Dieser Beitrag wurde am 01.06.2018 im Deutschlandfunk Kultur erstmals gesendet.
Die Moderation:
In Augsburg wurde bis vor kurzem heftig um die Verlegung von Stolpersteinen im öffentlichen Raum gestritten. Inzwischen hat sich die Stadt mit engagierten Bürgern und der jüdischen Gemeinde auf den „Augsburger Weg“ verständigt. Jeder Angehörige oder Vertreter eines NS-Opfers darf selbst entscheiden, ob er einen Stolperstein oder die neu entworfene Gedenkschleife als Erinnerungszeichen haben will. Ein Erfolg im Augsburger Streit um das angemessene Erinnern an die Opfer des Nationalsozialismus. Wichtig in einer Zeit, wo die letzten Zeitzeugen sterben und schon bald nachhaltige Formen des Erinnerns an NS-Opfer gefunden werden müssen. Adolf Stock über die Erinnerungskultur in Augsburg.
Die Sendung:
Sprecher 1:
Die Situation war verfahren, weil es keine Mehrheit für die Stolper-steine im Stadtrat gab. Außerdem gab es ein Votum des Rabbiners, der klar darauf hingewiesen hat, dass man als jüdische Kultus-gemeinde diesen Weg nicht mitgehen könne. Das hat dazu geführt, dass der Stadtrat die Entscheidung erst einmal ausgesetzt hat.
Take 1: (Thomas Weitzel)
“…, weil man kein Gedenken im öffentlichen Raum praktizieren wollte, bei dem dann die größte Opfergruppe vom Gedenken ausgeschlossen sein würde. Das war die Situation, die ich vorfand, als ich 2014 dieses Amt übernommen habe.“
Sprecher 2:
Thomas Weitzel ist in Augsburg Stadtrat für Kultur. So wie in München gab es auch hier einen heftig geführten Streit, wie man angemessen und würdevoll an NS-Opfer erinnern soll. Gestritten wurde um die Verlegung von Stolpersteinen im öffentlichen Raum. In Augsburg wurde eine Stolperstein-Initiative gegründet, die 18 Organisationen umfasst – von der IG Metall über die SPD bis hin zu den Grünen –, und engagierte Bürger der Stadt gründeten eine Erinnerungswerkstatt, die Josef Pröll wie folgt charakterisiert. Er arbeitet als Referent in der KZ-Gedenkstätte Dachau.
Take 2: (Josef Pröll)
„Das sind jetzt Menschen, die weniger dem politischen Widerstand oder der politischen Verfolgten sich annehmen, sondern mehr den jüdischen und den Sinti und Roma. Darunter sind sehr bekannte Leute hier, die Frau Bachmair zum Beispiel oder auch die Frau Doktor Schönhagen vom Jüdischen Kulturmuseum, die hier ja auch eine sehr gute Arbeit macht.“
Sprecher 3:
Josef Pröll ist Mitte 60. Seine Familie kommt aus dem politischen Wiederstand. Auch seine Familie war in verschiedenen Konzentrationslagern inhaftiert. Das Schicksal der Prölls wurde in Augsburg nicht vergessen: Die Mutter ist Ehrenbürgerin der Stadt, sie trug das Bundesverdienstkreuz, und eine Straße wurde nach ihr benannt.
Take 3: (Josef Pröll)
„Wir sind bei den Stolpersteinen geblieben und hatten auch die Hoffnung, dass man gemeinsame Veranstaltungen macht, also auch mit der Erinnerungswerkstatt. Das war nicht möglich, und dann wurde aber, um diese beiden Organisationen zu binden, der ‚Augsburger Weg‘ geschaffen, und so konnten wir miteinander arbeiten. Dieser ‚Augsburger Weg‘ ist eine schöne Alternative, weil der alle Möglichkeiten des Gedenkens vereinigt.“
Sprecher 4:
2016 wurde im Stadtrat der „Augsburger Weg“ beschlossen. Seitdem gibt es zwei Möglichkeiten, um der NS-Opfer im öffentlichen Raum zu gedenken. Jede Opfergruppe kann selbst entscheiden, welches Zeichen sie möchte. Man darf Stolpersteine verlegen, aber es gibt auch die Möglichkeit, ein Erinnerungsband in unmittelbarer Nähe zum letzten freiwillig gewählten Wohnort der NS-Opfer an einer Stele oder einem Laternenpfahl anzubringen, erklärt Stadtrat Thomas Weitzel.
Take 4: (Thomas Weitzel)
„Das ist der Kompromiss, den wir gefunden haben, den dann auch die jüdische Gemeinde mitgegangen ist, und es kein weiteres Petitum des Rabbiners gab, weil es nun auch der Opfergruppe der jüdischen Gemeinde die Möglichkeit anheimstellt, eine andere Form zu wählen als den Stolperstein, den sie in der Mehrheit ablehnen.“
Sprecher 5:
Für viele Sinti und Roma ist der „Augsburger Weg“ ein wichtiger Kompromiss, denn auch in ihren Reihen gibt es starke Vorbehalte gegen Stolpersteine, weil Angehörige nicht möchten, dass man die Verfolgten noch im Nachhinein mit Füßen tritt.
Jetzt waren Stolpersteine und Erinnerungsbänder möglich. Im letzten Frühling war es dann soweit. Zwei Erinnerungsbänder wurden angebracht. Am 10. November 2017 folgte ein weiteres für Dr. Julius und Paula Raff, Markus Beck war damals dabei.
Take 5: (Markus Beck)
„Es war eine kleine Gruppe bei viel Regen, die sich zusammengestellt hat. Das Band war angebracht, das war noch abgedeckt, und wir hatten dann ein paar Worte gesprochen, auch ich, mit den Beweggründen, warum wir das unterstützen.“
Sprecher 6:
Ein gelungener Auftakt: Doch nicht alle Bürger sind restlos zufrieden, denn die Stadt will nur Opfer mit Stolpersteinen und Erinnerungsbändern ehren, die unter den Nationalsozialisten zu Tode kamen. Das kritisiert Josef Pröll.
Take 6: (Josef Pröll)
„Bei uns wird es von der Stadt vorgeschrieben. Wir haben also jetzt die Steigerung, dass wir unterschiedliche Gedenkformen haben und die Stadt darüber bestimmen will, wer denn nun 70 Jahre nach der Öffnung der Konzentrationslager als Opfer bezeichnet werden darf und wer nicht, und das ist sehr schwierig. Es wäre ganz einfach zu sagen: Jeder der verfolgt war, war Opfer.“
Sprecher 7:
Eine wichtige Frage: An wen darf man im öffentlichen Raum erinnern?
Markus Beck hat seine Praxis in der Augsburger Vorstadt, dort wo vor dem Zweiten Weltkrieg viele Sinti und Roma zuhause waren. Mehrere Erinnerungsbänder erinnern inzwischen an ihr Schicksal. Der Allgemeinmediziner Markus Beck ist Mitglied der Erinnerungswerkstatt. Für ihn steht die Frage Stolperstein oder Erinnerungsband nicht im Mittelpunkt. Ihn beschäftigen ganz andere Dinge. Bis heute ist er entsetzt und fassungslos, was seinen jüdischen Kollegen während der NS-Zeit wiederfahren ist, und das möchte er möglichst hautnah auch jüngeren Menschen vermitteln.
Take 7: (Markus Beck)
„Das Erinnern nicht als Ritual, sondern dieses erleben als etwas, das man mit den Namen auch verbindet, ein normales Leben, also in dem Fall eine ärztliche Tätigkeit, und ein Wunsch dieses Kollegen, im Ruhestand im Altenheim, wo er zuletzt freiwillig gewohnt hat, seinen Ruhestand zu verbringen.“
Sprecher 8:
Auch als Vorsitzender des ärztlichen Kreisverbands Augsburg will Markus Beck an das Schicksal seiner jüdischen Kollegen erinnern, damit spätere Generationen verstehen: Man muss Menschen gar nicht unbedingt körperlich etwas antun, um sie zu vernichten.
Take 8: (Markus Beck)
„Das ist nicht aus der Welt, und diese etwas kleineren Diskriminierungen und Ausschlüsse sind eigentlich die, die einem noch eher berühren können. Vor dem großen Holocaust erliegt man, aber diese kleinen Wege, wo man vergleichen könnte, wie sieht das aus, wenn meine Rente weg ist, wenn ich meine Wohnung verlassen muss, wenn man mir meine Praxis schließt, das sind Punkte, die man gut nachvollziehen kann.“
Sprecher 9:
Mit dem „Augsburger Weg“ wurde ein guter Kompromiss gefunden, den Streit um die Erinnerungskultur zu befrieden. Ein wichtiger Baustein, der vielleicht auch im benachbarten München Schule machen sollte.