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Der Straßenkampf hat begonnen

Plötzlich war die Wiese planiert. In der Donaustadt begannen vergangene Woche Vorarbeiten für die umkämpfte Stadtstraße Aspern. Es geht um mehr als ein paar Kilometer Asphalt.

Werner Schandl breitet am Rande der Blumengärten Hirsch ­stetten einen riesigen Stadtplan aus. Hier, mitten in der Donaustadt, züchtet die Stadtgärtnerei Blumen für das Stadtgebiet. Rosen blühen, Bienen summen, Teichwasser glitzert in der Sonne. Doch in Sichtweite des Idylls soll schon bald eine Asphaltwüste entstehen.

Schandl hebt den Blick vom Plan und zeigt auf das Feld vor ihm: „Da vorn würde ein Tunnel der Stadtstraße beginnen. Wenn sie das hier bauen, fahren täglich 40.000 Autos quasi durch die Kinderzimmer der Nachbarschaft."

Einige Kilometer Luftlinie weiter nimmt die Straße bereits Formen an. Das Hausfeld neben der U2-Trasse, früher ein Kornfeld, ist zur Großbaustelle geworden: Bagger heben Erde aus, ein Bohrgerät zieht Proben aus der planierten Steppe. Der erste Schritt zur Stadtstraße Aspern. Und in ihr sehen Kritiker den ersten Schritt zur Lobauautobahn. 

Seit 2012 kämpft Werner Schandl mit seiner BürgerInneninitiative „Hirschstetten-retten“ gegen die geplante Stadtstraße, ihr Rechtseinspruch hat das Projekt schon verzögert. Sollte die Stadtstraße gebaut werden, befürchtet Schandl mehr Verkehr und Bodenversiegelung. Er sorge sich um die Zukunft seiner Kinder.

Ulli Sima steht vor dem See in der halbfertigen Seestadt. In einem Facebook-Video plädiert die rote Verkehrsstadträtin Mitte Juli für die Stadtstraße. Die Seestadt brauche Verkehrsanbindungen, „neben dem U-Bahn-Anschluss und der Straßenbahn eben auch die Stadtstraße“, sagt Sima. Ohne neue Straßen würde Aspern „zur Schlafstadt, die Entwicklung würde in der Hälfte steckenbleiben, es bliebe ‚Wüste‘ im nördlichen Teil“, ließ sie zuvor in eine Pressemitteilung schreiben.

Aktivisten gegen Stadtregierung, Stadtplaner gegen Wissenschaftler, Anrainer gegen Anrainer – der Kampf um die Stadtstraße Aspern hat viele Fronten. Manche erhoffen sich von den vier Spuren durch den 22. Bezirk Verkehrsentlastung und Stadtentwicklung, für andere steht die Zukunft der Menschheit auf dem Spiel. Worum geht’s, und wer hat welche Argumente?

Die Geschichte der Stadtstraße ist eine über die Donaustadt, den größten Bezirk Wiens. Hier ist noch Platz, deshalb ziehen viele her, der 22. ist seit 2003 um circa 55.000 Menschen gewachsen. Fast 200.000 Donaustädter gibt es heute, allein in der Seestadt Aspern sollen in den nächsten Jahren Wohnungen und Arbeitsplätze für Zehntausende entstehen. Das bedeutet mehr Verkehr und für die SPÖ Wien: Mehr Straßen müssen her. Das Projekt ist komplex, seit fast 30 Jahren tüftelt die Stadt an einem Konzept für den Ausbau des Nordostens Wiens. Geplant war die Stadtstraße Aspern als Teil einer größeren Lösung: Eine Verlängerung der S1-Außenring-Schnellstraße sollte die Südosttangente (A23) entlasten. Dass der neue Teil der S1 ausgerechnet durch einen Acht-Kilometer-Tunnel unter dem Nationalpark Donau-Auen und das Naturschutzgebiet Lobau führen soll, empört Umweltschützer.

Insgesamt geht es beim Großprojekt also um drei zusammengehörige Straßen: die Stadtstraße, die S1 mit dem Lobautunnel und die sogenannte S1-Spange, die mit der Stadtstraße an die Südosttangente anschließt (siehe Seite 36).

Zwar wünscht sich die Stadt Wien alle drei Straßen, kann aber nur die Stadtstraße bauen: Für S1-Spange und S1 sind Asfinag und Bund zuständig. Und die Klimaschutzministerin Leonore Gewessler (Grüne) lässt seit Juli alle Straßenprojekte der Asfinag auf deren Vereinbarkeit mit den Klimazielen evaluieren. Also auch S1-Spange und S1.

Der Gemeinde bleibt somit nur die Stadtstraße, 2014 hat sie das Projekt eingereicht, im April 2021 hat der Gemeinderat das Budget freigegeben. Hieß es 2017 noch, das Projekt werde 317 Millionen Euro kosten, rechnet die Stadt inzwischen mit 460 Millionen. Rund die Hälfte trägt der Bund.

Die Grünen haben als Oppositionspartei beim Budgetbeschluss nicht mitgestimmt, obwohl ihre einstigen Verkehrsstadträtinnen Maria Vassilakou und Birgit Hebein zu Regierungszeiten maßgeblich mitgeplant haben. Dafür mussten nun die Neos, die stets gegen Stadtstraße und Lobautunnel waren, als Koalitionspartner die Finanzierung mittragen. Was sind die Argumente der Gegner und Befürworter?

Die Wiener SPÖ sieht das Projekt als wegweisend. „Ohne Stadtstraße und Lobautunnel wird das Wohnen in Wien teurer. Wir könnten die Donaustadt nicht mehr weiterentwickeln, daran hängen Arbeitsplätze und leistbarer Wohnraum“, sagt der rote Verkehrssprecher Erich Valentin.

Die Wiener Umweltbehörde hat das Thema bei der Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP) für die Seestadt Nord besiegelt: Neue Wohnungen gibt es dort erst nach Eröffnung der Stadtstraße und der S1-Spange. Die Stadt hat aber keine Alternativen zu Stadtstraße und Spange prüfen lassen – das Projekt ging durch.

Bis Leonore Gewessler die Spange auf Eis legte. Die Stadt könnte die Seestadt mit einer alternativen Straße weiterbauen, vertraut aber bisweilen darauf, dass die Grünen im Bund die Straßenprojekte leben lassen. Der Bau der Stadtstraße hat vergangene Woche begonnen, sie soll zwei Tunnel bekommen, 50 Stundenkilometer sind das Limit.

Die Roten argumentieren pragmatisch: Der Autoverkehr sei nun einmal eben da, sie wollen ihn erträglich leiten. Auch wenn das im Widerspruch zum rot-pinken Regierungsprogramm steht, laut dem die Stadtregierung die CO₂-Emissionen bis 2030 um die Hälfte senken will. Die Gemeinde habe das Projekt so ökologisch wie möglich gestaltet. „Im Einklang mit unseren Klimazielen“, sagt Valentin. Alle UVP-Auflagen seien erfüllt, auch deshalb sei das Projekt teurer geworden.

Das Verkehrsproblem in der Donaustadt ist unbestritten. Bis zu 17.000 Autofahrer pendeln jeden Tag in den Bezirk und finden an der Stadtgrenze zu wenig öffentliche Verkehrsmittel vor. Ihretwegen gilt ab 1. März 2022 das Parkpickerl auch in der Donaustadt.

„Wir brauchen eine leistungsstarke Straße, um die überlasteten Durchzugsstraßen zu beruhigen“, sagt Donaustadts Bezirksvorsteher Ernst Nevrivy (SPÖ). Die Stadtstraße allein könne das aber laut einem 2017 von Ex-Verkehrsstadträtin Vassila­kou in Auftrag gegebenen Expertenbericht zur Lobauautobahn nicht leisten. Es brauche mehr.

Wie notwendig die Entlastung ist, zeigt sich in Hirschstetten. Außer Autos und deren Lärm gibt es im alten Ortskern wenig, kaum Fußgänger sind unterwegs, an der Kreuzung staut es. Wenn die Stadtstraße fertig ist, sollen hier weniger Autos fahren und Parkplätze verschwinden, prognostizieren Stadt und Bezirk.

Doch nicht alles, was in Sachen Stadtstraße vernünftig klingt, ist für alle zufriedenstellend. Für Alfred Benda, Bewohner der nahen Siedlung Am Heidjöchl und Aktivist bei „Hirschstetten-retten“, ist die Entlastung seiner Gegend zu kurz gedacht: „Die Autos werden nicht mehr durch Hirschstetten fahren, dafür gibt es eine Autobahn dahinter, und es wird Rückstaus geben.“

Umweltorganisationen und Bürgerinitiativen haben den Kampf gegen die Stadtstraße ausgerufen. Um Arbeiten zu blockieren, haben sich Ende Juli Aktivisten der Umweltbewegung Extinction Rebellion an Ampeln festgekettet. Die Polizei hat fünf von ihnen festgenommen.

„Für uns geht es um die Zukunft unseres Planeten. Wir wollen die Lobauautobahn und die Stadtstraße um jeden Preis verhindern“, sagen Aktivisten dem Falter. Am vergangenen Freitag gab es die bisher letzte ihrer Baustellenblockaden. Sie wollen so lange protestieren, bis die Stadt einknickt.

Die Aktivisten wünschen sich einen Blick fürs Ganze: Weniger Anreize für Autoverkehr, die Donaustädter bräuchten Alternativen. Die Fridays-for-Future-Aktivisten befürchten durch die Lobauautobahn zusätzlich 100.000 Tonnen CO₂ pro Jahr. Die Stadt spiele mit ihrer Trinkwasserreserve und bedrohe die Artenvielfalt im Naturschutzgebiet, sagt eine Aktivistin von Extinction Rebellion.

Bei der Stadtstraße und dem Lobautunnel geht es nicht nur um die Ausformung konkreter Projekte, um Hoffnungen und Sorgen einzelner Anrainer, es geht um eine Weltanschauung: Brauchen wir für die Zukunft der Mobilität neue Straßen? Können moderne Antworten der Stadt auf Verkehrsprobleme nicht anders aussehen?

Fachleute glauben schon: Im April appellierten Wissenschaftler wie der Verkehrsplaner Hermann Knoflacher und die Klimaforscherin Helga Kromp-Kolb gegen die Stadtstraße, im August veröffentlichten die „Scientists for Future“ eine vernichtende Stellungnahme: „Die Konzeption entspricht nicht dem Stand der Wissenschaft für Verkehrsplanung und Stadtgestaltung“, steht darin. Der Neubau von Straßen führe zu mehr Autoverkehr, aber nur selten zu weniger Stau. Sie seien bestenfalls die Lösung für ein selbstverschuldetes Problem.

„In der Donaustadt war immer alles auf Autos ausgelegt“, sagt der Anrainer Alfred Benda. „Mit der Stadtstraße schaffe ich zusätzlichen Verkehr, nur ein Ausbau der Öffis könnte unsere Probleme lindern“, meint er.

Die von der Stadt extra für das Projekt Stadtstraße engagierte Mediensprecherin Karin Schwarz fordert eine Entemotionalisierung: „Seit Jahren beschäftigen sich Experten mit diesem Thema, und in der öffentlichen Wahrnehmung wird die Arbeit niedergemacht.“ Die Öffis würden ja massiv ausgebaut, es kämen neue Radwege. Diese Maßnahmen blieben oft unerwähnt. „Wir können den zusätzlichen Verkehr nicht mit einem Feldweg bewältigen“, sagt der rote Verkehrssprecher Erich Valentin.

Die Hauptarbeiten an der Stadtstraße sollen heuer beginnen, die Klimaaktivisten kündigen an: „Wird gebaut, wird besetzt!

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