Der Pilgerrausch ist vorbei? Von wegen! Unsere Reporterin Agatha Mazur hat sich auf den Weg gemacht. Zwei Tage lang ist sie von Mayen nach Koblenz gepilgert. Ihre Erfahrung: Manchmal ist es ein Segen, die Schuhe zu schnüren, alles zurückzulassen und loszugehen.
Reinhold ist mein Retter. Verschwitzt und abgekämpft stehe ich an einer Landstraße. Wo genau ich bin, weiß ich nicht. Ein paar Hundert Meter neben mir brausen die Autos auf der A 48. Fast sechs Stunden bin ich durchs Maifeld gelaufen, jetzt weiß ich nicht mehr weiter. Meine Füße quengeln nach Rast, und meine sonnenverbrannte Haut möchte sich in einer dunklen Höhle verkriechen. Ich brauche eine Pause und ein Zimmer für die Nacht. Doch alle meine Versuche, mir eins zu organisieren, scheitern. Mein Retter heißt Reinhold.
"Geh doch mal pilgern!" Als mein Chef mit dieser Idee um die Ecke kam, war ich zuerst skeptisch. Ich wandere sehr gern und bin auch christlich aufgewachsen - eigentlich gute Voraussetzungen, möchte man meinen. Aber einen auf Hape Kerkeling machen? Neeee, danke. Das Thema ist doch ausgelutscht. Wer hat denn bitte schön nicht mittlerweile ein Dutzend Hobbypilger im Bekanntenkreis, die sich irgendwann nach Santiago de Compostela aufgemacht haben? Als das Buch über die Erfahrung des deutschen Entertainers auf dem Jakobsweg 2006 herauskam, staunten die Leute noch: Pilgern, wer macht das denn heutzutage? Ist doch voll antiquiert. Doch auf einmal war Pilgern chic. Die Zahl der Spirituellen explodierte förmlich. Ein Erfahrungsbericht jagte den nächsten. Und spätestens seit dem zweiteiligen Historienschinken mit Josefine Preuß, "Die Pilgerin", der Anfang Januar vergangenes Jahr im ZDF lief, wusste man: Wenn das Thema bereits dort angekommen ist, ist es nicht mehr cool.
Doch nachdem mir die Idee einige Tage lang durch den Kopf gegangen war, gefiel sie mir immer mehr. Außerdem war Sommer, und ich musste eh für meinen Urlaub in den bayerischen Alpen trainieren - warum also nicht? Doch kann man das überhaupt Pilgern nennen, wenn ich den Weg "einfach so" laufe, oder muss ich mir jetzt ein religiös-spirituelles Mäntelchen umhängen?
Erster Griff zum Telefon: Diakon Winfried Stadtfeld beruhigt mich. Pilgern ist nicht weniger wert, wenn man sich einfach so auf den Weg macht. "Es ist mindestens genauso viel wert", ist sich der 68-Jährige sicher. Er arbeitet seit 17 Jahren in der Pfarreiengemeinschaft Mayen. Selbst wenn man sagt: Ich gehe einfach mit, weil es mir guttut. Und wer weiß: Vielleicht geht man am Anfang einfach "nur so" los und kommt am Ende als veränderter Mensch an, meint Stadtfeld verschmitzt.
Pilgern ist Tradition
Pilgern hat eine lange Tradition in der Region. Auf dem Weg von Mayen nach Koblenz gingen bereits vor 300 bis 400 Jahren Pilger, erzählt mir der Diakon. Damals, in den Anfängen, pilgerte man, um Gott zu danken, dass man von der Pest verschont worden ist. Seitdem machen sich jedes Jahr am ersten Samstag im September Menschen auf diesen Weg. Mal mehr, mal weniger, aber es gab noch nie ein Jahr, wo keiner gegangen ist, betont Winfried Stadtfeld. Der 68-Jährige geht den Weg immer noch jedes Jahr mit. 2013 wurde die Etappe Mayen-Alzheim nach Koblenz-Metternich eingeweiht, als erster Abschnitt des großen Pilgerwegs von Trier nach Vallendar zum Schönstattheiligtum.
Ein wenig ratlos wirkt mein Rucksack. Braun-pink ist er, mit Geheimtaschen, einem wasserdichten Beutel für Dokumente und einem Schlitz für die Wasserversorgung. Wir sind schon gemeinsam durch Irland gewandert und haben in den Alpen Berge erklommen. Jetzt weiß er nicht, was auf ihn zukommt. Ich ebenso wenig. Ich packe Wechselkleidung ein, Kulturbeutel, auf ein zweites Paar Schuhe verzichte ich, meine Wanderstiefel sind perfekt. Bei der Sonnencreme zögere ich: Ach, es reicht doch, wenn ich mich einmal davor eincreme, so sonnig soll es doch eh nicht werden. Fehleinschätzung, wie sich später herausstellen wird. Zwei Liter Wasser, zwei belegte Brötchen, eine Banane und Nektarinen wandern rein. Das Brot packe ich in eine Tüte, nicht in eine Tupperdose - ganz so, wie es mir Schwester Hanna-Lucia geraten hat.
Schwester Hanna-Lucia von der Schönstatt-Bewegung ist eine von sieben Organisatoren, die für das Errichten eines Pilgernetzwerks zuständig sind. Ganz sanft dringt ihre Stimme aus dem Telefon, ich stelle mir eine warmherzige Frau am anderen Ende der Leitung vor. Das liegt in diesem Fall in Borken in Nordrhein-Westfalen. Die 38-Jährige vom Bodensee ist seit 18 Jahren bei den Schönstätter Marienschwestern und seit drei Jahren in der Schönstatt-Au in der Nähe von Münster. "Es soll ein Netz wie beim Jakobsweg geben", erklärt sie das Projekt. Zentrum: das Urheiligtum von Schönstatt in Vallendar am Rhein. Am 17. Oktober wird eine weitere Etappe von Maria Laach nach Schönstatt offiziell eröffnet, demnächst stehen noch andere Einweihungen wie beim Weg von Fulda nach Schönstatt an. Man muss mit den Kommunen sprechen, Genehmigungen einholen, Markierungen festlegen. Schwester Hanna-Lucias Traum: ein Schönstätter Pilgerweg von ihrem Standort in Borken nach Vallendar.
Die gottesfürchtige Frau ist eine geübte Pilgerin. Mehrmals pro Jahr macht sie sich auf den Weg, meist sind es Tagesrouten. Es kann aber auch schon mal der zweistündige Weg nach Feierabend oder in der Morgenfrühe sein.
"Nicht viel mitnehmen", schärft sie mir ein. Das klingt profan, ist aber wichtig, "man merkt jedes Gramm", sagt sie und erzählt: Bei ihrer ersten Pilgerreise hat sie sich ein Butterbrot in einer Tupperdose mitgenommen. "Aber die wird ja nicht kleiner", seufzt die 38-Jährige. Danach hat sie ihr Brot immer in eine Tüte gewickelt.
Gut gerüstet
Dieser Fehler wird mir nicht passieren! Gut gerüstet parke ich an der Kirche in Mayen. Und schon die erste Sorge: Finde ich den Weg überhaupt? Zu Hause habe ich Google-Maps-Ausschnitte ausgedruckt, mir Notfallnummern aufgeschrieben. Es könnte ja sein, dass ich den Weg nicht finde und ich mich durch die Wildnis von Rheinland-Pfalz schlagen muss. Oder nachher hat mein Handy keinen Empfang ...! Aber dann stocke ich: Beim Pilgern zu telefonieren, das passt doch auch nicht. Ich beschließe, mein Smartphone nicht zu nutzen. Fehleinschätzung Nummer zwei, ohne geht es einfach nicht.
Meine Befürchtungen sind unbegründet: Der Weg ist perfekt ausgeschildert, bis auf zwei Stellen. An einer werde ich sechs Stunden später verzweifelt stehen. Doch zunächst geht es von der Kirche in Mayen-Alzheim durchs Dorf. Die ersten Schritte sind beschwingt, Euphorie packt mich. Ich laufe vorbei an mit Katzenbildern dekorierten Fenstern, ein Hof lädt mich zum Eierkaufen ein. Es geht aufs freie Feld. Am Allenzer Heiligenhäuschen mache ich meine erste Rast.
Die Kapelle wurde um 1800 von Familie Geisbüsch errichtet, klärt mich ein Schild auf. Heute hält das Ehepaar Reuter aus Mendig sie instand. War das Kapellchen ursprünglich dem heiligen Antonius gewidmet, wird heute Maria verehrt. Im Inneren ist es dunkel, an den Wänden hängen Bilder: Johannes Paul II., Benedikt XVI. und Franziskus lächeln auf mich herab. Ein Strauß Plastikrosen bringt Farbe hinein, zwei Bänke mit Kissen laden zum Innehalten ein. Auf einer Kanzel ein Schulheft: Hier können sich Besucher verewigen. "Liebe Tante E., ich hoffe, dass es dir gut geht, wo du bist und dass du auch meine Mutter wiedersiehst", lese ich. Jemand bittet Maria um Hilfe bei einer Prüfung und um Beistand für den Sohn, der vor schwierigen Verhandlungen steht. Ein Reisender schreibt: "Bei meiner Fußreise von Roermond ins Allgäu kam ich an dieser schönen Kapelle des Nachts um 1 Uhr vorbei und spürte Demut. Danke." Auch ich hinterlasse einen Gedanken und setze meinen Weg fort. Die Sonne kommt raus. Ein gutes Zeichen.
Pilgern heißt: "Ich gehe ganz bewusst", hatte mir Diakon Winfried Stadtfeld erklärt. Man soll den Pilgerweg wie ein Stück Lebensweg gehen. Die Pilgerreise kann helfen, wieder aufmerksam zu werden. "Manchmal sehen die Leute vor Verbitterung das Gänseblümchen am Wegesrand nicht und während des Pilgerns entdecken sie auf einmal eine herrliche Rose", hat Stadtfeld schon erlebt.
Es gibt verschiedene Arten zu pilgern: "Manchmal tut es gut, allein zu sein." Manchen hilft es eher, in der Gruppe zu gehen. Es ist tröstlich zu sehen, dass man nicht allein mit seinem Problem ist. Gerade seit der Pilgerwelle um Hape Kerkeling müsse man allerdings eher von Pilgertourismus sprechen, meint der Diakon von Mayen-Alzheim. Das Pilgern von heute hat häufig nichts mehr mit dem religiösen Akt von früher zu tun, als man Gnade und Hilfe erfahren wollte. Winfried Stadtfelds Fazit: "Pilgern ist nicht lustig, aber schön."
Das merke ich nach einigen Stunden: Statt des angesagten Gewitters scheint die Sonne, die Anfangseuphorie ist einem Trott gewichen. Ich laufe an wogenden Getreidefeldern vorbei. Langsam verlasse ich die Vordereifel. Ich hocke mich ins Feld und mache etwas Pause. Die Banane muss dran glauben. Doch ich hätte mir lieber kein Haferfeld zum Rasten ausgesucht: Einzelne Fragmente der Halme bleiben an meiner Hose kleben und piksen mich noch Stunden später. So kann ich mir die Erbsen schenken, die Pilger früher als Buße in ihre Schuhe gelegt haben. Das ist noch schlimmer!
Ich merke, dass ich seit vier Stunden mit keiner Menschenseele gesprochen habe. Rekord. Als Journalistin ist man das nicht gewohnt. Ich werde unruhig, es schüttelt mich und fängt an zu kribbeln. Ich muss unbedingt mit jemandem reden. Da! Eine Radfahrerin. Die schnappe ich mir. So treffe ich Sabine Cardinahl.
Die 48-Jährige ist auf ihrem Fahrrad unterwegs und macht gerade eine Pause. Eine türkisfarbene Decke hat sie auf der Wiese ausgebreitet. Ob ich noch Wasser brauche, fragt sie besorgt. Danke, ich habe noch genug, aber gut zu wissen, dass es genug freundliche Menschen wie Sabine Cardinahl gibt, die mich bei der Hitze nicht verdursten lassen. Die Frau mit den blonden Haaren hat eine Woche Urlaub und nutzt das gute Wetter: "Da muss ich doch was machen."
Zwiegespräche mit mir selbst
Tagestouren auf dem Drahtesel runter zur Mosel oder nach Koblenz, Wandern auf den Traumpfaden. Ursprünglich aus Nordrhein-Westfalen, schlägt sie langsam in Rheinland-Pfalz, genauer gesagt in Mertloch, Wurzeln. Ihre zwei Schwestern wohnen noch im Nachbarbundesland, gemeinsam unternehmen sie einmal im Jahr eine Reise. Dieses Jahr haben sie eine Tour in die Vogesen gemacht, aber auch den Malerweg an der Elbe sind die drei Schwestern bereits gelaufen. Man sieht an Sabine Cardinahls Ausrüstung, dass sie viel unterwegs ist. Funktions-Shirt, Sportrad, Satteltaschen. Sie muss weiter, für sie geht es nach Ochtendung, ich biege ab in Richtung Wolken.
Wieder allein unterwegs. Die Stille ist lauter als zuvor. Ein Zwiegespräch mit mir selbst? Lieber die Gedanken einfach schweifen lassen. So laufe ich vorbei an Wiesen, Feldern, noch mehr Wiesen. Meine ach so tollen Wanderschuhe drücken, ich habe Sonnenbrand und Hunger. Als ich nahe der Auffahrt Ochtendung zur A 48 die Spur verliere, bin ich kurz vorm Aufgeben. Für heute reicht es, ich werde mir nun eine Bleibe suchen.
Auch wenn man sich beim Pilgern vertrauensvoll in Gottes Hände begeben soll, habe ich mir Hilfszettel gemacht und im Vorfeld die Nummern von einigen Unterkünften herausgesucht. Um dem lieben Gott die Arbeit ein bisschen zu erleichtern. Doch nun schlägt das Schicksal zurück: Bei den Gasthäusern, deren Nummern ich mir herausgesucht habe, geht keiner ran. Im Umkreis gibt es nicht viele. Soll ich ernsthaft mit dem Taxi nach Ochtendung und mir dort ein Hotel suchen? Mega uncool und einer richtigen Pilgerin nicht würdig. Der liebe Gott möge mir bei meiner Herbergssuche doch bitte einen Wink geben, denke ich und konsultiere mein Smartphone. Nur ein Treffer: Mein Handy zeigt mir - einen Privatklub für Schwule in der Nähe an. Ah.
Es ist Reinholds Klub. Warum nicht, denke ich und rufe ihn an. Er ist meine letzte Rettung: "Nehmt ihr auch Frauen auf?" Man hört, wie sich Reinhold durchs Telefon hindurch vor Lachen schüttelt, eine Welle an Frohsinn rauscht durch die Leitung. "Wir sind komplett belegt", antwortet er mir und bleibt galant eine Antwort schuldig. Aber er verspricht, mich abzuholen und zu einem befreundeten Gasthaus zu bringen.
Reinhold Wierschem kann man nicht überhören: Huup huup, kommt er in seinem silbernen Golf angebraust. Die Tür geht auf, und er begrüßt mich. Erster Eindruck: Rotes T-Shirt, weiße Hose, ein kleines Wohlstandsbäuchlein. Rein ins Auto. "Wir lassen keinen stehen", sprach's, und schon sind wir mitten in einer Diskussion über Toleranz und Schwul-sein-auf-dem-Land. Früher war Reinhold Landwirt, nun leitet er gemeinsam mit seinem Partner einen Privatklub im Maifeld. Vor 22 Jahren hat er sich geoutet und lebt jetzt glücklich mit Manfred Weber zusammen, man lernte sich bei Ferkelzucht und Mastbetrieb kennen.
Seitdem ist viel passiert: "Die Zeit hat sich kolossal geändert", staunt er. Was er denn von der aktuellen Diskussion um die Homo-Ehe hält, möchte ich wissen. "Schon toll", sagt er, zögert aber ein kleines bisschen, man weiß nicht, ob man das überspannen sollte mit den Forderungen, fügt er hinzu. Und wie ist es so auf dem Land? "Das Dorf tratscht immer", sagt Reinhold und lacht. Was Liebe und Beziehung angeht, macht man dem gebürtigen Roeser nichts vor, er war bereits verheiratet und hat zwei Kinder. Mittlerweile auch Enkelkinder. Sein genaues Alter verraten möchte er dann aber doch nicht. Ach ja, sind wir ein wenig eitel? "Im Rentenalter", verrät er mir.
Im Gasthaus Zur Post in Dreckenach setze ich mich erst mal in den Biergarten, mein Bauch fordert seinen Anteil am Erfolg. Peter Ackermann leistet mir beim Essen im gestreiften Hemd und Hosenträgern Gesellschaft. Sein Vater hat das Gasthaus 1919 gegründet und versuchte, auf diese Weise etwas dazuzuverdienen, um seine kleinen acht hungrigen Mäuler zu stopfen. Peter war der jüngste, jetzt hat er 87 Jahre auf dem Buckel und hat die Entwicklungen im Ort immer verfolgt: "Früher gab es hier vier Wirtschaften, heute nur eine", sagt er. Die Kegelbahnen sind quasi überflüssig. Ja, es hat sich eindeutig was verändert.
Im Gasthof gab es damals den einzigen Fernseher im Umkreis. 1954 versammelten sich in der Stube alle Leute, die das Finalspiel der Fußballweltmeisterschaft sehen wollten. Ein kleines Problem gab es dann noch: Peter Ackermann wollte genau an diesem Tag heiraten. "Wir wussten ja nicht, dass die Fußballer so weit kommen würden", meint Ackermann schmunzelnd. Und dann führte er seine Braut aus der Kirche und staunte nicht schlecht: An die 150 Fußballfans sitzen gespannt vor dem Kasten im Gasthof. Der Fernseher muss raus, beschloss Ackermann, der den schönsten Tag seines Lebens mit der Königin seines Herzens, nicht aber mit König Fußball teilen wollte. So machte er dem Techniker die Hölle heiß, dass der den Fernseher in den benachbarten Saal hinüberschaffte: Die Hochzeitsfeier war gerettet.
Nach dem Essen verziehe ich mich aufs Zimmer. Um 21 Uhr liege ich bereits im Bett. Im Innenhof brummt die Kühlanlage, aus der Küche dringen Geräusche hoch und lullen mich ein. Teller klappern, Besteck klirrt. Oh, das ist gut, das schreibe ich mir noch auf. Schlaftrunken taste ich nach meinem Notizblock, den ich mir wohlweislich aufs Nachtschränkchen gelegt habe. Kritzelkritzel ... Der Stift gleitet aus meiner Hand. Ich schlafe ein.
Tag zwei: Es ist 9 Uhr morgens, und ich bin wieder unterwegs. Ich beschließe, bei Reinhold vorbeizuschauen und mich bei ihm zu bedanken. Der Achterspannerhof liegt auf dem Weg. Klingeling: Sven macht auf und bittet mich hinein. Und da ist er auch schon: "Die Reporterin", ruft Reinhold aus. Ich schüttele auch seinem Partner Manfred die Hand. Der 74-Jährige hat den Achterspannerhof geerbt - ein ehemaliger landwirtschaftlicher Betrieb mit Geschichte: Bereits um 1300 soll das Anwesen erwähnt worden sein. Manfred kramt einen Artikel aus dem Jahr 1976 heraus. Die Rhein-Zeitung porträtiert die Landwirtfamilie: "Der Betrieb floriert auf dem Hof. Fleißige, zuversichtliche Menschen bewirtschaften ihn."
Manfred hat den Bericht aufgehoben, ein wenig wehmütig vielleicht. Ganz vergilbt ist das Papier mittlerweile und hat eingerissene Ecken: "Es ist eine Erinnerung und zeigt, wie schnell sich vieles verändert." Fast 40 Jahre später: statt Schweinezucht nun Privatklub.
Für einen Kaffee muss immer Zeit sein, ich mache es mir in Reinholds und Manfreds Küche gemütlich: gelbe Fliesen, Fotos an der Wand und bäuerliche Einrichtung. Durch die offene Terrassentür erhasche ich einen Blick auf den großen Garten, Blumen. Die kleinen Bananenstauden sind ein Geschenk von einem Gast, erzählt Reinhold. Er wuselt in der Zwischenzeit herum, macht sauber, gibt Anweisungen. Am Samstag soll gegrillt werden, die Wettervorhersage lässt nichts Gutes befürchten. Reinhold ist gerade dabei, sich als Handwerker zu versuchen und eine alte Glocke zu reparieren, irgendetwas ist kaputtgegangen.
Dann erinnert er sich daran, dass ich pilgere: "Soll ich dir unsere Kapelle zeigen?" Es geht einmal ums Haus herum, und schon stehen wir vor der Hofkapelle, von den Dimensionen eher eine kleine Kirche. 1868 spendete Manfreds Urgroßmutter den Gläubigen das Gotteshaus. Für die Öffentlichkeit ist die Kapelle geschlossen, aber wenn einer der Gäste Ruhe finden möchte, darf er sich gern reinsetzen, sagt Reinhold. Ich beschließe, mich weiter auf den Weg zu machen, und höre ihn noch von drinnen rufen: "Manfred, jetzt ist die Glocke ganz abgebrochen."
Es geht durch Wolken, ein ruhiges Örtchen. Die freiwillige Feuerwehr residiert in einem Haus, das auch den Sieben Zwergen gut gestanden hätte, es gibt einen Italiener, eine Gaststube, eine Metzgerei. Vor der Kirche steht Monika Nuszkowski, braune Haare, gestreiftes T-Shirt, und hält einen Plausch mit dem Nachbarn. Sie schließt mir die Kirche auf. Die "Herrin des Schlüssels" nennt sie der Nachbar neckisch. Monika Nuszkowski mag den Titel nicht so gern. Ihre freiwillige Arbeit aber schon: Morgens schließt sie das Gotteshaus auf, abends wieder zu. Dass Besucher kommen, merkt sie daran, dass viele Kerzen angezündet werden. Die Leute bedanken sich auch, dass die Kirche offen für jedermann ist, erzählt sie zufrieden.
Und auf einmal bin ich angekommen
Nach Wolken biege ich ab aufs freie Feld. Eine kurze Rast, so lange, wie die Bremsen mich in Ruhe lassen. Ein ganzer Schwarm folgt mir hartnäckig. Wird Zeit für die nächste Dusche. Flugzeuge kreisen über mir, Winningen mit seinem Flugplatz ist nicht mehr weit.
Nach dem Asphalt beginnt die Freiheit - so lautet ein Werbespruch. "Aber er stimmt!", hatte mir Schwester Hanna-Lucia erzählt. Das sei das Schöne am Pilgern: In seinem eigenen Rhythmus laufen, "ich brauche niemandem hinterherzurennen." Die Schwester bedauert, dass wir so oft verplant sind, dass man sich nicht mehr führen lässt. Das lerne ich nun: Von Markierung zu Markierung hangele ich mich, keine Ahnung, wo ich gerade bin, einfach laufen und darauf vertrauen, dass das nächste Schild schon kommen wird. Irgendwann sind meine Augen geübt darin, die kleinen Pilgerwegmarkierungen zu entdecken. Bei jeder Gabelung, jedem markanten Punkt scanne ich die Umgebung, bis meine Augen an dem blauen Zeichen haften bleiben.
Ich laufe nun bereits den zweiten Tag, doch pilgere ich auch wirklich? Beten tue ich nicht, auch wenn es gutgetan hat, in der Stille der Wolkener Kirche zu verweilen. Denke ich über mein Leben nach? Eine Frage, die tatsächlich nicht einfach zu beantworten ist. Es ist mehr ein Gedankenfluss. Ich lasse jeden Gedanken zu, dränge keinen weg. So gleichen meine Gedanken mal ungestümen Pferden, die über die Prärie galoppieren, mal einem Kaninchen, das sich in seinem Bau verkriecht. Dann wiederum sind sie wie ein Kreisel, der sich unentwegt um sich selbst dreht.
In der Ferne sehe ich den Kühlturm des alten Atomkraftwerks in Mülheim-Kärlich, fünf Kilometer bis zu meinem Ziel Koblenz-Metternich, verheißt mir das nächste Schild. Kräfte mobilisieren. Lustlos trotte ich durch ein Industriegebiet. Irgendwann schließt sich ein Wohngebiet an.
Und dann, ganz unverhofft, entdecke ich plötzlich ein Schild. Fast wäre ich daran vorbeigelaufen. Mit weißer Schrift auf grünem Hintergrund hätte es auch ein Verkehrsschild sein können. Doch es sagt mir, dass ich am Ziel bin: "Schönstattkapelle" steht darauf. Die Flaggen in Blau-Weiß-Gelb markieren den Eintritt. Ein wenig unschlüssig drücke ich mich vor dem Tor herum. Ich hatte mir keine Gedanken gemacht, was ich mache, wenn ich ankomme. Ich bin tatsächlich überrumpelt. So schnell hatte ich gar nicht damit gerechnet. Von euphorischen Wallungen oder beseelten Empfindungen keine Spur. Mehr ein "Na, bin ich jetzt halt da." Ich gehe hinein.
Im Park der Schönstätter Marienschwestern laden bekieste Wege zum Flanieren ein. Statuen, Blumen, gepflegter Rasen. Es herrscht absolute Ruhe. In der Kapelle brennen Kerzen, lila Orchideen schmücken den aus dunklem Holz geschnitzten Altar. Eine Schwester kniet sich gerade auf ein Bänkchen. Ob ich eintreten darf? "Gott freut sich", sagt sie und versinkt im Gebet.
Im Haus der Schönstätter empfängt mich Schwester Thereslore. Eine zarte Person, aber hinter dem Brillengestell schauen mich wache Augen an. Schwester Thereslore ist die Wallfahrtsschwester, sie begrüßt die Pilger, die hier in Metternich ankommen. Mit Herzblut und echter Begeisterung erzählt die 82-Jährige von ihrer Begegnung mit Schwester Emilie Engel, die 1926 die Metternicher Filiale gegründet hat und 1955 gestorben ist. Ein Jahr zuvor durfte die junge Schwester Thereslore die Mitschwester noch kennenlernen. Ist sie ein Vorbild? "Oh ja!", sagt Schwester Thereslore mit einem Nachdruck, der keinen Zweifel zulässt. Sie erzählt aus dem Leben von Schwester Emilie Engel und überhaupt, was das Leben der Schönstätter Marienschwestern ausmacht: Früher hätten die Menschen ein falsches Gottesbild gehabt, sagt Schwester Thereslore. Der strenge Richter statt des liebenden Vaters. Heute würden viele Menschen, genau wie die Gründerin des Metternicher Standorts, an Depression und Angst leiden: "Die Leute haben keinen Halt mehr und keine Sicherheit."
Es wird Zeit für mich zu gehen. Ich lasse mich nach Mayen fahren und hole mein Auto ab, das treu auf mich gewartet hat. Ich fahre den Weg zurück, und von der Autobahn aus halte ich Ausschau nach Wegpunkten. Da! Tatsächlich erkenne ich von Weitem den Sportplatz in der Nähe von Polch, an dem ich gestern vorbeimarschiert bin. Zwei Tage habe ich für die Strecke zwischen Mayen und Koblenz gebraucht, jetzt brause ich auf der Autobahn in nicht mal einer halben Stunde vorbei. Die Felder, an denen ich stundenlang vorbeimarschiert bin - jedes einzelne ein Unikat -, ziehen nur so an mir vorbei und verschwimmen zu einem gelben Brei. Ich bin wieder zurück. Willkommen in der normalen Welt.
Innerhalb der zwei Tage lernte ich, dass es guttut, sich auf die einfachen Dinge zu besinnen. So oft frisst einen der Alltag auf: E-Mails und Anrufe warten darauf, schnellstmöglich beantwortet und entgegengenommen zu werden. Ständig muss man sich auf dem Laufenden halten. Die Welt rast - und wir rasen mit. Einmal bewusst dieses Hamsterrad verlassen, diese "Immer-auf-dem-neuesten-Stand-sein-müssen"-Blase genüsslich mit einer spitzen Nadel platzen zu lassen, das tut gut. Eigentlich müssten wir alle uns häufiger aus dem Alltag davonstehlen: Stiefel anziehen und einfach loslaufen.
AGATHA MAZUR