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https://literaturmagazin.mojoreads.de/2020/11/30/buecher-flucht-migration/

Flucht und Migration Buchtipps

Geistiges Handgepäck – Bücher zu Flucht und Migration

Achim Engelberg Gesellschaft Buchtipps, Flucht, Herkunft, Literaturempfehlungen, Migration

Aus- und Einwanderungen reichen weit zurück und sind fundamental. Der Homo sapiens bevölkerte als „Homo migrans“ (Klaus J. Bade) die Erde. Flucht und Vertreibung gibt es leider in aller überlieferten Historie. Flüchtlinge sind „Boten des Unglücks“ (Bertolt Brecht), ihre Geschichten zeigen die Fieberkurve der Epoche an. In unserem planetarischen Zeitalter, wo es keine Orte jenseits der Weltgeschichte mehr gibt, gehören sie zum geistigen Handgepäck. Hier eine repräsentative Auswahl.
Ein Artikel von mojoreads.de Redakteur Achim Engelberg.


Wer aus seiner Heimat vertrieben wurde, kommt lebenslang nicht mehr davon ab. Mit dieser Prämisse entwickelt der Historiker Andreas Kossert in „Flucht. Eine Menschheitsgeschichte“ LESEPROBE ein Panorama, beginnend mit den deutschen Vertriebenen, über die er ein Standardwerk „Kalte Heimat. Die Geschichte der deutschen Vertriebenen nach 1945“ LESEPROBE verfasste, dann greift er aber zeitlich und räumlich aus. Es ist ein wissenschaftliches Werk mit Anmerkungen und publizistisch, da es frei von akademischem Wortgeklingel ist, und zugleich nimmt er literarische Stimmen bewusst auf. Die Vielfalt wird durch übergreifende Themen vor dem Abgleiten ins Beliebige bewahrt. „Ob aus Syrien, aus Schlesien oder aus Myanmar, die Flüchtlinge sind eine beliebte Projektionsfläche für jene, die Angst haben, ins Hintertreffen zu geraten, die ihre Sicherheit bedroht sehen.“

Die menschheitliche Dimension wird auch dadurch sichtbar, dass in allen drei großen monotheistischen Weltreligionen – dem Judentum, dem Christentum und dem Islam – Fluchtgeschichten erzählt werden. Die biblische Menschheitsgeschichte beginnt mit der Vertreibung von Adam und Eva aus dem Paradies, die islamische Zeitrechnung mit der Flucht oder Auswanderung Mohammeds aus Mekka. Abraham und Sara wären heute „Wirtschaftsflüchtlinge“, denn sie vertrieb der Hunger nach Ägypten. Moses war ein politisch Verfolgter. Joseph und Maria retteten sich mit dem Jesuskind über die Grenze in ein anderes Land, nachdem sie von einem bevorstehenden Massaker geträumt hatten. Seit die Menschen sesshaft wurden, gibt es Flüchtlinge, die dunklen Brüder und Schwestern der Auswanderer. Alle drei Religionen verlangen von den Gläubigen, dass sie sich dieser Notleidenden annehmen.

Der Pastor und Autor Johann Hinrich Claussen legt es knapp und erhellend dar in „Das Buch der Flucht. Die Bibel in 40 Stationen“ LESEPROBE. Auf dem Umschlag lockt zwar ein mittelalterliches Fresko, Giotto di Bondones „Die Flucht nach Ägypten“, im Buch findet man ausschließlich eindrucksvolle Fotos. Es sind jedoch keine Aufnahmen aus den letzten Jahren, sondern zeigen jüdische Einwanderer vor der Skyline von Manhattan um 1920 oder einen armenischen Jungen auf der Flucht im Jahr 1915 oder Sklaven auf der Flucht in den Wirren des amerikanischen Bürgerkriegs 1862. Sie lassen das Werk zwischen menschheitlicher Konstante und historischen Schwankungen vibrieren.

Diese reizvollen Spannungen gibt es auch in „Die Fremde“ des flämischen Autors Stefan Hertmans (Übersetzung Ira Wilhelm). Vor tausend Jahren verliebt sich die Tochter eines christlichen Normannen in einen Sohn des Großrabbiners von Frankreich, nach glücklichen Jahren geraten sie in die ersten Pogrome der Kreuzfahrer in einem Dorf in der Provence. Hundert Meter davon entfernt steht heute das Sommerhaus der Familie Hertmans. Es ist eine akribisch recherchierte Geschichte seines Dorfes aus der Sicht eines Flüchtlings, der sein Heil in entgegengesetzter Richtung sucht als die heute Ankommenden. Es ist eine tausend Jahre alte Geschichte und zugleich aktuell in der eigentümlichen, aber überzeugenden Mischung aus Autobiographischem und Dokumentarischem, aus Recherche und prallem Erzählen wie schon bei Hertmans Welterfolg „Krieg und Terpentin“.

„Heimat fordern immer die, die andere nicht reinlassen“, bemerkte der Regisseur Christian Petzold anlässlich seiner Verfilmung seines Lieblingsbuchs „Transit“ LESEPROBE von Anna Seghers. Es gibt in seinem Film keine Nazis in Marseille, sondern er dreht die Geschichte im Jahre 2018 als heutige. Anna Seghers begann ihr großes Buch auf der Überfahrt nach Amerika und beendete es im mexikanischen Exil. Volker Weidermann erzählt nun in „Brennendes Licht. Anna Seghers in Mexiko“ LESEPROBE davon – quellengestützt, mit vielen Zitaten, erdenschwer und himmelleicht. Ein guter Einstieg – mit dem Proviant des im Text erläuterten Literaturverzeichnis‘ kann man weit höher steigen. Im mexikanischen Exil, wo Trotzki ermordet wurde, wo die Kinder von Anna Seghers vom Kommunismus abfielen, wo das Künstlerpaar Frida Kahlo und Diego Rivera wirkte, ballen sich Widersprüche und Großleistungen der Epoche. Breiten Raum gibt Volker Weidermann der kurzen, lang nachhallenden Erzählung „Ausflug der toten Mädchen“ in der im Exil die Frage gestellt wird: „Was hat die Welt entzwei geschlagen und was hat die einen Mädchen auf die Seite der Unbarmherzigkeit gebracht und was die anderen auf die Seite der Hilfsbereiten, der Mitleidigen?“

Damit wird das Wesen des Exils dargestellt: die Welt, die man um einen herum haben möchte, ist zerschlagen und man trägt sie nur noch in sich. Daraus entwickelt Steffen Mensching in „Schermanns Augen“ LESEPROBE ein Jahrhundertbuch, das als solches nur von wenigen Kennern erkannt worden ist. Im fiktiven sowjetischen Gulag Artek treffen aufeinander der reale Graphologe und Hellseher Rafael Schermann, der vor den Nazis floh, mit dem fiktiven deutschen Kommunisten Otto Haferkorn. Die Welt der Wiener Caféhaus mit Adolf Loos und Magnus Hirschfeld und vielen anderen entsteht nicht im brennenden Licht Mexikos, sondern in der eisigen Dunkelheit eines Nebenlagers auf dem Weg zum berüchtigten Workuta, einem Grausamkeitspol des 20. Jahrhunderts.

Wer einige der Exilgeschichten der Personen in Eugen Ruges internationalen Erfolg „In Zeiten des abnehmenden Lichts“ LESEPROBE erzählt haben möchte, findet sie in „Metropol“ LESEPROBE. Seine Vorfahren flohen aus der Nazidiktatur und gerieten in den Großen Terror mit Schauprozessen und Massenverhaftungen. Ein Figurenreigen wird entwickelt, Dokumente eingestreut, Wahrscheinliches getestet. „Ich erfinde, ich unterstelle, ich probiere aus, denn nichts anderes heißt Erzählen: ausprobieren, ob es tatsächlich so gewesen sein könnte.“ Kein Dokumentarband, sondern ein Roman mit übergreifenden Themen entsteht dabei, der aktueller ist als der Autor beim Schreiben ahnen konnte. Er erzählt eine Geschichte darüber, „was Menschen zu glauben bereit, zu glauben imstande sind.“ Wer fragt sich das nicht täglich, was er glauben kann in einer verrückten, noch nie erlebten Realität?

Wahrlich, das 20. Jahrhundert war eines der Zwangsdeportationen wie der Auswanderungen. Und bislang geht es im 21. Jahrhundert abgewandelt mit steigenden Zahlen weiter. Nach den Zahlen der UNO-Flüchtlingshilfe waren im letzten Jahr mit 80 Millionen Menschen noch nie mehr auf der Flucht. Die Zahl verdoppelte sich in den letzten zehn Jahren.

Wer Unterschiede und Gemeinsamkeiten erfahren möchte, der ist gut bei Dina Nayeris „Der undankbare Flüchtling“ aufgehoben. Die während der islamischen Revolution 1979 in ein wohlbehütetes Elternhaus Geborene, musste als Zehnjährige mit ihrer Mutter fliehen. In ihrem neuen Buch verbindet sie ihre Erinnerungen an ihre Flucht und ihr Ankommen in den USA mit Geschichten von heutigen Flüchtlingen. Für diese wählte sie so oft wie möglich eine szenische Darstellung. Also wie so häufig bei Büchern zu diesem Thema eine Mischung aus Dokument und Fiktion.
Am Ende ihrer Geschichte – sie lebt mittlerweile in Paris – hat sie eine globale Familie, d. h. die Mitglieder sind fast um die ganze Welt verstreut. Im digitalen Zeitalter halten sie aber Kontakt, was Seghers oder Schermann nicht machen konnten.

Diese transnationalen Familienbande sind ein Phänomen unserer Zeit, aus der der aus Somalia stammende und in Südafrika lebende Nuruddin Farah im Roman „Im Norden der Dämmerung“  (Übersetzung Wolfgang Müller) einen weitgespannten Epochenroman über Flucht und Auswanderung, Terrorismus und Familienbande destilliert. Er erzählt von Europäern, die sich einreden, das Abendland verteidigen zu müssen, von Muslimen, die toben vor einer Verwestlichung. Islamistische und nordische Extremisten zeigen hier ihren gemeinsamen Januskopf. Ist dieser Roman die Facette, die ihm endlich den Nobelpreis bringt?

Vielleicht sind globale Familien, die über Kontinente hinweg leben, die Saat für eine planetarische Gesellschaft, sicher kann dies aber nicht behauptet werden angesichts der Klimakatastrophe, regionalen Kriegen mit transkontinentalen Beteiligungen und den extrem gespaltenen Gesellschaften vieler Nationalstaaten. Letzteres sind die Hauptgründe für Flucht und Migration heute.

Der chaotische, manchmal – wie in Aserbaidschan und Armenien – blutige Zerfall der Sowjetunion und das Bekenntnis zur Schuld an der Shoah hierzulande retteten die jüdischen Gemeinden in Deutschland. Obwohl viele Juden aus der ehemaligen Sowjetunion gar nicht gläubig waren, macht die sowjetischstämmige Minderheit inzwischen rund neunzig Prozent der jüdischen Gemeinden aus.

Über die Ankunft in Deutschland erzählt die in Moskau geborene Anna Prizkau in einem überaus gelungenen Debüt: Die zwölf Texte in “Fast ein neues Leben” LESEPROBE können als Geschichten, geschult an den großen Meistern wie Bunin oder Hemingway, gelesen werden – bilden aber auch einen Roman. Die Autorin poetisiert und verdichtet das biographische Material so, dass es als Parabel vom Weggehen und Ankommen gelesen werden kann. Geschrieben ist es in einem eigenen Sound, der aufhorchen lässt. Ein kurzes Buch mit langen Echos.

Immer mehr bereichern die deutschsprachige Literatur Bücher, die unser Land verfremdet erzählen oder uns von Herkunftsländern berichten. Zwar ist die bildende Künstlerin Cemile Sahin, die mit „Alle Hunde sterben“ LESEPROBE ihren zweiten Roman vorlegt, 1990 in Wiesbaden geboren, aber Ihre Vorfahren leb(t)en in der Türkei, wo die meisten Flüchtlinge weltweit aufgenommen werden, aber aus der zunehmend Verfolgte fliehen müssen. Auswanderung geschieht immer, weil man ein besseres Leben erhofft oder eine Gefahr verspürt, aber Gewalt gibt es nur bei einer Flucht. Und diese darzustellen ist ein schmaler Grat mit häufigen Abstürzen in Pornographie oder Kolportage. Wie Cemile Sahin das in neun Short Cuts, die alle in einem Hochhaus im Westen der Türkei angesiedelt sind oder dort enden, bewältigt, ist eine reife Leistung.  

Andreas Kosserts Schluss seiner Menschheitsgeschichte der Flucht könnte das Motto aller vorgestellten Bücher sein: „Flüchtlinge und das, was sie erleben und erleiden, führen uns vor Augen, wie zerbrechlich unsere scheinbar so sichere Existenz ist. Sie verschieben die Sicht auf die Welt, weil sich mit jeder Flüchtlingsgeschichte und jedem einzelnen Flüchtling die Frage stellt, wie fest wir wurzeln.“

Klaus J. Bade, der Nestor der deutschen Migrationsforschung, bemerkte einmal, dass am unerbittlichsten jene gegen Migranten reagieren, die ihre eigenen familiären Flucht-, Vertreibungs- und Auswanderungsgeschichten verdrängen. Suchen Sie mal in Ihrem Umfeld und Sie werden Beispiele finden. Versprochen.


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