Von Ellen Stickel
Stöbert man in einem schwachen Moment ziellos durch Wikipedia,
findet man eine Liste von Songs über Berlin. Die ist saftige 208 Titel
lang und bietet von Punk über Schmalzpop bis hin zu durchaus
ernstzunehmenden Indiebands jede Menge illustre Mitwirkende: Frank
Sinatra hat schon über Berlin gesungen, Bing Crosby, Falco und David
Bowie, Alphaville, Leonard Cohen, Robbie Williams und Die Sterne. Beirut
haben sich am Prenzlauerberg abgearbeitet, Bloc Party zogen Kreuzberg
vor. Berlin, das war die geteilte Stadt, die leidende Metropole, das
Sammelbecken für Widerständler und Querdenker. Irgendwann war das Thema
dann nicht nur musikalisch so oberpräsent, dass es auch der letzte Honk
kapiert hatte: Berlin is the place to be.
Was nach der Wende euphorisch angefangen hatte, wurde mit den
2000ern zum Furunkel am Hintern der Berliner. Jetzt trabten nicht nur
Herden von Touristen jedes Jahr durch die City, von überall her zogen
Kreative in die Hauptstadt - oder solche, die dachten, in einer coolen
Umgebung käme die Inspiration von ganz alleine. Seit 2000 ist die Zahl
der Unternehmen aus der Designbranche um fast 50 Prozent gewachsen, auf
rund 2 500 insgesamt. Es gibt inzwischen neun Modeschulen in Berlin,
mehr in einer Stadt gibt es in ganz Europa nicht. Über zehn Prozent der
Berliner arbeiten in der Kulturwirtschaft - und allein dieses Wort sagt
schon, was überall zu spüren ist: Das Ausleben künstlerischer Ideen ist
über die letzten Jahre zum Wirtschaftsfaktor mutiert, es geht um
Umsätze, Steuern und in Zahlen messbares Renommee für den knietief
verschuldeten Stadtstaat.
Was von vielen Berliner Kreativen bemängelt wird: Es fehle die finanzielle und strategische Unterstützung von Seiten der Stadt oder größerer Institutionen. "In Deutschland ist es leider nicht sexy, junge Kreative zu fördern. Aber das wird schon noch, Kunst und Kommerz können durchaus voneinander profitieren", findet Katja Schlegel vom Berliner Modelabel Starstyling. Sie führt es zusammen mit ihrem Partner Kai Seifried. Starstyling ist eines der Labels, das sich im schnelllebigen Berlin über die Zeit behauptet hat und nach zehn Jahren auf dem Höhepunkt seines kreativen Schaffens angelangt ist. Das Duo ist bekannt für experimentelle Entwürfe in knalligen Farbspektren, die ehemalige Kostümbildnerin Katja arbeitet gerne mit Mustern aus Klebeplättchen, Klettverschlüssen oder handgefertigten Prints. "Viele Ideen entwickeln sich erst, wenn ich die Dinge in den Fingern habe", erzählt sie. Im Jahr 2000 sind Kai und Katja von Stuttgart in die Hauptstadt gezogen - weil sie mit Anfang 30 nochmal woanders hin wollten. Berlin ist für sie momentan die Metropole mit der größten Freiheit, in der man nicht viel Geld oder Beziehungen braucht, um sich als Designer einen Namen zu machen.
Der Begriff Freiheit zieht sich durch, viele Künstler bemühen ihn, wenn sie gefragt werden, was den Charme der Stadt ausmacht. Hörspielsprecher und -produzent Oliver Rohrbeck nennt es Magnetismus: "Man kann hier unkonventionell leben, ohne dass man große Einmischung der Nachbarn fürchten muss. Dieses Lebensgefühl zieht einen magisch an." Die Schauspielerin Jana Pallaske, in Berlin geboren und aufgewachsen, kommt regelrecht ins Schwärmen: "In Berlin hat man einfach viele Möglichkeiten. Zu leben. Sich zu entfalten. Was neues Kreatives zu erschaffen." Sie macht das kondensierte Potenzial der Wiedervereinigung für die kreative Atmosphäre der Stadt verantwortlich. "Berlin war wie eine große, leere Leinwand, alles stand offen, man konnte es neu bemalen, erschaffen, beleben. Da war so viel Kraft, aus Zuversicht genährt. Ich meine: Welche Stadt auf der Welt kann denn mit so was noch aufwarten?"
Doch was ist das überhaupt für eine Freiheit? Die Chance, sich in einem kreativen Beruf zu verwirklichen und nebenher kellnern zu gehen, um die Miete bezahlen zu können? Oder die Möglichkeit, sich aufgrund günstiger Lebenshaltungskosten Zeit zu lassen mit der Entscheidungsfindung? "Man kann Gefahr laufen, seine Zeit mit Party und Rumlungern zu vertrödeln", sagt Jana Pallaske. "In NY, London oder L.A. kostet alles viel mehr, da kann man nicht den ganzen Tag Milchkaffee trinken."
Seit 2006 ist Berlin offiziell Unesco City of Design und damit in eine Riege mit Städten wie Buenos Aires, Montreal, Kobe, Nagoya und Shenzhen gerückt. London, Paris, Kopenhagen oder New York fehlen auf der Liste, die haben den markigen Aufkleber nicht mehr nötig. Berlin dagegen ackert in den letzten Jahren wie ein Muli, um seinen Platz auf der Designweltkarte zu markieren. Seit 2003 gibt es das jährliche Designfestival DMY, seit Sommer 2009 ist auch die zwischenzeitlich ins hippe Barcelona abgewanderte Modemesse Bread & Butter wieder zurück in der Hauptstadt - eine große Aufwertung für die Berliner Fashion Week, auch wenn diese im Vergleich mit den Programmen der einschlägigen Modemetropolen noch ziemlich popelig daherkommt.
Fiona Bennett, die mit ihren Hutkreationen seit Jahren sämtliche Stars der Republik und weit darüber hinaus versorgt, sieht die Entwicklung der letzten Jahre kritisch: "Es sind zu viele auf den Hype aufgesprungen, die mit Kreativität wenig zu tun haben, dieses Image aber kommerziell nutzen. Die Stadt lebt von ihrem Image, welches nicht mehr auf einem festen Fundament steht." Tatsächlich hat die Berliner Designbranche in den vergangenen Jahren fast ein Fünftel ihrer Umsätze eingebüßt. Einige zu schnell aufgepustete Blasen sind zerplatzt, andere Labels mussten sich gesundschrumpfen, auch der Anteil der Selbstständigen im Kulturbereich wächst stetig, Mini-Ateliers poppen auf und verschwinden im schnellen Wechsel.
Der Berliner Senat zieht daraus in seinem Kulturwirtschaftsbericht das Fazit: "Es ist dringend notwendig, die Vernetzung der Kreativen mit der Industrie zu stärken." Das klingt zwar höchst prima, aber auch eine bessere Vernetzung löst das Problem nur zum Teil. Vielmehr muss die Spreu vom Weizen getrennt werden, die Mitläufer von den Vorreitern, die wirklich lebensfähigen Konzepte von den mit zu viel Attitüde und zu wenig Ahnung gestarteten Projekten.
Birgit Kaulfuß vom Designernetzwerk Berlinerklamotten betreut seit Jahren mehr als 100 Modelabels aus der Hauptstadt. Sie sagt: "Es gibt am Ende nicht so viele, die das Potenzial haben, auch international erfolgreich zu werden. Das ist auch das Problem, das ich sehe, wenn es um Förderungen für scheinbar kreative Konzepte geht. Viele Entscheider sind zu empfänglich für Luftblasen." Ihr Kollege Eike Wendland findet aber auch, dass sich die Berliner Kreativszene extrem professionalisiert hat: "Berlin ist nicht mehr die Recycling-Schnipsel-Werkstatt."
Ist Berlin also wirklich noch die Stadt, um die sich das Stylekarussell in Deutschland dreht? Das gelobte Land, in dem es so einfach ist, sein eigenes Label, seine Agentur oder sein eigenes Kunstprojekt zu realisieren? Geht man danach, wie oft die Hauptstadt in diesem Zusammenhang in Gesprächen, Magazinen und TV-Berichten auftaucht, muss man klar sagen: Ja. Wenn es aber um den tatsächlichen kreativen Output geht, sieht es etwas anders aus. Stephan Velten, der als Musikmanager und DJ viel in der Szene unterwegs ist, findet: "Um wirklich kreativ zu sein, kann Berlin auch sehr negative Einflüsse haben. Es gibt zu viel Ablenkung und zu viele Leute, die kreative Prozesse verfolgen und bewerten. Und nicht zuletzt auch sehr viel Konkurrenz." Die belebt nicht nur das Geschäft, sie sorgt auch für gewaltigen Druck und die ständige Angst, aus dem Aufmerksamkeitsradius der Leute mit dem Geld rauszurutschen.
Wenn Sylke Rademacher die Vor- und Nachteile der Hauptstadt zusammenfassen soll, sagt sie: "Reichlich Optionen und wenig bezahlte Jobs." Vor kurzem hat sich die Produktdesignerin selbstständig gemacht. Gemeinsam mit Nicole Bednarzyk füttert sie nicht nur das Designblog "schoener.waers.wenns.schoener.waer", die beiden betreiben auch den gleichnamigen Laden in Kreuzberg, in dem sie nachhaltig designte Produkte verkaufen. Die Sachen müssen nicht nur in respektvollem Umgang mit Mensch und Umwelt gefertigt sein, sondern auch gut aussehen. Denn Nicole ist überzeugt: "Nachhaltiges Design kann nur überzeugen, wenn es eine bessere Alternative bietet - auch ästhetisch." Die beiden Frauen sind sich bewusst, dass eine Unternehmensgründung momentan waghalsig ist, dennoch haben sie den Schritt gemacht. "Das nachhaltige Leben ist kein Ponyhof, aber Subversivität, Ironie und Humor sind für uns Motivations- und Ideenquelle", sagt Sylke. Was ihnen in Berlin gefällt: In der grünen Szene gibt es einen starken Zusammenhalt. "Sonst herrscht leider unter Designern oft ein starker Konkurrenzkampf. Unschön und unproduktiv, weshalb wir uns da weitestgehend herausziehen", sagt Nicole.
Konkurrenz, die sich aus einem Überangebot an ein und demselben Ort speist. Wo sich so viel kreatives Potenzial bündelt, blockiert es sich teilweise selbst. DJ Stephan Velten glaubt an die kreative Kraft der kleineren Städte: "Brighton ist oft interessanter als London, in Marseille passiert viel Spannenderes als in Paris, und in Deutschland haben Hamburg oder München teils bessere künstlerische Szenen als Berlin." Liegt die Zukunft des Designs also in Niederaula, Göppingen oder Bremen? Das vielleicht doch nicht. Aber man sollte auch mal einen Blick abseits von Berlin riskieren - schon bevor die große Blase platzt.
[*Oliver Rohrbeck*] Foto: Nina Rübenberg
"Jeder findet in Berlin seinen Platz, sofern er sich traut. Trittbrettfahrer und Möchtegernflippies haben es hier sicherlich wegen des schnellen Tempos der Stadt schwerer."
Oliver Rohrbeck (44) ist einer der rührigsten Hörspielproduzenten Deutschlands. Bekannt wurde er durch seine Rolle als Justus Jonas in "Die drei ???" und als deutsche Stimme von Ben Stiller. Mit seinem Berliner Label Die Lauscherlounge veranstaltet er Live-Hörspielaufführungen und bringt Hörspiele jenseits von Grusel- und Kinderstorys heraus.
www.lauscherlounge.de
[*Jana Pallaske*]
"Seit Jahrzehnten ziehen frische, sprühende, innovative Menschen nach Berlin, haben Clubs, Cafés und Läden geschaffen, die Musik- und Kunstszene ausgebaut. Darum ist die Stadt so lebendig."
Jana Pallaske (30) platzt schier vor kreativer Energie: Sie hat lange Musik gemacht, spielt in Indiefilmen genauso wie in Tarantinos "Inglourious Basterds", hat neben Markus Kavka bei MTV moderiert, liest Hörbücher ein und tummelt sich auf allerlei Szeneveranstaltungen. Die Berlinerin ist kürzlich nach Los Angeles gezogen und dreht momentan mit den Gondry-Brüdern "A little Bit of me". Bei aller Abwechslung: An manchen Tagen vermisst sie Berlin sehr.
www.myspace.com/pallaske
[*Robert Stadlober*] Foto: Katrin B.
"Berlin ist der größte Spielplatz für Erwachsene weltweit. In keiner Stadt kann man im Beckettschen Sinne besser scheitern."
Robert Stadlober (27) ist in Österreich geboren, aber größtenteils in Berlin aufgewachsen. Nach einigen Jahren in Barcelona und Wien lebt er nun auch wieder dort. Er spielt in zahlreichen Filmen mit, betreibt mit einem Freund das Independentlabel Siluh Records und bringt mit seiner Band Gary am 28. Mai das Album "One last Hurrah for the lost Beards of Pompeji" heraus.
www.deathtogary.de
[*Stephan Velten*]
"Berlin ist wie ein Campingplatz: Jeder schlägt hier für eine gewisse Zeit sein Zelt auf und nutzt die Möglichkeiten, aber kaum jemand fühlt sich als Berliner. Berlin ist eine Spielwiese für Kreative, und viele dieser Spiele sind vorbei, bevor sie richtig angefangen haben."
Stephan Velten (34) ist Musikmanager und Radioredakteur beim Berliner Radiosender Motor FM. Als DJ Harold VeltenMeyer legt er seit zehn Jahren auf - einen ambitionierten Stilmix aus Techno, Acid, Elektro, Indie und Rock.
www.myspace.com/veltenmeyer
[*Fiona Bennett*] Foto: Marcel Steger
"Vor 15 Jahren war Berlin ein brodelndes Kreativnest ohne kommerzielles Denken, eigensinnig und bunt. Jetzt sind die Immobilienpreise ins Unendliche gestiegen, und die Kreativen müssen sich neue Wege und Plätze suchen."
Die Hutkreationen von Fiona Bennett bedecken nicht nur Berliner Häupter, auch internationale Musiker und Künstler sind begeistert von den Entwürfen der gebürtigen Britin. Seit 1999 hat sie einen Laden in Mitte und die Wandlung der Hauptstadt hautnah miterlebt.
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