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Special

Der reichen Küche gedeiht nicht jedem. Jurij Brězan wird 100 Jahre alt

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Am 9. Juni 2016 wäre der deutsch-sorbische Schriftsteller Jurij Brězan 100 Jahre alt geworden. Kurz nach der Wende sprach er über deutsch-sorbische Literatur und vor allem über seinen Roman „Krabat oder die Verwandlung der Welt“ (1976), den die Kritik nach seinem Erscheinen als einen sorbischen „Faust“ feierte. Der Beitrag will an den bedeutenden Schriftsteller aus der Lausitz erinnern.

Der Reichen Küche gedeiht nicht jedem
Jurij Brězan über seinen Roman ‚Krabat‘ und über die deutsch-sorbische Literatur

Jurij Brězan: Die Hero-und-Leander-Geschichte gibt es wahrscheinlich in allen Völkern, im Deutschen taucht sie auf als die Königskinder. Im Sorbischen gibt es das gleiche Motiv. Aber da die Sorben keine Könige hatten, handelt es sich nicht um Königskinder, sondern um einen Bauernjungen und ein Bauernmädchen, und das Ganze ist angesiedelt im Spreewald. Es ist Hochwasser, und er kann nicht zu ihr.

Za Kamjencom za horami,
tam tak wulke sněhi su.

Hdy by přišoł ćopły wětr,
by nam roztajał te sněhi.
Sněhi su wšě roztałe
a nětk wulke wody su.

Štóž ma lubku za wodu,
njemóže k njej přez wodu. (1)

„Wer sein Mädchen jenseits des Wassers hat, kann nicht zu ihr durch die Flut.“ Und er probiert es natürlich trotzdem, und natürlich ertrinkt er.

Die Kenntnis dieser beiden Böden war mir beim Schreiben immer gegenwärtig, obwohl nicht bewusst natürlich, aber sie war immer da und verlangte, dass ich versuchte, beides zu verbinden. Vielleicht ist verbinden nicht das richtige Wort, sondern aus den beiden Sprachebenen das für das im Augenblick Benötigte den richtigen Ausdruck zu finden. Es gibt kaum Sorabismen bei mir, die sind ganz, ganz gering. Aber es ließe sich wohl nachweisen, wie der Einfluss der sorbischen Volkssprache die Art des Erzählens im Deutschen bei mir beeinflusst. Es geht nicht um das rein Lexikalische. Es gibt in der sorbischen Sprache, oder es gab in der sorbischen Sprache für verschiedene Befindlichkeiten keine Worte. Wie eine Bauernsprache das Wort zum Beispiel ‚zärtlich‘ nicht kennt. Wenn ich nun aber diese Befindlichkeit ‚zärtlich‘ im Sorbischen schreiben wollte, so musste ich nach einem Mittel suchen, das in der Sprache selbst da war. Und ich fand manchmal etwas, was mir sehr schön schien. Und jetzt versuchte ich, in der deutschen Version auch nicht einfach das Wort ‚zärtlich‘ zu nehmen, sondern aus dem, was ich im sorbischen Text erfahren hatte, durch die Suche, das hinüberzunehmen in den deutschen Text.

Ich schreibe also niemals eine erste Version, eine zweite usw., obwohl das natürlich in Wirklichkeit passiert, aber es ist nicht meine Absicht. Ich schreibe nicht eine Rohfassung. Ich versuche von vornherein, eine letzte Fassung zu schreiben. Das bedingt aber, dass ich unter Umständen an einem Wort hängenbleibe. Nämlich an dem, was ich ganz genau im Sorbischen empfinde oder sorbisch denkend weiß und im Deutschen nicht das Adäquate herausfinden kann. Hinterher sind das ganz, ganz einfache Sachen. In Wirklichkeit ist es schwierig, und die besondere Art – wenn jemand das als besondere Art empfindet, wie ich schreibe – ist die Folge dessen, dass ich zwei Sprachen habe, die gleichwertig für mich sind, und die doch auf zwei verschiedenen Ebenen angesiedelt sind.

Vielleicht wäre zu sagen, ich kannte die Geschichte von Krabat von Kindheit an, und sie war eine richtige Story, die man gern las, und die man als Kind gern erzählen hörte. Später habe ich sie völlig aus dem Kopf verloren, und 1952 glaube ich, kam ein Verlag zu mir, und ein Kollege, ein sorbischer Kollege hatte diese Krabat-Geschichte in einem neuen Gewand aufgeschrieben, und zwar: Am Ende gab es die Bodenreform. Und ich sollte das übersetzen. Ich übersetzte und fand, dass hier ein großer Stoff drinstecke, und ich konnte den Stoff nicht benennen. Ich habe Jahre gebraucht, von 1952 bis Anfang der Sechziger Jahre, um überhaupt das erste Mal irgendetwas dazu sagen zu können. Und da schien es mir, dass Krabat eine Inkarnation oder auch eine Verifikation, ich weiß es nicht, der Geschichte und der Lage des sorbischen Volkes sei. Um so mehr, als in Wirklichkeit der bekannten Krabat-Legende oder Krabat-Sage immer wieder neue Stücke hinzugegeben worden sind, ganz offenbar, während das Ganze auf irgendetwas sehr Altem fußte. Und mir schien diese Figur geeignet, das zu machen, was mir vorschwebte, nämlich eine sorbische Epopöe.

Lesung
„Der Herr, der seinen Kodex vorläufig nur für das Paradies ausgearbeitet hatte, kratzte sich hinter dem Ohr und sagte kurz entschlossen: ‚Also passt mal auf! Ich verteile jetzt das ganze Zeug, wer was haben will, ruft Hier! Verstanden?‘ Die Leute hatten verstanden.

Der Herr griff in den Haufen und hielt hoch, was er gerade erwischte, zum Beispiel einen Elefanten. Ein Neger schrie: ‚Hier!‘ und kriegte den Elefanten. Nun hielt der Herr ein Pferd hoch. Krabat und ein Mann, der einen vornehmen Jagdanzug trug, standen nebeneinander, und beide riefen: ‚Hier!‘ ‚Wer war der erste?‘, fragte der Herr. Niemand konnte das mit Bestimmtheit sagen. Darum sprach er: ‚Schreit noch einmal: wer lauter schreit, erhält den Gaul.‘ Der Vornehme schrie lauter, das hörten alle, also bekam er das Pferd.

‚Du kriegst dafür die Kuh‘, sagte der Herr und gab Krabat die Kuh. Nun war der Hund an der Reihe. Wieder wollten ihn die beiden haben.
Der Jäger sagte: ‚Wenn ich auf die Jagd reite, brauche ich den Hund, Pferd und Hund gehören zusammen.‘ Der Herr sagte: ‚Das stimmt‘, gab ihm den Hund und sagte zu Krabat: ‚Du kriegst dafür die Katze.‘

Ganz zuletzt verteilte er Felder, Wiesen und Wälder. Der Vornehme machte geltend, dass logischerweise sie ihm zufallen müssten. Denn wie sonst sollte er frei auf Jagd ziehen können, wenn ihm nicht Felder, Wiesen und Wälder gehörten. Da hat er recht, dachte der Herr. Aber Krabat sagte: ‚Woher nehme ich dann das Futter für meine Kuh? Und gelernter Bauer bin ich auch!‘ Der Vornehme sagte: ‚Das Futter für die Kuh und die Bauernarbeit für dich bekommst du von mir.‘

Dem Lieben Gott schien der Handel nicht ganz geheuer, aber es war schon spät am Tage, und er wollte die Sache hinter sich haben. ‚Also gut‘, sagte er ziemlich lustlos, ‚machen wir es so.‘“

So oder so ähnlich hat es mein Großvater berichtet, und er war sowohl ein gottesfürchtiger als auch ein kluger und welterfahrener Mann.

Krabat verkörpert alle Sehnsüchte und alle Erfahrungen des Volkes. Mir war klar, wenn ich das überhaupt versuchen würde zu erfassen, dass ich mich völlig frei in Raum und Zeit bewegen müsste, wie schon die ursprüngliche Sage es ja tut. Das aber war mir von vornherein klar, dass ich keinen Versuch machen würde, das etwa im Mittelalter oder Ende des Mittelalters anzusiedeln, weil mir dann die Möglichkeit nicht gegeben wäre, aktuelle Fragen hereinzunehmen. Immer noch waren meine aktuellen Fragen die Fragen nach der Möglichkeit des Weiterlebens des Volkes und damit im Zusammenhang natürlich, welche Gründe, ob man sie herausfinden könnte, dass es überhaupt noch existiert. In dem Suchen nach einer möglichen Form entdeckte ich irgendwann mal in der Zeitung eine kleine Notiz über den ‚Club of Rome‘, die allerdings damals in England irgendwo zusammentrafen. Das war eine kleine, siebenzeilige Notiz über die Zusammenkunft von, wenn ich mich nicht irre, von sechs oder sieben Humangenetikern. Das verband sich mir auf für mich auch nicht erklärbare Weise sofort mit meinem Gedanken der sorbischen Epopöe. Ich kann das auch heute nicht genau erklären, wie sehr, wie viel es damit zu tun hat. Die Dimension des Krabat konnte man genau so etwa ausweiten, wie seinerzeit der Faust. Ich wusste, dass ich mich irgendwo dort in die Nähe begab, aber wollte nie einen sorbischen Faust schreiben oder so etwas. Da war nie ein Gedanke daran. Die Kritik hat später etwas davon gesagt und das ist schon recht; aber wann immer man den Urfragen nachgeht, kommt man unweigerlich in die Nähe vom Faust, das ist gar nicht anders möglich.

Ich selbst habe beim Schreiben keine Antwort bekommen auf keine der wesentlichen Fragen, aber trotzdem einen bestimmten Optimismus, der sich nicht bezieht allein auf die weitere Existenz des sorbischen Volkes, sondern überhaupt auf die Situation der Menschheit und die gerade in jener Zeit, das war die Zeit der Raketenhochrüstung in Europa. Hoffnung ist immer irgendwo irrational. Konrad Wolf fragte in einer Akademieveranstaltung, die diesem Krabat gewidmet war, ob ich Pessimist oder Optimist sei in dieser ganzen Beziehung. Und ich habe geantwortet: Ich bin ein Optimist wider besseres Wissen.

Und dieses Optimist-Sein wider besseres Wissen, das habe ich eigentlich aus der Beschäftigung mit dieser Figur; und mir scheint, dass es sehr vielen Lesern ähnlich gegangen ist. Und eine zweite Sache, die natürlich nur einen geringen Teil der sorbischen Leser betraf, ist das, dass allein die Tatsache, dass ein solches Buch in dieser Sprache geschrieben werden konnte, einen zusätzlichen Lebensimpuls gab.

(1)Das Gedicht heißt: “Za Kamjencom za horami” (Hinter den Kamenzer Bergen) aus der Violksliedersammlung Haupt/Smoler “Pěsnički hornych a dolnych Łužiskich Serbow” (Volkslieder der Sorben in der Ober- und Niederlausitz). ll., LXXXl. aus Sielow/Žylow, Niederlausitz. Grimma 1841-1843.

Das Gespräch mit Jurij Brězan fand im September 1990 im Cliff-Hotel auf der Insel Rügen statt. Es ist im Zusammenhang mit der Recherche zu einem Portrait für die Wochenzeitung „Die Zeit“ entstanden.
www.zeit.de/1990/45/die-indianer-mitteleuropas