ein Politikum. Die Grünen erlebten ein Umfragehoch, die Linke forderte eine Verstaatlichung von Fluggesellschaften, die Regierung stritt über die CO2-Steuer - und #Zugstolz wurde zum Hashtag der Stunde. Klingt doch super, man hat ja nicht oft im Leben die Möglichkeit, sich guten Gewissens etwas einzubilden. Leider steht Zugstolz quer zu meinem Stolz, weit gereist zu sein. Er führt mir vor Augen, welchen Preis mein Lebensstil hat. Ich bin zwar kein Vielflieger mit Platinstatus, privat und beruflich aber oft unterwegs. Ins Flugzeug steige ich zwei bis drei Mal im Jahr, oft für Langstrecken. Mein CO2-Fußabdruck gehört nicht dem bewussten Menschen, für den ich mich halte. Um mein Handeln mit meinem Selbstbild in Einklang bringen, müsste ich aufhören zu fliegen. Kann mir Zugstolz dabei helfen?
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