Adalbert Stifter beschreibt in seinem Roman "Nachsommer" einen Ort der Harmonie und Bildung. Um 1900 wurde das im Roman dargestellte Rosenhaus zum Idealbild der neuen Bürgerlichkeit: So sehr, dass Architekten versuchen, es nachzubauen.
Seit Martin Luther 1525 mit seiner Familie in einem ehemaligen Kloster wohnte, gab es in Wittenberg ein erstes protestantisches Pfarrhaus. Als Keimzelle eines bürgerlichen Lebens hat es seitdem Karriere gemacht. Es wurde zum Prototyp für ein bescheidenes, sinnerfülltes Leben. Viele Pfarrkinder sind später Schriftsteller geworden.
Wenn Sie oben rechts auf "Original anzeigen" klicken, können Sie den Beitrag auch hören.
Der Wunsch, im Rosenhaus zu leben
Pfarrhäuser und Stifters Rosenhaus als Schauplätze der Literatur
Atmo:
Schritte
Take 1: (Stefan
Rhein)
„Nicht unbedingt der Luther des 16. Jahrhunderts ist bekannt, sondern der Luther des 19. Jahrhunderts ist in den Köpfen auch der heutigen Zeitgenossen. Und wir schauen hier auf ein Bild: Luther als Familienvater.“
Sprecher:
Stefan Rhein ist Direktor der Luther-Gedenkstätten in Sachsen-Anhalt. Er führt durch das Lutherhaus in Wittenberg, wo der Reformator seit seiner Heirat 1525 mit seiner Familie lebte.
Take 2:
(Stefan Rhein)
„Im 19. Jahrhundert wird Luther nicht nur als Reformator gefeiert. Er wird vor allem als Inbegriff des deutschen Bürgers verherrlicht. Und das ist ganz faszinierend, das deutsche Pfarrhaus bezieht sich hier auf das Lutherhaus, das – wenn man ins 16. Jahrhundert schaut – aber gar kein Pfarrhaus war, denn Luthers Haushalt war ein Gelehrtenhaushalt. Luther war Universitätsprofessor. Er war nicht Stadtpfarrer, und gleichwohl: In der Imagination des 19. Jahrhunderts ist dieses Familienleben, dieses Gelehrtenleben hier im Lutherhaus vorbildlich geworden, ja eigentlich für das Leben jedes deutschen Pfarrers im deutschen Pfarrhaus.“
Schritte
Sprecher:
Das Lutherhaus ist heute Museum. Die Räume eines alten Klosters wurden zum Vorbild für das protestantische Pfarrhaus.
Take 3: (Christine Eichel)
„Man muss dazu sagen, dass das Pfarrhaus jahrhundertelang wirklich Vorbildcharakter haben sollte. Ob es dann immer so vorbildlich war, steht auf einem anderen Blatt. Aber es war ein gläsernes Haus, ein öffentliches Haus.“
Sprecher:
Die Publizistin Christine Eichel ist selbst Pfarrerstochter. 2012 hat sie eine Kulturgeschichte des protestantischen Pfarrhauses geschrieben.
Take 4:
(Christine Eichel)
„Das klassische Pfarrhaus wurde auch so gebaut, dass Gemeinderäume und Privaträume unter einem Dach waren, und oft fand auch die Kirchenchorprobe im Wohnzimmer statt oder auch der Konfirmandenunterricht, so dass die Pfarrersfamilie auch immer unter Beobachtung war. Und das hatte natürlich auch ein gewisses System. Der Pfarrer sollte halt nicht nur Lippenbekenntnisse auf der Kirchenkanzel absondern, sondern er sollte wirklich vorleben, was er glaubte.“
Sprecher:
Nicht nur das Pfarrhaus wurde zu einer Projektionsfläche für das Bürgertum. Um 1900 machte auch ein literarisches Haus Karriere: Adalbert Stifters Rosenhaus, das er in seinem Roman „Nachsommer“ beschrieb.
Als das Buch 1857 erschien, lag es wie Blei in den Regalen. Kritikern und Lesern kam die perfekte Nachsommer-Welt sterbenslangweilig vor. Eine Welt ohne Abgründe, in der es weder Tod noch Teufel gab.
Im
Roman passiert wenig, und die Geschichte ist schnell erzählt. Der Schriftsteller
Arnold Stadler hat sie in einem Satz zusammengefasst.
Zitator:
„Ein Ich-Erzähler aus gediegenen Wiener Kaufmanns-Verhältnissen kommt eines Tages auf einer Wanderung ins Gebirge, in der Meinung, ein Gewitter nahe sich, wird er von einem alten Herrn am Rosentor eines schönen Anwesens auf einem Hügel eingelassen und bleibt; erst einmal für eine Nacht, dann fürs Leben.“
Sprecher:
Dem ist wenig hinzuzufügen. Der Hausherr heißt Freiherr von Risach, und er lebt ein stilles, tätiges Leben, was den jungen Heinrich begeistert. Es gibt kaum eine richtige Handlung, stattdessen wird eine Stimmung evoziert, sagt Schriftsteller Martin Mosebach.
Take 5:
(Martin Mosebach)
„Es kommt mir auch so vor, als liege darin die eigentliche Rechtfertigung des Romans. Eine Art Raum herzustellen, in dem eine andere Luft geatmet wird, in der man, um es mit Stefan George zu sagen, Staub von ferneren Planeten wittert, in einer anderen Physik sich bewegt, in der die Gegenstände überraschend schwerer oder leichter sind als in der Welt, aus der man stammt. Eine Art Stimmungsschwimmbecken herzustellen, in dem man sich bewegt.“
Sprecher:
Adalbert Stifter erzählt von einem erfüllten Leben jenseits der großen Stadt. Ein Roman wie aus der Zeit gefallen, denn er beschreibt eine Welt, die schon in der Mitte des 19. Jahrhunderts eine Welt von gestern war. Das spürt auch Heinrich, als er zum zweiten Mal in das Rosenhaus kommt und zu seinem Gastgeber sagt:
Zitator:
„Es ist seltsam, da ich von Eurer Besitzung in die Stadt und ihre Bestrebungen kam, lag mir Euer Wesen hier wie ein Märchen in der Erinnerung, und nun, da ich hier bin und das Ruhige vor mir sehe, ist mir dieses Wesen wieder wirklich und das Stadtleben ein Märchen. Großes ist mir klein, Kleines ist mir groß.“
Sprecher:
Erst um 1900 findet der Roman begeisterte Leser. Das hatte Gründe. Die fortschreitende Industrialisierung wurde als Bedrohung wahrgenommen. Man sehnte sich nach einer überschaubaren, heilen Welt, wie sie Stifter im „Nachsommer“ beschrieb.
Take 6:
(Martin Mosebach)
„Stifter ist der Schriftsteller, der diesen großen Bruch der Kultur vorhergeahnt hat, der in seiner Zeit vielleicht noch gar nicht so deutlich sichtbar war, denn in diesem Rosenhaus wird ja nicht nur Kunst gesammelt, sondern da werden ja vor allen Dingen auch alte Werkzeuge gesammelt. Handwerkszeug, was nun schon in einer beginnenden industriellen Entwicklung sehr sehr früh schon außer Gebrauch kommt und zwar in einer Weise, dass es nicht nur unpraktisch ist, sondern das sich tatsächlich das Verhältnis des Menschen, der damit arbeitet, verändert.“
Sprecher:
Im Mittelpunkt des Romans steht das Rosenhaus. Der Garten, die Werkstatt, jedes Zimmer und jeder Flur werden sorgfältig beschrieben. Kein noch so kleines Detail lässt Stifter aus, und am Ende weiß der Leser, dass alles seinen eigenen Platz und seine besondere Bedeutung hat. Es findet sich kein Dachboden mit Unrat und kein Keller, der ein Geheimnis hätte. Ein glashelles Paradies, spirituell durchweht vom säkularisierten Geist des Protestantismus.
Take 7: (Uwe Bresan)
„Dieser Typus, den Stifter mit seinem Rosenhaus imaginiert, ist ein breit gelagertes Wohnhaus mit hohem Walmdach. In Deutschland und Österreich ist das bekannt, von Pfarrhäusern so aus den 17. Jahrhundert, barocke Wohnhäuser. Und diesen Typus hat Stifter im Kopf, als er das Rosenhaus aufschreibt und die Geschichte erzählt.“
Sprecher:
Der Stuttgarter Architekturhistoriker Uwe Bresan hat seine Doktorarbeit über den Einfluss Stifters auf Architekten zu Beginn des letzten Jahrhunderts geschrieben, dabei kommt auch er auf das Pfarrhaus zu sprechen.
Take 8:
(Uwe Bresan)
„Wenn man in so die kleinen Dörfer kommt, gibt es da die Kirche, die herausragt und daneben eben meistens ein großes stattliches Häuschen, was sich von den Bauernhöfen und den Handwerkerhöfen unterscheidet, dadurch, dass es tatsächlich stattlicher ist, mit einem Walmdach überkrönt ist. Und das Walmdach gibt einfach einem Gebäude einen anderen Habitus. Und diese Würde, die man immer schon mit Pfarrhäusern verbindet, die benutzt dann auch Stifter wieder für sein allein in der Landschaft ruhendes Rosenhaus.“
Sprecher:
Das bestätigt auch Marc Hirschfell in seiner Studie über das „Walmdachhaus als Urform und Idealtyp“. Es sind 600 Seiten spannende Kulturgeschichte, ein Kapitel hat Goethes Gartenhaus zum Thema, das für die Literatur und die Architektur seit über 300 Jahren bedeutsam ist.
Zitator:
„Erbaut wohl ‚um 1700‘, Erweckung durch den Genius ‚um 1800‘, Wiederentdeckung ‚um 1900‘, und unser neuerliches Interesse, diesem Phänomen auf den Grund zu gehen, entwickelt sich nun ,um 2000‘.“
Sprecher:
Ein weiteres Kapitel handelt von Pfarrhäusern beider Konfessionen. Allein in Bayern hat Hirschfell 422 Pfarrhäuser gezählt.
Atmo:
Schritte
Sprecher:
In Wittenberg geht Stefan Rhein durch das Lutherhaus, das Urbild für das protestantische Pfarrhaus.
Take 9:
(Stefan Rhein)
„Es ist erst mal ein großes Haus, da passen viele Menschen hinein, eine große Familie, aber auch täglich viele Gäste. Sinnlichkeit, Freude, Familienleben, das wird hier gepflegt. Luthers Haus ist auch ein kulturelles Haus gewesen. Und wenn man hier durch die Räume geht, ja durch diese offenen und auch großzügigen Räume, dann kann man sich das Vorbild jedes einzelnen Pfarrhauses gut vorstellen. Ein offenes, gastfreundschaftliches auch helles, klares Haus. Also mag es das auch nie gewesen sein, man kann es doch hineinlesen in dieses ursprüngliche Lutherhaus.“
Sprecher:
Das Pfarrhaus wird zur bürgerlichen Wohnstätte schlechthin, sagt Christine Eichel.
Take 10:
(Christine Eichel)
„Das Pfarrhaus mit dem Pfarrer und seiner Familie ist einfach immer so ein kulturelles Ferment gewesen, aber es ist natürlich auch Kulturträger gewesen, weil viele Pfarrerskinder mit einem Auftrag in die Welt gesendet wurden, nämlich: Seid das Salz der Erde, hinterlasst Spuren, und dadurch ist dann auch ein Phänomen zu betrachten, dass viele Schriftsteller, Philosophen, Künstler, Wissenschaftler aus dem Pfarrhaus gekommen sind.“
Sprecher:
Der Germanist Heinz Schlaffer hat 2002 eine „Kurze Geschichte der deutschen Literatur“ geschrieben. Er berichtet, wie schon im 16. Jahrhundert in den protestantischen Pfarrhäusern eine bürgerliche Bildungsoffensive beginnt. Aus Pfarrerssöhnen wurden Musensöhne, schreibt Schlaffer und zählt einige auf, wie...
Zitator:
„ …Bodmer, Gottsched, Gellert, Lessing, Wieland, Schubart, Claudius, Lichtenberg, Bürger, Hölty, Lenz, Jean Paul, August Wilhelm und Friedrich Schlegel. Eine Liste ähnlich bedeutender Autoren, die zwischen 1730 und 1800 tätig, aber keine Pfarrerssöhne waren, fiele kürzer aus.“
Sprecher:
Mit Gottfried Benn, Friedrich Dürrenmatt bis hin zu Gabriele Wohmann oder Friedrich Christian Delius lässt sich die Liste bis in die Gegenwart verlängern.
Zitator:
„Sie entziehen sich, Zeitgenossen der Aufklärung, den hergebrachten Ansprüchen der Kirche und versuchen zugleich, ihr Erbe anzutreten.“
Sprecher:
Ihre Literatur ist durchdrungen von „religiöser Energie“, die in ihrer säkularisierten Form eine Vorliebe für „Tiefe“, „Betroffenheit“ und „Authentizität“ herausgebildet hat. Die Kunst, schreibt Schlaffer, wird zur religiösen und metaphysischen Instanz.
Einigen
der emanzipiert profanen Dichter kommt dann selbst das „Prädikat von
Religionsstiftern“ zu. Das gilt auch für Adalbert Stifter, der um 1900 mit
heiligem Ernst gelesen wird.
Damals
sind auch Architekten auf Stifters „Nachsommer“ gestoßen. Einige von ihnen beriefen
sich auf Nietzsche, der ja selbst aus einem Pfarrhaus kam und die Lektüre des Romans
nachdrücklich empfahl.
Take 11:
(Uwe Bresan)
„Stifter möchte eine Ästhetik installieren, die einfach schlichter ist als das Adelsideal oder dieses Pompöse. Die frühen Industriemagnaten haben erst einmal versucht, möglichst genau so zu leben, wie der Adel. Und erst so 50 Jahre später hat man dann verstanden, dass als neue Würdeformel man eher schlichter sein muss. Das ist so eine überfeinerte Schlichtheit, die er da als Konzept 1850 vorbringt und die dann eigentlich erst um 1900 richtig verstanden wird.“
Sprecher:
Die Architekten, sagt Uwe Bresan, suchten nach einer neuen Architektur, die zugleich schlicht und nobel sein sollte. Das Rosenhaus wurde zur Steilvorlage, denn die reformwilligen Architekten hatten vom Gründerzeitpomp die Nase voll, dem Neo-Barock, der nachgemachten Renaissance und der falschen Gotik. Die Architekten verstanden sich als Avantgarde – auch wenn das im Kontext von Stifter merkwürdig klingt. Sie waren auf der Suche nach einer besseren Welt.
Damals
haben sich die Architekten auch für Goethe und seine Häuser in Weimar
interessiert. Im Park an der Ilm steht Goethes Gartenhaus, das wie die
Pfarrhäuser und das Rosenhaus auch ein Haus mit Walmdach ist.
Take 12:
(Wolfgang Voigt)
„Man entdeckte, dass dieses sehr alte Haus eigentlich einen zeitlosen und immer noch gut zu gebrauchenden Typus darstellte, ein Typus, in dem ganz viel Erfahrung drinsteckt. Also wie die Zimmer liegen, wie die Treppe da drin liegt. Natürlich hat das kein Badezimmer gehabt und keine moderne Küche, aber selbst in einem solchen Typus war so was alles leicht einzubauen, ohne es groß zu verändern.“
Sprecher:
Der Architekturhistoriker Wolfgang Voigt erzählt von Goethes Gartenhaus, das auch Stifter kannte und das zum Vorbild für die äußere Gestalt des Rosenhauses wurde. Die vielen Zimmerfluchten und das großzügige Raumprogramm sind dagegen in Goethes Wohnhaus am Weimarer Frauenplan zu finden.
Der
„Nachsommer“ ist die umfassendste Architekturbeschreibung, die es in der
deutschen Literatur gibt. Aber Stifter hatte keine Architekturpläne studiert. Uwe
Bresan glaubt, er habe vor allem im „Eckermann“ gelesen, der als treuer Vasall die
Tischgespräche mit Goethe der Nachwelt überliefert hat.
Take 13: (Uwe
Bresan)
„Es gibt diese wunderbaren Beschreibungen, wenn Eckermann zum ersten Mal dieses Goethehaus betritt, auf dem Treppenpodest sieht er dann schon die Statuen, die Goethe sammelte. Und wir finden dann genau die gleiche Szene in Stifters Roman wieder, also auch da stehen diese Gipsabgüsse auf dem Treppenpodest.“
Zitator:
„‚Wenn es Euch Vergnügen macht, unser Haus und einiges Zubehör zu besehen‘, antwortete er, so kann das gleich nach dem Frühmahle geschehen. Er führte mich über die Treppe, auf welcher die weiße Marmorgestalt stand, hinauf. Heute fiel statt des roten zerstreuten Lichtes der Kerzen und der Blitze von der vergangenen Nacht das stille weiße Tageslicht auf sie herab, und machte die Schultern und das Haupt in sanftem Glanze sich erhellen.“
Take 14: (Uwe
Bresan)
„Und die zweite Szene in seinem Eckermann, wenn er das Goethe-Gartenhaus zum ersten Mal sieht, und er dann schreibt ‚über und über mit Rosen bewachsen‘. Und dann lesen wir das bei Stifter, wenn der Held zum allerersten Mal diese Rosenwände beschreibt. Und man hat mitunter das Gefühl, dass Stifter nicht Goethe zitiert hat, sondern den Eckermann.“
Sprecher:
Als Goethe im April 1776 das kleine Haus mit Garten erwarb, war das ehemalige Winzerhäuschen schon 180 Jahre alt. Eine schlichte Immobilie vor den Toren der Stadt, das der noch junge Dichter sieben Jahre bewohnte, bevor er in das Stadthaus am Frauenplan zog. Zunächst hatten die Handwerker viel zu tun – das Dach war morsch, Fenster mussten vermauert werden, und die Zimmer brauchten neue Dielen und einen frischen Anstrich. Dann war das Gartenhaus wieder bewohnbar, erzählt Jürgen Jäger, der lange Jahre Gartenbaudirektor in Weimar war.
Take 15:
(Jürgen Jäger)
„Erst mal muss man vielleicht auch sagen, dass es kein Privileg war, hier zu wohnen. Das war ja ein ausgesprochenes, na ja, Außenseiterquartier. Ein Bürgerssohn aus Frankfurt kommt nach Weimar, lebt hier ganz in der Natur. Das lag natürlich in der Zeit der Aufklärung, der Rousseauschen Gedanken, aber wir wissen ja, dass seine Mutter ihn da sehr ermahnt hatte, er solle sich doch bald mal normal, bürgerlich in der Stadt ansiedeln.“
Sprecher:
Ein wenig Bohème umweht die schlichte Bleibe. Für die Nachwelt sind Goethe und sein Gartenhaus zum Synonym geworden. Schon bald nach Goethes Tod wurde es zur Pilgerstätte für deutsche Bildungsbürger, die auf der Suche nach Tiefe, Seelenheil und echten Werten waren. Da ist es Goethe nicht anders als Martin Luther ergangen, dessen Wohnungen und Sterbehaus schnell zu viel besuchten Pilgerstätten wurden.
Das
Rosenhaus haben die Architekten um 1900 entdeckt. Die Schüler von Theodor
Fischer, der in München Architektur lehrte, mussten während des Studiums das
Rosenhaus zeichnen. 20 Jahre später machte es der Architekt und Hochschullehrer
Paul Schmitthenner mit seinen Stuttgarter Studenten ebenso. Er war besonders
eifrig; seine Architekturtheorie hatte er bei Stifter umstandslos abgeschrieben.
Take 16:
(Uwe Bresan)
„Stifter schreibt in seinem schönen Text: ‚Ich bilde immer nur kleine Menschen ab, und das Kleine interessiert mich, weil in dem Kleinen sieht man immer einen Spiegel des Großen‘. Und Schmitthenner schreibt dann einfach 100 Jahre später: ‚Ich wollte immer nur kleine Häuser bauen, und die wollte ich gut bauen‘. Er benutzt dann tatsächlich den Text von Stifter und ändert nur ein paar Worte. Das ist einzigartig, das gibt es eigentlich nicht noch einmal, dass wirklich so ein literarischer Texte genommen wird und in Architekturtheorie eins zu eins umgesetzt wird.“
Sprecher:
Schmitthenners Entwürfe sind Variationen zum Thema Rosenhaus.
Dabei geht es auch um das Pflegen und Bewahren. Als offizieller Denkmalpfleger in Österreich hatte Adalbert Stifter den gotischen Schnitzaltar von Kefermarkt gerettet, an dem schon die Holzwürmer nagten. Im „Nachsommer“ ist es Freiherr von Risach, der einen Altar auf eigene Kosten restaurieren lässt. Auch das ist Teil einer heilen Welt.
Allerdings hatte Stifter ein Paradies beschrieben, das zu seinem realen Leben überhaupt nicht passen wollte. Arnold Stadler hat diesem Widersinn ein ganzes Buch gewidmet. In „Mein Stifter“ geht er mit viel Empathie auf Spurensuche.
Zitator:
„Ich habe einen Selbstmörder zum Vorbild.“
Sprecher:
… bringt Arnold Stadler seine Beziehung zu Stifter auf den Punkt.
Zitator:
„Wer Goethe liebt, kann nicht gleichzeitig Stifter lieben, Goethe hat es sich schwer, Stifter doch immer zu leicht gemacht.“
Sprecher:
… wird in Thomas Bernhards Roman „Alte Meister“ genörgelt. Bernhard lässt kein gutes Haar an seinem Landsmann Stifter, der ein Leben lang in prekären Verhältnissen leben musste. Er litt an Fresssucht und trank viel zu viel Alkohol. Biografien erwähnen, dass Stifter stets Geldsorgen hatte und eine erschöpfte Ehe. Wahrscheinlich kam er durch Selbstmord ums Leben. Absichtlich oder auch nicht, hatte er sich mit einem Rasiermesser den Hals aufgeschnitten.
Zitator:
„Alles an Stifter ist betulich, jungfernhaft tollpatschig, eine unerträgliche provinzielle Zeigefingerprosa hat Stifter geschrieben. Stifter ist nichts als ein literarischer Umstandsmeier. Stifter hat auf alles seinen Kleinbürgerschleier gelegt und es beinahe erstickt, das ist die Wahrheit.“
Sprecher:
Thomas Bernhards Kritik ist insofern komisch, als er selbst alles daran setzte, ein Rosenhaus-Leben zu leben. Sein Vierkanthof in der Stifter-Gegend wurde zum Refugium einer sorgsam geordneten Welt, die Wieland und Erika Schmied 1995 in einem Bildband genüsslich ausgebreitet haben.
Zitator:
„Die Grundausstattung des Gebäudes, wie Deckenbeleuchtung, Steh- und Tischlampen, Vorhangstangen und -haken, Garderobe und vieles mehr hat Thomas Bernhard selbst entworfen. Bilder, Schriftblätter und Stiche hat er in einem zum Charakter des Hauses passenden Stil gesammelt.“
Sprecher:
Als Thomas Bernhard 1965 den Hof erwarb, war dieser in einem miserablen Zustand und musste aufwändig restauriert werden. Danach lebte der Dichter in einem Haus, das einem Pfarrhaus nicht unähnlich war.
Zitator:
„Hier wie dort ist es ein Bauen, Wohnen und Denken,“
Sprecher:
… schreibt Arnold Stadler über die Gemeinsamkeiten von Adalbert Stifter und Thomas Bernhard. Es war Martin Heidegger, der 1951 während der „Darmstädter Gespräche“, einen Vortrag mit dem Titel: „Bauen Wohnen Denken“ hielt.
Schwere
Kost, aber nützlich, um das Rosenhaus besser zu verstehen. Heidegger betont,
dass Bauen und Wohnen eine gemeinsame Sprachwurzel haben. In früheren Zeiten
bedeuteten Bauen und Wohnen ein und dasselbe. Auch die Verbform „bin“ gehört in
diesen Zusammenhang. Der etymologische Exkurs führt zu der Erkenntnis, dass „ich
bin“ auch heißen könnte „ich wohne“.
Heidegger
beschreibt die Art und Weise, wie wir auf der Welt sind. Indem wir auf Erden
wohnen, sind wir gefordert, zu bauen und unsere Umgebung zu pflegen. Je sorgfältiger
wir das tun, umso erfüllter wird unser Leben sein. Stifter hat in diesem Sinne
ein Leben beschrieben, das keinen vordergründigen Nutzen sucht.
Take 17: (Arnold
Stadler)
„Schön finde ich auch bei Heidegger, das muss ich sagen, dass er sich über die Sprache ausspricht, das heißt, dass er seine Gedanken anhand der Dichtung formuliert. Das hat sonst niemand gemacht, stellen Sie sich Habermas vor. Auf Goethe hat sich Heidegger nicht berufen, aber auf Hölderlin und da Gedanken formuliert. Nee, das ist schön bei Heidegger.“
Sprecher:
Arnold Stadler hält den „Nachsommer“ für einen Sehnsuchts-Roman. Freiherr von Risach ist im Paradies schon angekommen. Für die Leser hingegen ist der „Nachsommer“ ein Stück utopische Literatur. Mit Heidegger lässt sich das besser verstehen oder auch besser kritisieren. Thomas Bernhard hatte kein Problem, Heidegger und Stifter in einen Topf zu werfen.
Zitator:
„Tatsächlich erinnert mich Stifter immer wieder an Heidegger, an diesen lächerlichen nationalsozialistischen Pumphosenspießer. Hat Stifter die hohe Literatur auf die unverschämteste Weise total verkitscht, so hat Heidegger, der Schwarzwaldphilosoph Heidegger, die Philosophie verkitscht, Heidegger und Stifter haben jeder für sich, auf seine Weise, Philosophie und die Literatur heillos verkitscht.
Heidegger
sehe ich immer auf seiner Schwarzwaldhausbank sitzen neben seiner Frau, die ihm
in ihrem perversen Strickenthusiasmus ununterbrochen Winterstrümpfe strickt mit
der von ihr selbst von den eigenen Heideggerschafen heruntergeschorenen Wolle.
Heidegger ist der Pantoffel- und Schlafhaubenphilosoph der Deutschen, nichts
weiter.“
Sprecher:
Viele der konservativen Reformarchitekten, Stifter-Verehrer und nicht wenige protestantische Pfarrersleute sind in den Armen der Nationalsozialisten gelandet.
Take 18:
(Christine Eichel)
„Der eigentliche Sündenfall war dann wirklich das Dritte Reich, das haben aber auch viele erst im Nachhinein bemerkt. Es gab vorher auch schon innerhalb der evangelischen Christen eine sehr große Bewegung hin zum Nationalismus, auch zum Antisemitismus.“
Sprecher:
Christine Eichel erwähnt eine unselige Entwicklung im Protestantismus.
Take 19:
(Christine Eichel)
„Es gab die Organisation ‚Deutsche Christen‘, die waren sehr stark national ausgerichtet, und insofern konnten dann auch im Dritten Reich die neuen Machthaber mit sehr viel Sympathie gerade auf Pfarrers Seite rechnen, das war fatal, viele haben auch geschwiegen, viele waren in der inneren Emigration, das war nicht gleichbedeutend mit Widerstand.“
Sprecher:
Solche Entwicklungen mahnen zur Vorsicht. Religionen und literarische Utopien sind nicht immer gewappnet für die harte Wirklichkeit, und sie sind anfällig, ideologisch vereinnahmt zu werden.
Atmo:
Schritte Lutherhaus
Sprecher:
Stefan Rhein betritt den großen Speisesaal im Wittenberger Lutherhaus. Hier traf sich zu Luthers Zeiten eine große Tischgesellschaft. An manchen Tagen waren bis zu 50 Menschen bei Luther zu Gast.
Take 20:
(Stefan Rhein)
„Es gab ein richtiges Ritual beim Essen, also am Kopfende sitzt der Reformator. Ja, und alle sind fixiert, orientiert auf den Hausherrn, alle haben ihm zuzuhören. Er bestimmt, was gebetet wird, er bestimmt die Gespräche, also er ist der Mittelpunkt. Auch wenn er mit dem Hund spricht. Ja, Luther hatte einen Hund namens Tölpel, der ein besonders dummer Hund wohl gewesen war, deswegen den Namen Tölpel verdient hat. Er sagt einmal so schön: Wenn doch nur jeder Christ so gierig nach Gott wäre, wie dieser Hund Tölpel nach dem Fleisch, das ich in der Hand habe. Alle waren auf ihn hin orientiert.“
Sprecher:
Ob Luther, Goethe oder Freiherr von Risach, sie alle gehören zu jenen selbsternannten Lehrern, die ihr Wissen stets und ständig an andere weitergeben. Im „Nachsommer“ hängt der junge Heinrich an den Lippen seines Mentors. Das hat Uwe Bresan veranlasst, Freiherr von Risach mit Goethe zu vergleichen, der seinen Eckermann bei Tisch auch ständig belehrte.
Take 21:
(Uwe Bresan)
„Der Begriff des Erziehers wurde ja so wichtig. Also in dieser Erzieher-Idee ist eben auch dieses ‚Biedermeier als Erzieher‘, auf dem Weg zum neuen Menschen, der ja das Ideal war. Dieser ganze Roman beschreibt eigentlich nur dieses ganze Leben in diesem Haus, und ein böser Kritiker schrieb damals auch : ‚Wenn Sie wissen wollen, wie Sie ihre Bibliothek richtig einrichten und ihren Schrank richtig aufräumen, dann lesen sie den Nachsommer‘. Das wurde tatsächlich als Erziehungsbuch, weniger als Roman verstanden.“
Sprecher:
Stifters „Nachsommer“ beschreibt ein irdisches Paradies, und je länger dieser Traum in der Welt war, umso mehr wuchs ihm e ine unverwüstliche Aura zu.
In
den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts kam es zu einer neuen Stifter-Renaissance.
Dichterkollegen wie Peter Handke, Andreas Meier oder Arnold Stadler bewundern
Stifter als Sprachkünstler, als einen Wegbereiter der Moderne im Vorfeld von Beckett
und Franz Kafka.
Das Rosenhaus als Vorbild für ein bürgerliches Leben – dieses etwas bigotte Biedermeier – tritt dagegen mehr und mehr in den Hintergrund.
Auch das Pfarrhaus verändert sich. Es hat es an Glanz verloren. Gerade hat die protestantische Kirche ihr Familienbild revidiert, das nun nicht mehr nur die bürgerliche Familie in den Mittelpunkt rückt. Doch die wackeren Pfarrersleute und ihre Kinder gelten bis heute als aufrecht und selbstbewusst. Dabei prägen protestantische Zeitgenossen wie Merkel, Gauck und Co. nicht mehr die Literatur, sondern die Politik, wo sie als verlässliche Menschen Achtung genießen. Sie gelten als moralisch integer, sagt Christine Eichel, es sind Menschen, denen man umstandslos vertrauen darf.
Take 22:
(Christine Eichel)
„Es gibt aber eben auch das Sehnsuchtsmuster, dass der Politiker eigentlich wie der Pfarrer, der noch nachts um zwölf an seiner Predigt sitzt und alle Sekundärtugenden auch preußischer Natur verkörpert, also die Pflichterfüllung, Disziplin, Leistungsethos, nimmermüdes Engagement, das ist eben auch eines dieser Sehnsuchtsmuster und ich glaube, dass die Leute mit Pfarrhausherkunft und die Theologen das irgendwie bedienen.“
Sprecher:
Die Sehnsucht nach einem gelungenen Leben bleibt, und so wird es das Rosenhaus auch noch lange geben. Es lädt zum Träumen und zum Nachdenken ein. Adalbert Stifter erzählt von einem irdischen Paradies. Nachbauen lässt es sich nicht. Der „Nachsommer“ bleibt ein rätselhaftes Buch, das sich tapfer behauptet in einer Welt voller Widersprüche.
Literatur
Uwe Bresan: Stifters Rosenhaus
Eine literarische Fiktion schreibt Architekturgeschichte
Mit einem Vorwort von Wolfgang Voigt
Leinfelden-Echterdingen,
Verlagsanstalt Alexander Koch
2016
Deutsch
248 Seiten
ISBN 978-3-87181-906-3
Preis 16,50 €
(erhältlich über: www.fachbuchquelle.de)
Original