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Trotz ESC und Europaspielen: Aserbaidschan rückt von Europa ab - Rhein-Zeitung

Aserbaidschans Hauptstadt Baku: Eine schillernde, moderne Metropole. Ist das Land reif für Demokratie und für Europa?

Mit „Euphoria" sang sich die Schwedin Loreen vor drei Jahren in die Herzen des Publikums beim Eurovision Song Contest. Ausrichter der Show war Aserbaidschan. Viele europäische Bürger werden wohl zu dem Zeitpunkt das erste Mal auf das Land am Kaspischen Meer aufmerksam geworden sein. Gehört Aserbaidschan überhaupt noch zu Europa - oder ist es bereits Asien? Wo verorten sich die Bürger?
Von unserer Reporterin Agatha Mazur

Wir sind in Baku, der Hauptstadt, die zwei Millionen Einwohner beherbergt. Große Kräne ziehen Gebäudekomplexe in die Höhe, überall wird gebaut und gewerkelt. Die Atmosphäre ist emsig, lebendig. In der lauen Abendluft sind die Straßen voller Menschen.

Fern der Innenstadt arbeiten junge Artisten im Atelier der Künstlerorganisation Yarat. Farbpaletten stehen herum, Bilder stapeln sich. Wer offensiv nach der Beziehung zu Europa fragt, erhält nur schüchterne Antworten. Überschwänglich reagiert keiner, die meisten denken einige Sekunden nach oder antworten recht vage. "Es hängt von der Generation ab", sagt Orkhan Huseynov. Der 37-Jährige hat seine Kindheit noch zu Sowjetzeiten verbracht. Als "Eastern Europe" würde er Aserbaidschan beschreiben. Einige Leute möchten sich zu Europa zugehörig fühlen, andere nicht, sagt er.

EU ist nicht das Topthema

Und die Europäische Union? Ist sie präsent im Land des Feuers, könnten sich die Aserbaidschaner vorstellen, eines Tages beizutreten? "The European Union is not topic number one - die EU ist nicht Thema Nummer eins", antwortet Huseynov. Man sieht: Eurovision Song Contest und Europaspiele machen aus den Aserbaidschanern keine überzeugten Europäer. Doch die Europaspiele im Juni haben dennoch einiges verändert: Es gab eine lange Liste an Freiwilligen, die mithelfen wollten, erzählt Ellen Kapanadze. Die 24-Jährige ist gebürtige Georgierin und erst dieses Jahr nach Baku gezogen. Die Spiele hätten viele Menschen mitgerissen, man war stolz auf die Veranstaltung. "Europa assoziiert man mit Moderne und Fortschritt - deshalb möchte sich die ganze Region mit Europa assoziieren", resümiert die studierte Kunsthistorikerin und bezieht ihre Heimat mit ein.

"We're inbetween - wir sind dazwischen", fasst es Künstler Farid Rasulov zusammen. Der 30-jährige Aserbaidschaner betont die Bedeutung der Nachbarländer: "Einige sind Richtung Türkei orientiert, andere wiederum nach Russland." Inbetween, dazwischen: zwischen West und Ost, zwischen Europa und Russland, zwischen allen Stühlen. Und dennoch oder gerade deswegen machen sie ihr eigenes Ding. Was einer Annäherung zu Europa im Wege steht, ist vor allem die Politik des Autokraten Ilham Aliyev, des amtierenden Präsidenten. Journalisten werden in Schauprozessen verurteilt, an die 80 Vertreter von zivilgesellschaftlichen Gruppen sitzen zurzeit im Gefängnis: Menschenrechtsverletzungen sind in Aserbaidschan an der Tagesordnung.

Pressefreiheit ist ein Fremdwort

Auf der Liste von "Reporter ohne Grenzen" belegt das Land Platz 162 von 180 - Tendenz sinkend. Dahinter folgen nur noch Länder wie China, Sudan oder Eritrea. Kürzlich wurde die regimekritische Journalistin Khadija Ismayilova zu mehr als sieben Jahren Haft verurteilt - angeblich wegen Steuerbetrug.

Bloggerin Arzu Geybulla hat selbst erlebt, was es bedeutet, die Regierung zu kritisieren. Die junge Journalistin aus Baku wurde eingeschüchtert, man versuchte, sie zu diffamieren. Sie berichtet von Kollegen, deren Familienmitglieder ihre Jobs verloren haben. "Es gibt keine Pressefreiheit in Aserbaidschan", ist sie überzeugt. Mittlerweile lebt sie in der Türkei. Nach Hause nach Baku traut sie sich nicht mehr. Auch sie hat Angst, im Gefängnis zu landen, wie die inhaftierte Khadija Ismayilova.

Doch Arzu Geybulla gibt nicht auf, sie glaubt, auch von außerhalb etwas für ihre inhaftierte Kollegin bewegen zu können: "Ich versuche, ihre Geschichte zu erzählen und die von so vielen anderen Aserbaidschanern, die keine eigene Stimme haben."

Was ihre Beziehung zu Europa angeht, provoziert die Bloggerin gern: "Die meisten Aserbaidschaner wissen doch nicht, was Europa überhaupt ist." Für jüngere, gut ausgebildete Leute bedeutet Europa eine Gelegenheit für gute Bildung oder Spaß: "Wer es sich leisten kann, reist nach Europa und geht aus. Solche Menschen meinen gern, ein Teil von Europa zu sein. Doch wer sich nicht mal ein Kilogramm Fleisch leisten kann, wird sich keine Gedanken machen, wo das Land hingehört."

EU: Vorbild und Mahnmal zugleich

Europa als Vorbild - hier ist Arzu Geybulla hin und hergerissen. Auf der einen Seite gibt Europa zurzeit kein gutes Bild in der Flüchtlingskrise ab: "Die Europäische Union sieht zurzeit sehr schwach aus, als eine Institution, die nicht fähig ist, ihre Politik an die Ereignisse anzupassen." Auf der anderen Seite hat Europa etwas geschafft, was sich die Bloggerin auch für ihr Land wünscht: "Wenn die aserbaidschanische Regierung näher an Europa rücken wollte, würde sie Reformen nach europäischem Vorbild durchführen, die Korruption loswerden und die medizinische Versorgung verbessern."

Stattdessen präsentiert sich Aserbaidschan mit großen Veranstaltungen wie den Europaspielen. Demnächst sollen auch Formel-1-Autos durch Bakus Straßen rasen. "Baku richtet solche Großveranstaltungen nicht aus, um näher an Europa zu sein", sagt Geybulla. Die Regierung möchte sich ihrer Meinung nach lediglich präsentieren. Die Bloggerin kritisiert, dass die Veranstaltungen viel Geld kosten. Ihr Fazit: "Wir sind am Rande einer finanziellen Krise, aber keiner möchte darüber sprechen."

Am 1. November finden Parlamentswahlen statt. Weder kritische Journalisten noch Wissenschaftler rechnen mit freien Wahlen. Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), die die Organisation und den Ablauf von Wahlen beobachtet, hat ihre Teilnahme abgesagt: Die Regierung in Baku wollte die Zahl der Wahlbeobachter nicht akzeptieren.

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