Die von den Brüdern Grimm gesammelten Märchen dienten zunächst als Material für ihre Forschung. Doch es kam anders - sie wurden vor allem zur Kinderlektüre. Die Erfolgsgeschichte hält bis heute an.
Mit "Grimms Welten" werden inzwischen in Kassel die Brüder Jacob und Wilhelm Grimm geehrt. Den Besuchern soll Leben und Werk der berühmten Volkskundler und Sprachwissenschaftler nähergebracht werden.
Ein Schwerpunkt sind die Märchen, die von den Brüdern Grimm in Kassel und Umgebung gesammelt wurden. Für die Verfasser einer Deutschen Grammatik und des Deutschen Wörterbuchs waren die Märchen zunächst Material für die Forschung. Doch es kam anders. Schneewittchen, Frau Holle und Co. wurden vor allem zur Kinderlektüre. Eine literarische Erfolgsgeschichte, die bis heute anhält.
Die Märchen werden von zeitgenössischen Schriftstellern zitiert, neu interpretiert und manchmal auch umgeschrieben. Oft steckt eine pädagogische Absicht dahinter.
Manuskript zur Sendung:
Sprecher: Gerd Grasse und Max von Pufendorf
Musik:
Gustav Mahler. 1. Symphonie. „Ging des Morgens übers Feld …“
Take 1: (Felicitas Hoppe)
„Ich glaube ja, dass in so einem kurzen Märchen über zwei, drei Seiten so ein gigantischer Kosmos enthalten ist, der manchmal über einen 800-Seiten-Roman hinausgeht.“
Sprecher:
Die Schriftstellerin Felicitas Hoppe, 1960 in Hameln geboren, verteidigt leidenschaftlich die Grimmschen Märchen. Kaum jemand hat gründlicher über die Verbindung der Märchen zur Literatur und zum alltäglichen Leben nachgedacht.
Aber nähern wir uns den Grimmschen Märchen zunächst mit einem Gedicht des Schriftstellers Wolfgang Sembdner. Seine Version von "Hänsel und Gretel" folgt dem Alphabeth.
Zitator:
„Armut
Blieb
Chronisch.
Die Eltern
Führten
Gretel
Hänsel
In
Jenen
Knusperhexenwald.
Lange
Mutterseelenallein.“
Sprecher:
Jenseits der Parodie näherte sich 2010 auch Günter Grass den Grimms über das Alphabeth. Wohl auch deshalb, weil er bei seinem Buch „Grimms Wörter“, an das "Deutsche Wörterbuch" dachte, das Jacob und Wilhelm 1838 auf den Weg gebracht hatten. Erst 1961 konnte "Der Grimm" mit Band 32 beendet werden und wird seitdem laufend ergänzt und korrigiert. Bei einer Lesung von Günter Grass für den Hörfunk beginnt sein erstes Kapitel mnatürlich mit A.
Take 2: (Günter Grass)
„Von A wie Anfang bis Z wie Zettelkram. Wörter von altersher; die abgetan sind oder abseits im Angstrad laufen, und andere, die vorlaut noch immer bei Atem sind."
Musik:
Gustav Mahler. 1. Symphonie. „Ging des Morgens übers Feld …“
Take 3:
„Es waren einmal zwei Brüder, die Jacob und Wilhelm hießen, für unzertrennlich und landesweit als berühmt galten, weshalb sie ihres Nachnamens wegen die Brüder Grimm, Grimmbrüder, auch Gebrüder Grimm, und von manchen Grimms genannt wurden. Selbst nach heutigem Sprachgebrauch, der sich gern mit Anleihen brüstet, sind sie als Grimm Brothers Redensart, und sei‘s nur vom Höhensagen als Märchenonkel, die uns von Allerleirauch und Aschenbrödel erzählen.“
Sprecher:
Seit Anfang September 2015 werden Jacob und Wilhelm Grimm auf dem Kasseler Weinberg mit einem neuen Museum geehrt. Hier sollen die Besucher „Leben und Werk der Brüder Grimm erleben“.
Musikakzent:
Sprecher:
Wer über die Frankfurter Straße in das Zentrum von Kassel fährt, sieht hoch oben auf dem Weinberg das neue Museum „Grimm Welt“, das sich wie eine Akropolis über der Stadt erhebt. Ein Gebäude aus Sandstein, mit begehbarer Dachterrasse, die einen großartigen Blick über die Stadt und die angrenzenden Wälder gewährt. Märchenwälder. Die Heimat von Dornröschen und Schneewittchen. Und auch hier die Frage: Wie nähert man sich Jacob und Wilhelm Grimm? Eine Antwort hat Susanne Völker, Projektleiterin der Kasseler „Grimm Welt“.
Take 4: (Susanne Völker)
„Die Ausstellung ist eine kontextbezogene Ausstellung, die sich an einer glossarischen Struktur orientiert. Also A bis Z, und diese Ausstellungsbereiche haben immer Überschriften, die aus dem Deutschen Wörterbuch der Grimms entlehnt sind. A wie Ärschlein, D wie Dornenhecke zum Beispiel, L wie Lebensläufe und so weiter und so fort. Und innerhalb dieser einzelnen Bereiche sind unterschiedliche Vertiefungen möglich, also da kann man sehr an der Oberfläche bleiben, auf eine spielerische Art und Weise sich das aneignen, oder einfach mal gucken, man kann aber auch sich eine ganze Menge an Wissen, was man vielleicht noch nicht hat, aneignen.“
Musikakzent:
Sprecher:
Jacob Grimm kam 1785 in Hanau zur Welt, sein Bruder Wilhelm folgte ein Jahr später. Nach dem Tod des Vaters haben die beiden Brüder lange in Kassel gelebt, wo sie das Lyzeum besuchten und bis 1829 wohnten, bevor sie in das benachbarte Göttingen zogen. In „Grimms Wörter“ folgt Günter Grass der biografischen Spur.
Take 5: (Günter Grass)
„Ich sehe sie als Doppelgespann lebenslänglich vor den stets überladenen Bücherkarren gespannt. Wie sie in Schweinsleder gebundene Schwarten wälzen, Folianten stapeln, Mythen, Sagen, Legenden, verschollenen Manuskripten auf der Spur sind.
Romantiker, unterwegs ins Biedermeier, die wortvernarrt Wörter glauben, Silben zählen, die Sprache nach ihrem Herkommen befragen, Lautverschiebungen nachschmecken, verdeckten Doppelsinn entblößen, Entschlafenes wachküssen, von altehrwürdigen Sprachdenkmälern den Staub wegwedeln und später als Wortschnüffler um jeden Buchstaben und besonders pingelig um anlautende Vokale besorgt sein werden.“
Sprecher:
Die Märchensammlung der Brüder Grimm sollte zunächst nur der Wissenschaft dienen. Band eins erschien Ende 1812, Band zwei folgt drei Jahre später. 900 Exemplare wurden gedruckt. Bücher, weit entfernt vom Bestseller, Bücher fürs Bibliotheksregal.
Zuvor hatten sich die Romantiker um Märchen gekümmert. Clemens Brentano und Achim von Arnim gaben Anfang des 19. Jahrhunderts die Volksliedsammlung „Des Knaben Wunderhorn“ heraus. Eine wildes Sammelsurium: Bruchstücke aus literarischen Werken, Erzählungen von Freunden, Fabeln, Volks- und Kinderlieder, sowie Liebeslyrik für Erwachsene, Dichtungen für empfindsame Seelen, die sich gern in idyllischen Sphären vergnügten.
Mit dieser Haltung hat Gustav Mahler noch Ende des 19. Jahrhunderts 12 Texte aus „Des Knaben Wunderhorn“ vertont.
Musikbeispiel:
Sprecher:
Gustav Mahler war vom 1. Oktober 1883 an drei Jahre Kapellmeister am Königlichen Schauspiel in Kassel. Er plante eine Rübezahl-Oper, aus der aber nichts wurde, doch am Ufer der Fulda komponiert er die „Lieder eines fahrenden Gesellen“, deren Musik sich auch in seiner ersten Symphonie wiederfindet. Lieder mit eigenen Texten, die dem „Wunderhorn“ nachempfunden sind.
Atmo:
Gustav Mahler. Lieder eines fahrenden Gesellen:„Ging des Morgens übers Feld“ geht in Straßengeräusche über
Sprecher:
Ortswechsel: Die Knallhütte ist eine ehemalige Poststation. Es gibt sie seit 1752. Hier wurden früher die Pferde gewechselt, bevor die Karren und Kutschen Kassel erreichten. Das Gasthaus mit Brauerei liegt heute an einer stark befahrenen Autobahn. Gegenüber breiten sich die enormen Werkshallen von VW Baunatal aus.
Am 8. November 1755 wurde Dorothea Viehmann auf der Knallhütte geboren. Über 40 Märchen hat sie den Brüdern Grimm erzählt. Heute erinnert eine Dorothea-Viehmann-Stube an sie, mit Bildern der Märchenerzählerin und den beiden Grimms. Die Schankstube ist gut besucht.
Take 6: (Finnische Familie)
„Ja schon, haben wir schon gehört. … Hänsel und Gretel. Also kennen wir die Gebrüder Grimm auch in Finnland. 2500 Kilometer sind keine Grenze. Lachen.“
Sprecher:
Die Märchen der Grimms sind weltweit bekannt. Die Grimms haben Dorothea Viehmann als schlichte, nordhessische Landfrau beschrieben. Das ist Unsinn, sagen die Fachleute, die es längt besser wissen. Jacob und Wilhelm Grimm haben den national-pathetischen Mythos in die Welt gesetzt, weil die Märchen auch als Beleg für die deutsche Wesensart dienen sollten.
Dorothea hatte den Schneider Nikolaus Viehmann geheiratet. Susanne Völker, Leiterin der „Grimm Welt“, rückt den Sachverhalt zurecht.
Take 7: (Susanne Völker)
„Sie hatten literarische Quellen also Barteley und Perrot in Frankreich. Und hinzu kommt eine sehr reiche mündliche Überlieferungstradition. Die Grimms hatten insgesamt gut 40 Märchenzuträger, und das waren überwiegend Leute mit französischen Wurzeln. Also zum Beispiel die Töchter der Apothekerfamilie Wild oder die Familie Hassenflug, das waren gebildete Leute. Und die einzige, die sie selber wirklich so richtig publik gemacht haben, war die Dorothea Viehmann, die sie dann echt hessisch gemacht haben, und die anderen Märchenzuträger haben sie eher verschwiegen.“
Sprecher:
Die „Viehmännin“ war eine Nachfahrin jener gebildeten Hugenotten, die aus Frankreich flüchten mussten und nach Kurhessen kamen. Flüchtlinge, ein Thema, sagt Felicitas Hoppe, das sehr viele Märchen prägt.
Take 8: (Felicitas Hoppe)
„Es sind Reisegeschichten, es sind Vertreibungsgeschichten. Wenn wir heute über die Flüchtlinge reden, da muss ich sagen, das klingt so komisch, aber dabei schaut euch die Märchen an: Es geht um Flucht, es geht um Vertreibung. Die Leute reisen nicht, weil sie Spaß daran haben, sondern weil sie keine Wahl haben, sie müssen in den Wald, sie müssen irgendwohin, sie sind Vertriebene. Ja wo habe ich denn die Urzelle dieser menschlichen Not präsenter als im Märchen? Und da kann ich nur sagen, da kann sich jeder realistische Schriftsteller eine Scheibe davon abschneiden und staunen, wie sehr das ignoriert wird und vernachlässigt wird.“
Sprecher:
Märchen sind zumeist international. Sie werden überall auf der Welt in ähnlicher Weise erzählt. Kleinkunst-Künstler Marcus Jeroch zieht seit Jahren mit einer Märchenparodie von Dornröschen durchs Land, die aus der Feder des Dichters Friedhelm Kändler stammt.
Take 9: (Marcus Jeroch)
„Ich bin aufgewachsen in Afrika, in Westafrika. Wir hatten halt immer diese westafrikanischen Märchen bei uns stehen, da ist diese Kultur noch eine andere. Bei diesen Märchen ist das sehr stark mit den Tieren. Da gibt es dann die Spinne und den Ochsen, und da gibt es verschiedene Tiere, die alle für bestimmte Sachen stehen und dass sind dann so bestimmte Lebensweisheiten, die man dann transportiert in so einer Fünf-Minuten-Geschichte.“
Sprecher:
Die Grimmschen Märchen wurden erst ein Erfolg, als sie umgeschrieben wurden. Vor allem Wilhelm Grimm entwickelte literarischen Ehrgeiz, er machte aus eher hölzernen Texten wunderbare Literatur: Grimms Kinder- und Hausmärchen, wie wir sie heute kennen. Susanne Völker erklärt warum.
Take 10: (Susanne Völker)
„Zum einen waren die Märchen in den Urfassungen nicht so richtig jugendfrei. Also was weiß ich, nachdem Rapunzel mehrfach Besuch vom Prinzen hatte, hat die böse Fee da in dem Turm festgestellt, dass Rapunzel ihre Kleider zu eng werden. Oder bei Rotkäppchen kommt der Jäger ursprünglich nicht vor. Rotkäppchen wird vom Wolf gefressen und fertig. Und das ist bei den Brüdern Grimm dann natürlich mit einem guten Ende entsprechend versehen. Wilhelm Grimm hat aber auch sprachlich ganz viel geglättet, dass es gut lesbar ist, dass man es gut erzählen kann.“
Sprecher:
Jetzt sollten die Märchen auch Kinder erreichen. Sexuelle Anspielungen werden entschärft, Moral ersetzt den Skandal, und die handfeste Erotik wird durch Wunder und Zauberei ersetzt.
Take 11: (Familie Wehner)
„Hänschen klein
ging allein
in die weiter Welt hinein
Stock und Hut
stehen ihm gut
ist auch wohlgemut.“
Sprechertext über das Lied
Sprecher:
In den 1960er Jahren stand auf den Bierdeckeln: „Für Väter und Mütter: Knallhütter“. Doch jetzt sitzen Väter und Mütter mit ihrem Nachwuchs in der Brauhausschänke, und die Familie Wehner singt „Hänschen klein“, während am Nachbartisch Kerstin Semmler, die selbst aus Nordhessen kommt, für die Märchen eine Lanze bricht.
Take 12: (Familie Wehner)
„Doch die Mutter
weinet sehr
hat ja nun kein Hänschen
…
Oh, da verließen sie ihn …“
Take 13: (Kerstin Semmler)
„Ich würde schon sagen, das gibt hier der Region einen Charakter. Und es ist auch so ein bisschen verwunschen. Wenn Sie das Dornröschen-Schloss sehen, das ist ganz klar: Da muss Dornröschen drin gelebt haben. Also da gibt‘s überhaupt gar keinen Zweifel. Oder auch dieses Rotkäppchen in der Schwalm, diese alten Trachten haben ja diese kleinen Käppchen, und ich kann das schon nachvollziehen. Also, ich stehe da voll hinter, das muss so gewesen sein. Gemurmel.“
Sprecher:
Die Sababurg als Dornröschen-Schloss ist ein touristisches Highlight entlang der Märchenstraße, die von Hanau bis Bremen führt. Hier sind die meisten Schauplätze fiktiv. Die dunklen Wälder, stolzen Burgen und verwunschene Schlösser haben – wenn überhaupt – nur einen assoziativen Bezug zu den Märchen der Brüder Grimm.
Wer das alles erfunden hat, weiß niemand genau. Kein Forscher widmet sich der Frage. Auch die neue „Grimm-Welt“ in Kassel hält sich zurück, will kein beliebiger Kommerz-Punkt einer Märchenstraße sein, auf der clevere Zeitgenossen Schneewittchen, Rapunzel und Frau Holle vermarkten.
Take 14: (Susanne Völker)
„Was mir noch einfällt, die Satire von Hans Traxler, der eine pseudo-archäologische Ausgrabung gemacht hat, zu dem Hexenhaus von Hänsel und Gretel. Und dort Fragmente von verkohlten Lebkuchen und so weiter ausgegraben hat. Einen richtigen archäologischen Grabungsbericht vorgelegt hat, und bis heute fahren da Leute hin und ärgern sich drüber, weil sie erst dann feststellen, dass sie auf den Arm genommen wurden.“
Musikakzent:
Sprecher:
Manche Märchen wurden so berühmt, dass sie jeder kennt, obwohl viele sie gar nicht gelesen haben. Dornröschen zum Beispiel. Das hat zur Folge, dass es unzählige Parodien und Neufassungen gibt. Jeder weiß, dass es um eine Königstochter geht, die nach 100 Jahren wachgeküsst wird. Das Publikum trifft also auf eine alte Bekannte, wenn Kleinkunst-Künstler Markus Jeroch mit der Dornröschen-Fassung von Friedhelm Kändler auf der Bühne steht.
Take 15: (Marcus Jeroch)
„Grundsätzlich ist Dorn-Röschen einer der Klassiker, weil die Leute das einfach wahnsinnig gerne mögen. D ie Menschen freuen sich, oder sagen wir es andersrum: Es ist auf jeden Fall ja eine Form von Parodie. Also wenn ich da jetzt Dorn-Röschen sage, dann kennt jeder Dornröschen, und dann hat jeder irgendwie eine Vorstellung, und damit kann man dann spielen. Und das ist so eine Form, wie jetzt im Cabaret oder Comedy und so, das funktioniert einfach.“
Sprecher:
Im Laufe der Zeit bekamen Grimms Märchen von ganz unterschiedlichen Seiten viel Anerkennung: Psychoanalytiker wie C. G. Jung sahen archaische Urgestalten am Werk. Zwerge, Prinzessinnen und böse Mütter hat Jung als Archetypen gedeutet. Für Christen waren die Märchen wichtig, weil in ihnen heilige Werte über Jahrhunderte bewahrt werden konnten. Und 1976 behauptete der Pädagoge Bruno Bettelheim schlicht und ergreifend: Kinder brauchen Märchen.
Doch zuvor waren die Märchen in Deutschland in den Strudel nationaler Gefühle geraten, als authentischer Ausdruck einer bodenständigen Wesensart. Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es handfeste Gründe, am guten Charakter der Deutschen zu zweifeln. Das traf auch die Märchen ins Mark, ihr Image sank auf einen historischen Tiefstand. Rumpelstilzchen und Co sollten mit schuld am Nazi-Terror sein.
Musik:
Humperdinck. Hänsel und Gretel: „Juchhei! Nun ist die Hexe tot“
Sprecher:
Die Britten hielten Grimms Märchen für jugendgefährdende Schriften, für bösartige Texte, die die deutsche Neigung zur Grausamkeit befördert hätten. Sie erlaubten keine Nachdrucke und Neuauflagen mehr. Auch die Amerikaner standen mit den Märchen auf Kriegsfuß und ließen Hexen, Zwerge und Königstöchter aus öffentlichen Bibliotheken entfernen.
Das schlechte Image hielt lange vor. Noch in den sechziger und siebziger Jahren sahen progressive Väter und Mütter in den Märchen Teufelszeug, das man dem antiautoritär erzogenen Nachwuchs besser vorenthielt. Verderben Märchen den Charakter? Felicitas Hoppe nimmt die Märchen in Schutz.
Take 16: (Felicitas Hoppe)
„Das habe ich nie verstanden, warum man Kinder vor Gewalt, also vor der Existenz von Gewalt bewahren will. Wir leben ja in einer unglaublich winzigen geschützten, befriedeten Welt. Das ist ja völlig absurd. das ist illusionär, also der Versuch, uns vor diesen Einflüssen zu schützen. Wir können die Gewalt nicht dadurch aus der Welt schaffen, dass wir sie erzählen, aber dass wir einen Umgang mit ihr pflegen können.“
Sprecher:
Das sehen viele Kinderbuchautoren ganz anders. Es gibt unzählige Versuche, die Grimmschen Märchen zu domestizieren und umzuschreiben, damit sie politischen korrekt sind und moralisch einwandfrei.
Felicitas Hoppe hält das in vielen Fällen für überflüssig. Mit viel Empathie blickt sie auf Märchenfiguren, die jenseits von Prinz und Prinzessin landläufig böse sind oder nicht im Mittelpunkt stehen.
Take 17: (Felicitas Hoppe)
„Rumpelstilzchen ist für mich eine betrogene Figur. Und die Lesart entsteht nicht dadurch, dass ich die Märchen umschreibe. Ich könnte jetzt auch sagen, ich schreibe einen Rumpelstilzchen-Roman und dann bausch ich das auf und sage: Ich habe hier eine arme Missgeburt, und der ist allein, und wahrscheinlich ist der hässlich, und der kann auch keine Kinder haben, und der haust dann da im Wald, und dann will er ein Geschäft abschließen und so weiter. Er zieht ja den kürzeren. Nach der Lektüre dieses Märchens habe ich als Kind mir immer versucht vorzustellen, wie das wohl gehen könne, dass sich jemand selbst zerreißt. Und das hat mich unendlich beschäftigt, diese Verzweiflungstat und auch diese Grausamkeit in der Selbstentleibung ist so übertrieben, dass man sofort weiß, das Rumpelstilzchen hat wirklich ein, also ein Problem wäre banal, also das ist ein Abgrund.“
Sprecher:
Kollegen wie der berühmte James Krüss gehen zwar eher spielerisch mit Märchen um. Aber auch hier wird dem Esel von den „Bremer Stadtmusikanten“ viel Empathie zuteil.
Zitator:
„Ein Esel, der nicht tragen kann,
ist unter Menschen übel dran.“
Musikakzent:
Sprecher:
Heute werden Märchen in allen möglichen Formen neu erzählt: Es gibt Musicals, Kinofilme und amerikanische Fernsehserien. Und prominente Schauspieler und Schauspielerinnen leihen Fröschen, Zwergen und Prinzessinnen ihre Stimme.
Aber Märchen wie „Die wunderliche Gasterei“ können Kinder kaum verstehen, weil die Pointe auf einen subtilen psychologischen Zusammenhang zielt. Es geht um die prekäre Freundschaft zwischen einer Blutwurst und einer Leberwurst.
Im Winter 1999 saß der schon sehr alte Bernhard Minetti in einem gemütlichen Ohrensessel auf der sonst leeren Bühne des Berliner Schillertheaters und las – nein eigentlich las er nicht, sondern erzählte – auch dieses Märchen der Brüder Grimm.
Take 18: (Bernhard Minetti)
„Auf eine Zeit lebte eine Blutwurst und eine Leberwurst zusammen, und die Blutwurst bat die Leberwurst zu Gast. Wie es Essenszeit war, ging die Leberwurst ganz vergnügt zu der Blutwurst, als sie aber in die Haustüre trat, sah sie allerlei wunderliche Dinge, auf jeder Stiege der Treppe, deren viele waren, immer etwas anderes, da war ein Besen und eine Schippe, die sich miteinander schlugen, dann ein Affe mit einer großen Wunde am Kopf und dergleichen mehr.
Die Leberwurst war ganz erschrocken und bestürzt darüber, doch nahm sie sich ein Herz, ging in die Stube und wurde von der Blutwurst freundschaftlich empfangen. Die Leberwurst hub an, sich nach den seltsamen Dingen zu erkundigen, die draußen auf der Treppe wären, die Blutwurst tat, als hörte sie mich nicht, oder als wär‘s nicht der Mühe wert davon zu sprechen, oder sie sagte etwa von dem Besen und Schippe: ‚Es wird meine Magd gewesen sein, die auf der Treppe mit jemand geschwätzt‘, und brachte die Rede auf etwas anderes.
Die Blutwurst ging darauf hinaus und sagte, sie müsse in der Küche nach dem Essen sehen, ob alles ordentlich angerichtet werde, und nichts in die Asche geworfen. Wie die Leberwurst derweil in der Stube auf- und abging und immer diese wunderlichen Dinge im Kopf hatte, kam jemand, ich weiß nicht, wer's gewesen ist, herein und sagte: ‚Ich warne dich, Leberwurst, du bist in einer Blut- und Mörderhöhl e, mach dich eilig fort, wenn dir dein Leben lieb ist.‘ Die Leberwurst besann sich nicht lang, schlich zur Tür hinaus und lief, was sie konnte; sie stand auch nicht eher still, bis sie aus dem Haus mitten auf der Straße war. Da blickte sie sich um, und sah die Blutwurst oben im Bodenloch stehen mit einem langen, langen Messer, das blinkte, als wär's frisch gewetzt, und damit drohte sie, und rief herab: ‚Hätt' ich dich, so wollt ich dich!‘“
Zitator:
„Eine Schauergeschichte von Verrat, Hinterhalt, falscher Freundschaft, Heimtücke und glücklicher Flucht im letzten Augenblick. Ein schrecklicher Fall von versuchtem Kannibalismus unter jenen wohlbekannten Würsten.“
Sprecher:
Wer glaubt, Blut- und Leberwürste seien kein respektables Personal für Märchen, sollte auf Hubert Spiegel hören, Kritiker der FAZ.
Zitator:
„Vor allem aber erzählte das Märchen vom geheimen Eigenleben der Dingwelt, das viel interessanter schien als die Traumwelt von Prinzen und Prinzessinnen. Dass Dornröschen nach hundertjährigem Schlaf frisch und fröhlich erwacht, ist weit unglaubwürdiger, als dass eine Blutwurst zum frisch gewetzten Messer greift.“
Sprecher:
Wie glaubwürdig sind Märchen? Sehr, sagt die Schriftstellerin Felicitas Hoppe. Sie hat weder ein pädagogisches noch ein ironisches Verhältnis zu Märchen. Sie nimmt Märchen einfach nur ernst.
Take 19: (Felicitas Hoppe)
„Ich glaube ja, dass die Welt der Phantasie und die Wunschwelt sozusagen lebendiger Teil unserer realen Welt sind. Und das entspricht einer realen Erfahrung, wenn ich Menschen begegne, merke, dass sie parallel immer in ganz vielen verschiedenen Räumen unterwegs sind. Ja, jeder Mensch hat seine Wünsche, er hat seine Tagträume, er denkt sich Alternativen zu seinem Leben aus. Das ist Realität, sich Geschichten zu erzählen ist etwas hochgradig Realistisches, und das betrifft auch das Märchen. Alles, was erzählt wird, hat mit dieser einen Welt, in der wir leben, zu tun. Davon bin ich überzeugt.“
Sprecher:
Wer Märchen wörtlich nimmt, landet schnell bei skurrilen und komischen Szenen. Einen Klassiker hat Anfang der 90er Jahre der Politologe Iring Fetscher geschrieben: „Wer hat Dornröschen wachgeküsst?“ „Ein Märchenverwirrbuch“ heißt es im Untertitel.
Zunächst wird das Grimmsche Original vorgestellt, dann folgt das Verwirrspiel: Das Rotschöpfchen, ein Bruder von Rotkäppchen, ist plötzlich mit dem bösen Wolf befreundet. Die Bremer Stadtmusikanten werden zu Hausbesetzern und die Pech-Marie verweigert sich Herrn Holle, der ihr an die Wäsche will.
Auch die Schriftstellerin Karen Duve gehört zu jenen, die sich den Märchen mit gesundem Menschenverstand nähern. 2012 hat sie ein Buch mit dem wortmalerischen Titel „Grrrimm“ geschrieben. Grimm mit drei R versammelt einige neu interpretierte Märchen.
Musikakzent
Sprecher:
Vor allem Dornröschen wird häufig parodiert. 1932 hat Erich Kästner das Couplet „Die scheintote Prinzessin“ geschrieben. In dem satirischen Lied nimmt er Kaiser Wilhelm aufs Korn, der nach dem Ersten Weltkrieg in das holländische Schloss Doorn flüchten musste. Und Josef Reding dichtete 1974 eine Warnung an alle potentiellen Königstöchter.
Zitator:
„Es kommt kein Prinz, der dich erlöst,
wenn du die Jahre blöd verdöst, …
… Befrei ich selbst vom Dauerschlaf.
sonst bleibst du nur ein armes Schaf.“
Sprecher:
Auch Friedhelm Kändler geht mit Dornröschen schonungslos um. Seine Parodie gehört zum Standardrepertoire des Kleinkunst-Künstlers Marcus Jeroch.
Take 20:
„Mit Küssen, mit kecken
Dornröschen zu wecken
schlich sich Dorn für Dorn
ein Prinz nach vorn
durch einen Rosenwald
‚Dornröschen, halt aus, denn ich komme bald‘
‚Ja!‘ rief
die Maid, die schlief
im Traume tief
‚mich zu erlösen
aus dem bösen
Bann
schöner Mann
komm an‘
Jahre vergingen
Der Sommer kam, der Herbst, er wich
der Winter wieder nahte sich
der Früh-ling
ging
So sehr sich der in Liebe erglühte
Prinz die Dornen zu köpfen bemühte
bemühten sich die durch einer Hexe
bösen Fluch gewachsenen Gewächse
den Weg zu Dornröschen nicht freizugeben
Im Kampf verging des Prinzen Leben
Erstochen, erstickt, resigniert
Und er war nicht der Erste, dem das passiert
Gerippe neben Gerippe lagen
sie alle, die es wagen
wollten, Dornröschen zu befrein
Sieh dort, zwischen
den Rosenbüschen
tote Königssöhne in Scharen
die allesamt gescheitert waren
tot, tot, tot.“
Sprecher:
Während Karen Duve für Realismus plädiert und Friedhelm Kändler dem Märchen mit dadaistischem Schwung zu Leibe rückt, verteidigt Felicitas Hoppe die Realität im Märchen.
Take 21: (Felicitas Hoppe)
„Ich habe mal gesagt, und dahinter gehe ich auch nie wieder zurück, dass für mich die Märchen, so paradox das scheint, die Urzelle realistischer Literatur sind. Und das ist für mich wie ein Brühwürfel. Wenn ich mir die Mehrzahl der Märchen anschaue, sehe ich, dass es sich um Lebenssituationen handelt, die wir kennen, und die immer sozial aufgeladen sind: Es sind Menschen in Not, es sind Menschen, die kein Geld haben, es sind Menschen, die Hunger haben, es sind Ehepaare, die zu viele Kinder haben, die müssen raus in die Welt. Es gibt Ehepaare, die können beim besten Willen keine Kinder bekommen, das ist für mich das Interessanteste, weil wir in einer Zeit leben, die sich ja dermaßen mit dieser Reproduktionsmedizin beschäftigt, dass ich immer lachen muss, weil die Märchen die Urzelle dieser Not sind. Das heißt, sie sind immer Spiegel sozialer Probleme.“
Sprecher:
Die Dichter und die Märchen: Hans Fallada, der eigentlich Rudolf Ditzen hieß, nannte sich nach dem sprechenden Pferd einer Königstocher aus dem Märchen „Die Gänsemagd“. Da ist es nur konsequent, wenn Wolfgang Sembdner in seinem Text „Dichter-Wald“ das Märchen Hänsel und Gretel mit lauter Dichternamen erzählt.
Zitator:
„In einem Eichendorff bei Grimmelshausen im Hofmannsthal, da lebte ein Thomas Mann. Er hatte zwei Wedekinder aber kein Max Brod im Gottfried Keller.“
Sprecher:
Und etwas später wird die Hexe zu Hänsel und Gretel sagen.
Zitator:
„‘Ich werde Euch Lagerlöffeln. Gib mir deine Handke! Sean O’Casey, nicht Dickens genug.‘ Was so Dürrenmatt war ,war aber nicht sein Handke, sondern ein Klopstock.“
Musikakzent:
Gustav Mahler. 1. Symphonie. „Ging des Morgens übers Feld…“
Sprecher:
Viele Schriftsteller und Literaten schätzen Grimms Märchen als wunderbare Literatur. Und weil sie so ambivalent und vielschichtig sind, juckt es ihnen in den Fingern, sie zu verändern und umzuschreiben. Auch Michael Ende konnte es nicht lassen und dichtete „Ein sehr kurzes Märchen“.
Zitator:
„Hänsel und Knödel, die gingen in den Wald.
Nach längerem Getrödel rief Hänsel plötzlich: ‚Halt!‘
Ihr alle kennt die Fabel, des Schicksals dunklen Lauf:
Der Hänsel nahm die Gabel und aß den Knödel auf.“