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Feature

Wenn die Menschen verschwinden

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Die Sendung wurde am 20.12.2010 in der Reihe Zeitfragen im Deutschlandradio Kultur gesendet
Aus urheberrechtlichen Gründen steht der Beitrag ohne Musik im Netz

Sendemanuskript:

Wenn die Menschen verschwinden
In der westdeutschen Provinz veröden ganze Landstriche

Take 1: (Peter Graf Wolff Metternich)
„Im Jahre 49, da wurde morgens unten geläutet, da stand der Inspektor, und es waren vorhanden: zehn Gespanne Pferde, zehn Gespanne Ochsen, unzählige Schafe, unzählige Schweine und alles, was auf so einen Betrieb gehörte – und zwischen 40 bis 60 Leute, die dort arbeiteten. Wie wir uns zusammengeschlossen haben mit dem Hardenberg, waren auf dieser Riesenfläche noch zwei Mitarbeiter, Trecker-Fahrer. Aus. Das war‘s.“

Musikakzent:

Sprecher:
Wenn die Menschen verschwinden. Ganze Landstriche veröden in der westdeutschen Provinz. Eine Sendung von Adolf Stock.

Sprecherin:
Der Fleck Adelebsen liegt in der Nähe von Göttingen. Dort steht eine imposante Burg mit Brunnen und Turm auf einer Sandsteinnase, die seit dem 13. Jahrhundert bebaut worden ist.

Take 2: (Peter Graf Wolff Metternich)
„Die Adelebsens waren große Bauern, aber hier oben haben sie sich nur verteidigt.“

Sprecherin:
Hausherr ist Peter Graf Wolff Metternich. Im Rittersaal erzählt er von einer langen Familientradition und von den rasanten Veränderungen in der Forst- und Landwirtschaft seit Mitte des letzten Jahrhunderts.

Take 3: (Peter Graf Wolff Metternich)
„Die Stiftung ist heute, sagen wir, 300 Hektar Forstwirtschaft und 280 Hektar Landwirtschaft, der Wald wird in eigener Regie gemacht, und es wird gemanagt von einem Verwalter mit sehr wenig Arbeiten und sehr großen Maschinen. Diese neuen Maschinen sind so riesenhaft, dass man so davor steht und sagt, wie kommt der eigentlich da rauf, so ungefähr.“

Sprecherin:
Kühe und Schweine gibt es nicht mehr, und in den Stallungen unten im Dorf stehen die Pferde vom Reiterhof.

Nicht nur das Gut, auch die Gemeinde hat große Sorgen. Das örtliche Sägewerk wurde geschlossen. Jetzt sind 200 Menschen arbeitslos. Falls die Prognosen des Regionalverbandes Südniedersachsen stimmen, wird Adelebsen in den nächsten Jahren um zwölf Prozent schrumpfen, sagt Markus Baran, der das örtliche Bauamt leitet.

Take 4: (Markus Baran)
„Wohnungen und Häuser stehen leer, viele Gebäude sind durch sogenannte Unternutzungen geprägt. Es ist zu erwarten, dass sich in den nächsten Jahren Zahl und Umfang der Leerstände mit gravierenden Auswirkungen auf die Ortsbilder erhöhen wird.“

Sprecherin:
Rund zwei Drittel der Deutschen leben auf dem Land. Dietrich Maschmeyer ist Bundesvorsitzender der Interessensgemeinschaft Bauernhaus. Er kennt die Probleme der kleinen Gemeinden und Dörfer, die weit weg von den großen Städten liegen: Fehlende Arbeitsplätze, Abwanderung der Jugend und eine überalterte Bevölkerung.

Take 5: (Dietrich Maschmeyer)
„In der Uckermark und in der Prignitz oder noch weiter oben in Vorpommern, da wundert es nicht wirklich jemanden, wenn wir da Problemen dieser Art begegnen, aber mitten im Herzen Deutschlands, praktisch in der geografischen Mitte und in einer Region zwischen Kassel und Göttingen – das sind Städte, die nicht gerade für ihre Tristesse bekannt sind – da diese Probleme zu finden, und ich würde mal sagen, über den Daumen gepeilt, haben Sie diese Probleme in sechzig bis siebzig Prozent der deutschen Landkarte.“

Sprecherin:
Im Osten der Republik wird über die Probleme offen gesprochen. In den Alten Bundesländern ist das nicht immer so. Anton Hepple, Leiter des Amtes für ländliche Entwicklung in Oberfranken, hat jedenfalls diese Erfahrung gemacht. Die von ihm betreuten Landkreise Wunsiedel und Hof sowie der nördliche Teil des Landkreises Kronach sind strukturschwache Gebiete.

Take 6: (Anton Hepple)
„Vor zirka zehn Jahren, wenn wir oder die Mitarbeiter in den Dörfern demografische Probleme angesprochen haben, sind sie teilweise ja fast beschimpft worden. Das heißt, man wollte die Probleme nicht wahr-haben, und die einzelnen Orte waren der Meinung, wir können es noch schaffen, vielleicht haben die Nachbarn Probleme aber wir können es noch schaffen.“

Sprecherin:
Das bekannte Vogel-Strauß-Symptom. Birgit Franz lehrt Bauwerks-
erhaltung und Denkmalpflege an der Fachhochschule Holzminden. Sie bestätigt den Befund.

Take 7: (Birgit Franz)
„Das ist sicherlich so, dass im Westen viele Leute denken, der Kelch geht vielleicht an uns vorbei. Aber es wird ja spürbar, wenn man durch die Städte geht, insbesondere in den strukturschwachen Gebieten, dann merkt man sofort, es gibt Bauruinen, das Gras wächst aus den Rinnsteinen, und sowie man aus der Kernzone rauskommt, gibt es doch spürbaren Verfall.

Trotzdem ist vielleicht gerade so die Grenze erreicht. Ist es schon so dringlich, dass wir hingucken müssen, oder sind wir als Gesellschaft noch so ein bisschen mit dem Weggucken beschäftigt, in der Hoffnung, das wird sich schon ändern?

Wir wollen darauf aufmerksam machen, dass das kein Phänomen der Neuen Bundesländer ist, sondern ein gesamtgesellschaftliches Phänomen, wir müssen uns dem stellen, und zwar nicht auf der politischen Ebene, sondern auf der zivilgesellschaftlichen Ebene.“

Musikakzent:

Sprecher:
Einer der schlimmsten Planungsfehler sind die vielen Neubaugebiete an den Rändern der kleinen Städte und Dörfer.

Sprecherin:
Thomas Wirth ist Landschaftsarchitekt und Stadtplaner in Kitzingen, einer Kleinstadt bei Würzburg. Im Rahmen der Dorferneuerung berät er Gemeinden im Spessart oder im Steigerwald, um sie vor den gröbsten Fehlern zu bewahren.

Take 8: (Thomas Wirth)
„Wir stehen oft vor Ortschaften, die sagen, ja, wir müssen jetzt unbedingt ein neues Neubaugebiet ausweisen, bis die überhaupt einmal begriffen haben, das im Ort selbst, zwanzig, dreißig, vierzig Hektar Leerstand zu erwarten sind, die nächsten zehn bis fünfzehn Jahre, und jede Investition in neue Baugebiete eigentlich hinausgeworfenes Geld ist, weil sich damit die strukturellen Probleme nicht verändern. Das ist schon mal der erste Teil der Diagnose, und auf dieser Basis versuchen wir dann, Lösungsansätze zu finden.“

Sprecherin:
Während die Ortskerne zusehends schrumpfen, weisen noch immer viele Gemeinden – in Konkurrenz zum Nachbarort – Neubaugebiete aus.

Take 9: (Dietrich Maschmeyer)
„Ich habe mich schon früh darüber geärgert, dass es immer noch Wohnungsbauprämie und so was für Neubauten gab. Wohnungsbau-förderung zu Zeiten, als man in bestimmten Regionen schon hätte sagen müssen: Wir wollen eigentlich nicht die Neubauten fördern, wir wollen fördern, dass die Altbauten saniert werden, denn die haben es eigentlich viel nötiger, und das brauchen wir dringender denn je.

Da kann man sich allerhand ausdenken, aber das muss natürlich politisch abgestimmt sein. Ich will nicht den Fehler machen wie die Grünen, einen Benzinpreis von fünf Mark zu fordern, damit macht man sich unglaubwürdig, aber ich denke schon, wir müssen darauf achten, dass wir da mit geeigneten Instrumenten eingreifen.“

Sprecherin:
Dietrich Maschmeyer blickt besorgt. Politikerschelte hält er für wohlfeil, aber alle müssten langsam begreifen, dass es auf Dauer so nicht weitergeht.

Take 10: (Dietrich Maschmeyer)
„Es wird ja auch mental schwierig. Stellen Sie sich mal vor, hier sind Leute, die haben sich der Illusion hingegeben, so muss man dann ja sagen, dass das von ihnen gebaute Häuschen ihren Lebensabend finanziert, oder dass da ihre Kinder einziehen, das sie da versorgt werden, alle solche Vorstellungen erweisen sich dann ja als partiell illusorisch. Das ist schon menschlich ein harter Prozess, dennoch kann man den nicht einfach verdrängen.

Und so denken Sie bitte, wenn wir dann am Ortsrand zurückbauen ja auch Entschädigungen fließen müssen, also der Prozess wird nicht nur kompliziert, der wird sogar auch teuer für die Gesellschaft. Ich glaube das darf man auch nicht übersehen, aber dieser Sache müssen wir uns stellen und alle dran mitarbeiten, denn eine Alternative haben wir in Wirklichkeit nicht.“

Sprecherin:
Die Botschaft ist noch nicht überall angekommen. Birgit Franz nennt die oft ganz banalen Gründen, weshalb in den Amtsstuben falsche Entscheidungen getroffen werden.

Take 11: (Birgit Franz)
„Wir haben relativ kurze Legislaturperioden, Amtsperioden, und jeder will Erfolgsbilanzen vorweisen. Und das zählt halt, wenn man wieder vier Familien angelockt hat, mit billigem Bauland. Und dieser Prozess, den man auch seit 30 Jahren weiß, und wenn man sich hinter der Öffentlichkeit mit Bürgermeistern oder Bürgermeisterinnen unterhält, dann sagen die das auch offen: Wir haben das gewusst, aber was hätten wir denn tun sollen?“

Musikakzent:

Sprecher:
Die alten Konzepte greifen nicht mehr.

Sprecherin:
In vielen Gemeinden wird versucht, mit baulichen Veränderungen den Ortskern aufzuwerten. Ein neues Pflaster für den Dorfplatz kann fehlende Arbeitsplätze nicht ersetzen. Baumaßnahmen haben nur dann einen Sinn, wenn sie das Sozialgefüge in den Kommunen stärken.

Take 12: (Birgit Franz)
„Das ist überhaupt die Frage, ob man die Menschen nicht motivieren muss, ob man nicht alles nicht mit Gestaltung irgendwie lösen soll, sondern eher mit Initiativen, mit Leben, was man in die Stadt gibt und nicht glauben, dass noch eine Stele und noch eine Schautafel, ein Kinderkarussell oder ein Sandkasten oder noch drei Denkmale die Situation der Stadt retten, oder wenn man diese vielen Brunnenbauten anschaut, die die große Lösung der Innenstadtproblematik darstellen, das kann an der einen oder anderen Stelle gut sein und richtig sein und motivieren, aber die Frage ist doch nach unserem Leben, wie befüllen wir das mit Leben, Cafés beleben oder auch Marktstände beleben, oder wenn Musikgruppen was machen, wir haben verlernt unsere Marktplätze oder unsere Parks im Alltag zu gebrauchen.“

Sprecherin:
Wichtig ist ein umfassender Dialog mit den Bewohnern vor Ort.

Take 13: (Thomas Wirth)
„Wir starten in jedem Dorferneuerungsverfahren mit einem zwei- bis dreitägigen Seminar an der Schule für Dorf- und Flurentwicklung. Und dort sind Vertreter der Gemeinden, Bürgermeister, Gemeinderäte, Vereinsvorsitzende, ganz normale Bürger, zwanzig bis dreißig Personen versammelt, und man reflektiert zunächst einmal, was ist das Problem der Gemeinde, wo will die Gemeinde hin, wie möchte sie sich in den nächsten zehn bis fünfzehn Jahren entwickeln? Und dort stellen wir jedes Mal fest, dass die Leute mit einem anderen Gefühl aus diesem Seminar herausgehen, als sie hereingegangen sind, weil sie einen ganz anderen Blick auf ihre Gemeinde bekommen haben.“

Sprecherin:
Landschaftsplaner Thomas Wirth greift zu einem einfachen aber nützlichen Mittel, um der Bewohnern die Folgen der Schrumpfung klarzumachen.

Take 14: (Thomas Wirth)
„ … indem wir einen Plan herausholen, in dem die Häuser alle markiert sind, geben den Mitgliedern der Arbeitskreise drei Farben in die Hand und die sollen dann mal markieren, wo Bevölkerung ist, die über 65 Jahre alt ist, die über 70 Jahre alt ist, die noch Familien haben, wo die Bausubstanz schlecht ist, wo die Bausubstanz noch verbessert werden muss, und da stellen wir jedes Mal fest, dass die selbst alle sehr erschrocken sind, wenn man viele rote Flächen, also sprich viele über 70jährige , über 65jährige im Ortskern verorten kann, wo absehbar ist, das in zehn bis fünfzehn Jahren dort ein Leerstand kommt, wo keine Nachfolger da sind, wo die Kinder weggezogen sind, wo die alten Leute die Häuser nicht mehr unterhalten können, und auf dieser Basis heraus versuchen wir dann Lösungsansätze zu finden.“

Sprecherin:
Es ist wie beim Arzt. Zunächst einmal muss die Diagnose verstanden und verdaut werden, bevor die Behandlung beginnen kann.

Musikakzent:

Sprecher:
Mit den Folgen der demografischen Entwicklung kommen die großen Probleme erst noch.

Sprecherin:
Überall schrumpfen Städte und Dörfer. Im Moment noch sehr moderat, doch es ist ein Prozess, der sich in den kommenden Jahren dramatisch beschleunigen wird.

Im südniedersächsischen Verliehausen steht Ortsrat Gerhard Sommer vor der Scheune eines verlassenen Bauernhofs.

Take 15: (Gerhard Sommer)
„Wir haben noch knapp 400 Einwohner, wobei wir – erschreckend, erschreckend – keinen Nachwuchs haben. Wir haben hier mal im Dorf siebzehn Hofstellen gehabt. Wir haben jetzt zwei noch.“

Sprecherin:
Gerhard Sommer dokumentiert die Veränderungen in seinem Dorf. Er hat nicht nur alle Häuser von innen gesehen, er kennt auch die familiäre Situation der Bewohner, denn nur so lässt sich ein umfassendes Werkbestandskataster erstellen.

Take 16: (Gerhard Sommer)
„Wenn ich da schreibe, dass ein Haus stark gefährdet ist, dann muss ich so ein bisschen nachgucken, wo sind die Kinder geblieben oder gibt es überhaupt Nachkommen. Das ist die Problematik, und das führt auch dazu, das viele sich noch keine Gedanken darüber gemacht haben. Wenn man die älteren Leute einfach, … Warum fragst Du mich? Ich bin ja noch da, ich kriege ja noch meine Rente. So ähnlich läuft das dann und das ist auch ein Ziel, was man hier aus der Aktionsgruppe betreibt, dass man der Bevölkerung oder gerade diesen problematischen Bewohnern dieser Häuser auch versucht das klarzumachen, in welcher Situation sie sind. Denn das kommt automatisch, sie werden aus dem Haus raussterben, und danach fällt das Haus dem Abriss, oder wie auch immer, so langsam wird es dann Mutterboden, wie wir immer sarkastisch sagen.“

Sprecherin:
Als Mitglied der Interessensgemeinschaft Bauernhaus will Gerhard Sommer nicht tatenlos zusehen, wie sein Dorf zerfällt. Er will Fakten dokumentieren, die als Grundlage für Entscheidungen dienen können.

Rechts und links von Verliehausen schrumpft eine ganze Region.

Take 17: (Dietrich Maschmeyer)
„Wenn man aus den Speckgürtel der Städte Göttingen und Kassel raus ist, fällt man in ein tiefes Loch, überall.“

Musikakzent:

Sprecher:
Das Beispiel Bodenfelde

Sprecherin:
Dietrich Maschmeyer geht mit ein paar Journalisten durch Bodenfelde. Der Luftkurort liegt idyllisch an der Weser. Radwanderwege führen den Fluss entlang. Grüne Wiesen und Wälder, doch das Idyll trügt, denn der Ortskern gleicht einer Geisterstadt.

Take 18: (Dietrich Maschmeyer)
„Auf der rechten Seite sehen Sie ein großes Geschäft, was völlig leer steht, und gegenüber sehen Sie ein Haus, dessen Schaufenster auch nur noch mühsam dekoriert ist und dessen Ober¬geschoss ebenfalls nicht mehr bewohnt ist. Und wo wir jetzt hier vorbei gehen, haben wir dieselbe Situation, wie man an den Gardinen erkennt.“

Sprecherin:
Es ist eine grauenhafte Situation, durch die Hauptstraße rollt der Fernverkehr. In der Mittagszeit ist keine Menschenseele zu sehen. Und offen gesagt, es gibt auch keinen Grund, in den Ortskern zu gehen. Eingekauft wird woanders. Die Sparkasse und die Verbrauchermärkte sind an den Ortsrand gezogen.

Take 19: (Dietrich Maschmeyer)
„Es war sicher das ernsthafte Bestreben der politischen Akteure, die Kaufkraftverluste in Bodenfelde möglichst gering zu halten und den Nachbarort Lippoldsberg noch mit einzubinden. Das hat dann dazu geführt, dass man am Ortsausgang die ganzen neuen Läden angesiedelt hat und es also völlig versäumt hat, den alten Ortskern in irgendeiner Weise vital zu halten. Das führte natürlich zu dem, was unausweichlich war dann, die Läden, die dann noch verblieben waren, zogen natürlich, sofern sie überhaupt noch weiter existierten, diesen neuen Anziehungspunkten hinterher, und wenn man sich vorstellt, dass ein relativ kleiner planerischer Fehler solche Konsequenzen hat, dann merken wir, wie wichtig es ist, in diesem Umfeld alle Gesichtspunkte städtebaulicher Art von vorn herein mit einzubeziehen und eine sinnvolle Entwicklung anzustoßen.“

Sprecherin:
Orte wie Bodenfelde werden von den Bewohnern der Wachstums-regionen kaum zur Kenntnis genommen. Wie auch, sagt Birgit Franz, wenn sich die Städter bei ihren Erkundigungen nur an den touristischen Highlights orientieren.

Take 20: (Birgit Franz)
„Man fährt eben nicht über Land 30 Kilometer links und rechts der Autobahn rein und schaut dann auch mal um die Ecke. Die Marktplätze sind ja in der Regel hübsch gemacht, aber dann sich einfach mal die Zeit nehmen, die fünf, zehn Minuten um die Ecke zu gehen, und mal in die erste Straße hinter dem Marktplatz und in die zweite Straße hinterm Marktplatz zu schauen. Und dann merkt man eben, wenn man das tut, dass man das in Nordhessen genau so findet, man merkt das, wenn man von Würzburg aus in die ländlichen Region fährt, nach Unterfranken, Oberfranken, dass es dort eben auch ist, oder wenn man den Schwarzwald einmal quer durchfährt, dann ist man erschrocken. Und fragt sich, wie will man das in der Masse in den nächsten zehn, zwanzig, dreißig Jahren retten, was dort im Moment dem Verfall ein Stück weit preisgegeben ist.“

Sprecherin:
Nicht nur die Bausubstanz verfällt, auch die Infrastruktur der Dörfer wird immer schlechter. Thomas Wirth will möglichst früh gegensteuern.

Take 21: (Thomas Wirth)
„Es gibt Ortschaften, da gibt es keinen Bäcker mehr, keinen Metzger, da fahren die Leute schon in die nächste größere Stadt, und da ist es auch sehr schwierig, überhaupt wieder was hinzubekommen. Es gibt das Konzept der Dorfläden, das bei vielen Ortschaften, die wir betreuen, immer wieder ein Thema wird, in manchen funktioniert das, so etwas einzurichten, in manchen funktioniert es auch wieder gar nicht. Das ist von Ort zu Ort sehr unterschiedlich, und wir bemühen uns dann mit den Bewohnern herauszufinden, was ist jetzt der Schwerpunkt.“

Sprecherin:
Es geht um möglichst viele individuelle und überschaubare Strategien, sagt Birgit Franz.

Take 22: (Birgit Franz)
„Diese Initiativen klein-klein ergeben ja etwas in der Summe. Wichtig ist, dass es in den Regionen Menschen gibt, die diese Dinge koordinieren. Gibt es rollende Einkaufsbusse, gibt es rollende Ärzte, wir vermarkten wir uns? Haben wir alle einen gemeinsamen Internetauftritt, oder kämpft jeder gegen jeden? Und dieses Modell der kleinen Schritte, das ist sicherlich die zentrale Lösung, weil die Menschen vor Ort sich überlegen müssen, wo schrumpfen wir, und wo wollen wir was tun, was unsere ganz persönliche Lebensqualität verbessert?“

Musikakzent:

Sprecher:
Auf mehr Tourismus werden viele Hoffnungen gesetzt.

Sprecherin:
Hans Strauß ist Bürgermeister der Gemeinde Markt Nordheim. Landschaftlich schön gelegen, mit Weinhängen und einem Dorfplatz wie aus dem Bilderbuch. Die kleine Kirche, das stolze Rathaus und ein Gasthof prägen das Bild.

Take 23: (Hans Strauß)
„Wir liegen ziemlich genau in der Mitte zwischen Nürnberg und Würzburg. Unsere Gemeinde oder unser Ort hier ist landwirtschaftlich strukturiert mit Handwerksbetrieben, eine Landmaschinenwerkstätte, Fuhrunternehmen, einem Malergeschäft und solche Dinge, Frisör, einen Dorfladen haben wir, so ist es strukturiert, aber der Strukturwandel in der Landwirtschaft streitet jedoch voran, sodass absehbar ist, dass immer mehr Wirtschaftsgebäude auch leer stehen werden, und da versuchen wir gegenzusteuern durch mehr Investitionen in den Tourismus. Damit auch den Leuten oder den Besitzern Gelegenheit gegeben wird, Gebäude umzunutzen.“

Sprecherin:
Der Gasthof ist gerade eingerüstet, das Dach ist schon neu gedeckt. Hier wird für die Zukunft gebaut, das Dorfgasthaus soll wieder geöffnet werden, mit einigen Zimmern für den Fremdenverkehr. Die Winzergemeinde im westlichen Frankenland kann auf ein paar Touristen hoffen, auch weil sich die Weinbauern und Bürger stark engagieren. 2007 ging Markt Nordheim als Sieger des bayrischen Wettbewerbs Unser Dorf hat Zukunft - Unser Dorf soll schöner werden vom Platz. Die Gemeinde gehört auch zu der Aktionsgruppe Südlicher Steigerwald, die den Tourismus für die Region besser vermarkten will.

Take 24: (Hans Strauß)
„Da gibt es dann europäische Förderprogramme, die man dabei nutzen kann, um Wanderwege oder Radwege auszuweisen und zu bauen, und in die Richtung gehen wir voran.“

Sprecherin:
Markt Nordheim setzt auf den Fremdenverkehr. Die Gemeinde kann mit einem intakten Ortskern und viel Natur punkten. Doch eben hier liegt auch das Problem, beschauliche Orte mit viel Natur gibt es zwischen Nord- und Ostsee und den Alpen fast überall. Die Konkurrenz ist groß, und man muss den Gästen schon einiges bieten, um sie ins eigene Dorf zu locken.

Thomas Wirth lenkt deshalb den Blick auf die Infrastruktur der Dörfer, ein Feld, wo er als Landschaftsplaner eigentlich an seine professionellen Grenzen stößt.

Take 25: (Thomas Wirth)
„Tourismus spielt auch nur in einer begrenzten Zahl von Ortschaften eine Rolle. In den Randlagen, wo die Landwirtschaft eine größere Rolle spielt, in den Waldregionen des Spessarts und des Steigerwaldes, da sind es ganz andere Themen. Zum Beispiel Einkaufsmöglichkeiten, Infrastruktur, die Möglichkeiten, wie betreue ich die älteren Leute, wo gehen die zum Arzt? Wie gibt es Gemeinschaften, die man zusammen organisieren kann, von Fahrdiensten bis hin zu einem Dorfgemein-schaftshaus, in das mal der Arzt einmal die Woche reinkommt. Es ist so ein Mosaik an ganz vielen Möglichkeiten, dass sich je nach Ort sehr individuell herausprägen kann.“

Musikakzent:

Sprecher:
Ein paar positive Beispiele.

Sprecherin:
Baudirektor Anton Hepple sitzt in seinem Bamberger Büro. Er betreut im Bayrischen Landesamt für Ländliche Entwicklung die Region Oberfranken. Dort konnte an einigen Orten die Infrastruktur nachhaltig gefördert werden.

Take 26: (Anton Hepple)
„Landkreis Hof, Feilitzsch, ein wunderschöner Dreiseithof, ein Teil der Gebäude konnte erhalten werden, ein Teil musste neu gebaut werden. Hier ist es gelungen, mit einer Praxis für Massage, für einen Frisörladen und jetzt auch mit einem neuen Dorfladen diese, ja sehr markante Stelle im Ort wieder zu beleben.

Im Landkreis Bayreuth, in Betzenstein. Wir haben dort ein Projekt über achtzehn Kommunen zur Seniorenarbeit, hier wird eine Anlaufstelle in einem alten Gebäude installiert, zusammen mit der evangelischen Kirche, um hier die Nutzung von einem denkmalgeschützten Gebäude ebenfalls sicherzustellen.“

Sprecherin:
Ohne Privatinitiativen, ohne eine breite Bürgerbeteiligung wird die Rettung der Dörfer nicht gelingen. So sieht es auch Kollege Lothar Winkler, Gebietsabteilungsleiter für Oberfranken.

Take 27: (Lothar Winkler)
„Wir gehen konkret an die Gemeinden ran, wir können anbieten mit anderen Ministerien zusammen so eine Art Flächenkataster oder Leerstandskataster zu entwickeln, um den Gemeinden auch darzulegen, welches Potential in den Altorten noch vorhanden ist. Da gibt’s also spezielle Datenbanken dafür, um denen aufzuzeigen, bei eurer demografischen Entwicklung braucht ihr in den nächsten Jahren, ich sag jetzt irgendeine Zahl, fünf Bauplätze, dann braucht ihr das nicht auf der grünen Wiese ausweisen, sondern ihr habt die Möglichkeit, das im Altort zu realisieren.“

Sprecherin:
Bei der Förderung sieht Lothar Winkler ansehnliche Erfolge.

Take 28: (Lothar Winkler)
„Wir haben einige sehr gute Jahre hinter uns, was die Förderung betrifft, also das muss man ganz offen sagen, wir können uns nicht beklagen über die Mittelausstattung, wie sie in den Jahren 2008 und 2009 war, auch 2010 wird noch gehen, wir wissen allerdings nicht, wie es im nächsten Jahr weitergeht, da haben wir nun schon ein paar Sorgen, und es wird die große Frage sein, wie es mit der EU-Förderung nach dem Jahr 2013 letztlich weitergeht. Wenn das Amt für Ländliche Entwicklung in diesem Jahr circa 12 Millionen Förderung bekommt, dann stammen davon etwa sechs Millionen von der Europäischen Union.“

Musikakzent:

Sprecher:
Die Bürger müssen an den Planungsprozessen beteiligt werden

Sprecherin:
Eine breite Bürgerbeteiligung ist der Schlüssel zum Erfolg. Die Motivation der privaten Hausbesitzer soll gefördert werden, damit die Gebäude energetisch und seniorengerecht umgebaut werden können. Ein Dorfladen oder ein Dorfgemeinschaftshaus sind für einen Ort wichtig, woanders ist die Reaktivierung des Vereinslebens sinnvoll, oder die Neugestaltung einer Straße zu einer Wohnstraße, um die Lebensqualität für die Bewohner zu erhöhen.

Birgit Franz glaubt, die Probleme seien viel zu komplex, um sie rein administrativ von der Politik von oben verwalten und entscheiden zu können.

Take 29: (Birgit Franz)
„Die Quartiersinitative Niedersachsen, QiN, die versucht dieses bürgerschaftliche Engagement zu motivieren, indem es Bürger gibt, die sich ein Motto wählen, Verbesserung für eine bestimme Region, die gucken, dass die Stadt Gelder gibt, und dann gibt eben das Land auch was dazu, und dann muss man wieder gemeinsam umsetzen.“

Sprecherin:
Die niedersächsische Sozial- und Bauministerin Aygül Özkan will Gemeinden und die Menschen vor Ort besonders fördern, wenn sie Verantwortung übernehmen und sich für ihr Quartier engagieren. 2010 gab es dafür eine Million Euro. Eine Summe, die sich durch private Investitionen und kommunale Anteile noch einmal erheblich erhöht. Für
Dietrich Maschmeyer von der Interessensgemeinschaft Bauernhaus ist das der richtige Weg.

Take 30: (Dietrich Maschmeyer)
„Solche gesellschaftlichen Prozesse, das weiß man ja schon seit langem, sind eigentlich etwas, was basisorientiert verlaufen muss, das große Stichwort Partizipation geistert ja durch sämtliche methodischen Diskursdebatten, hat ja auch Eingang, so zum Beispiel in Programme, die für diesen Raum durchaus zutreffend sind, wie diese Leader-Programme, der zweiten Säule des EU-Agrarförderungsprogrammes durchaus Eingang gefunden, und da wollen wir kräftig dran mitwirken, und als Netzwerk von wirklichen Fachleuten in dieser Hinsicht können wir auch die nötige Fachkompetenz aber auch die nötige breite Basis einbringen.“

Musikakzent:

Sprecher:
Neues Denken ist gefragt.

Sprecherin:
Die Bevölkerungspyramide wird immer mehr zur Palme.

Take 31: (Dietrich Maschmeyer)
„Wir dürfen nicht vergessen, die geburtenstarken Jahrgänge, die stehen ja alle noch in Lohn und Brot und agieren noch als Konsumenten. Sicher bricht die jüngere Generation weg, die nachwachsende, das werden weniger. Aber alleine für sich wäre das noch kein Effekt, der so dramatisch ist, wie wir es in diesen Regionen sehen, sondern das sind auch in der Tat die Arbeitsplatzverluste, die eine große Rolle spielen. Und da die Städte eine hohe Anziehungskraft haben, ziehen die dann noch zusätzlich weg, das führt dazu, dass also so Ballungszentren, wie zum Beispiel Göttingen, das die ihre Bevölkerungszahl durchaus halten können, aber das sind Zuzugsgewinne, das sind keine effektiven demografischen Gewinne.“

Sprecherin:
Dietrich Maschmeyer malt ein düsteres Bild. Auch Birgit Franzen wirkt nachdenklich: Sie will die vielen Probleme nicht nur auf den demografischen Wandel schieben. Der Begriff demografischer Wandel ist für sie ein blutleeres Etikett für Fachleute. Ein Begriff der keine Emotionen weckt. Birgit Franzen bevorzugt allgemein verständliche Erklärungsmuster, denn mit einer leicht nachvollziehbaren Erklärung, ändert sich auch das Denken im Kopf.

Take 32: (Birgit Franz)
„Demografischer Wandel, vielleicht müssten wir das krasser formulieren. Das Wort Schrumpfung trifft es ja, Schrumpfung kann alles betreffen, also in jede Richtung, die Industrie kann schrumpfen, die Schüleranzahl kann schrumpfen, das Interesse an Kultur kann schrumpfen. Also das Wort Schrumpfen ist ja immer mit Reduzierung verbunden, vielleicht müssen wir auch das Wort Leere stärker in den Vordergrund stellen und da kommt ja immer wieder dieser Bogen: Ist Leere nicht auch etwas Fruchtbringendes? Leere belüftet den Kopf, lüftet den Geist, und die Leere schafft auch immer wieder die Möglichkeit, neue Potenziale zu erkennen.“

Sprecherin:
Das klingt schon fast philosophisch. Mehr Platz kann auch mehr Lebensqualität bedeuten. Das wäre ein Vorteile des Schrumpfens. Die Diskussion über solche Zusammenhänge hat gerade erst begonnen und neues Denken ist im ganzen Land gefragt.