Schaubühne
Regisseur Milo Rau über Lenin, die Revolution und wie er den Reichstag stürmt.
Elisa von Hof
Manche Bühnen haben ihm die Inszenierung verweigert, andere haben ihn zensiert. Mit seinen Theaterstücken provoziert er Skandale. Der Schweizer Milo Rau ist einer der kühnsten Regisseure und Dramatiker im deutschsprachigen Raum.
In Berlin probt er gerade mehreres gleichzeitig: An der Schaubühne ist in wenigen Tagen sein Stück "Lenin" zu sehen, eine große Ensembleproduktion mit zwölf Schauspielern, gleichzeitig stellt er ein Weltparlament auf die Beine, mit dem er den Reichstag stürmen will. Und dann kommt noch sein Film "Das Kongo Tribunal" in die Kinos. Ein Treffen zwischen Bühne und Tür.
Milo Rau: Ich glaube, mich hat der poetische und zugleich pragmatische Zugriff auf die Welt fasziniert, das revolutionäre, utopische Denken. Ich habe mich nicht nur für Lenin, sondern auch für Marx und Trotzki begeistert. Mein allererstes Erwachsenenbuch las ich mit zwölf, das war "Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte" von Marx, eine Studie über den Aufstieg von Napoleons Neffen 1850.
Doch, das ist sehr lesbar, Marx ist ein guter Autor, auch Trotzki, aber Lenin war ehrlich gesagt ein erbärmlich langweiliger Schreiber. Natürlich verehrt man mit zwölf, 13 Jahren Lenin, Che Guevara, andere Revolutionäre. Das waren meine Helden. Später hat sich das dann sehr gewandelt. Ich habe mich von vielen Positionen, die ich damals toll fand, weit entfernt.
Ich hab mich viele Jahre nicht mehr wirklich mit Lenin beschäftigt. Und natürlich fallen, wenn man sich wirklich in die Archive vertieft, die extreme Gewalt seiner Politik auf, seine Paranoia. Man sieht einen letztlich sehr kalten Menschen mit sehr viel Macht. Das ist eine gefährliche Mischung.
Ja, wir dekonstruieren ihn. Mein Stück ist eine pessimistische Studie über das Ende der Revolution. Wie die Utopien scheitern und in Bürokratie versacken.
Lenin ist ein sehr durchschnittlicher Mensch gewesen. Käme er in diesen Raum - wir würden ihn gar nicht bemerken. Ich habe mich gefragt: Wie kann aus diesem Durchschnittsmenschen ein Revolutionär werden, der Millionen mitreißt? Wie kann ein normaler Mensch zum Heiligen werden? Zu einem guten Teil durch Propaganda, durch Maskerade. "Lenin" ist also auch ein Stück über Schauspiel, über das Tragen von Masken. Und so dachte ich: Dann will ich zeigen, wie das geht.
Die Entstehung dieses technokratischen Politiker-Typus findet Anfang des 20. Jahrhunderts statt. Lenin gehört noch zur Generation des 19. Jahrhunderts, die haben Reden selbst geschrieben, Kleidung selbst ausgewählt. Stalin gehört schon zur Hitler-Generation, da ist alles genau geplant, Reden bestehen aus Versatzstücken, alles ist perfekt. Bloß hat man das in den 30ern noch gezeigt, in dem man offen von "Propaganda" sprach. Bei Merkel oder Macron ist das nicht mehr so: Heute tarnt sich alles mit technokratischer Unauffälligkeit.
Ja, eine Revolution der Institutionen. Die Frage lautet: Wie wollen wir die globalisierte Welt organisieren? Wir in Europa haben historisch Glück gehabt, wir sind auf der sicheren Seite. Das wollen wir bewahren, das ist auch verständlich. Aber wir können in unserem Mikrokosmos nicht weitermachen: Denn wenn die Demokratie nicht für alle Menschen gilt, dann gilt sie für niemanden.
Der Deutsche Bundestag macht internationale Politik, wird aber nicht international gewählt. Er macht zum Beispiel Minengesetze in Afrika, legalisiert Waffenlieferungen in den Nordirak, aber die Betroffenen haben kein Stimmrecht. Natürlich ist das ein globales Problem: Wir haben eine globalisierte Wirtschaft, aber nationale Demokratien. In unserem symbolischen Weltparlament bekommt jede der Betroffenen-Gruppen eine Stimme: Abgeordnete aus aller Welt, Ungeborene, Tiere, sogar Dinge und Cyborgs.
Durch legitime Vertreter - und vor allem dadurch, dass sie überhaupt einmal in einem Parlament vertreten sind. In so vielen Dingen, von der Informationspolitik bis zur Ökologie, ist die Menschheit eine Schicksalsgemeinschaft, diese Gemeinschaft hat aber keine demokratische Vertretung. Wir werden also alle einladen, alles thematisieren. Zum Beispiel wird der Türkeikritiker Can Dündar kommen und gleichzeitig jemand, der Erdoğan vertritt. Das Gleiche gilt für Russland. Wir haben Dissidenten und wir haben Maksim Shevchenko, eine der Gallionsfiguren des Putinschen Staatsfernsehens. Wir versuchen, wie in einem echten Parlament Themen zu debattieren und nicht einseitig, also moralisch zu betrachten. Wir haben auch die Abgeordneten des Bundestags aufgerufen, sich uns anzuschließen. Bisher sind neun Abgeordnete verschiedener Fraktionen dem Aufruf gefolgt, was uns sehr freut.
Es geht nicht darum, dass da fünf oder 50 Leute reinrennen und wieder rausgeschmissen werden. Das wäre albern, mal davon abgesehen, dass der Reichstag im Gegensatz zur Volksbühne eine absolute Hochsicherheitszone ist. Nein, uns geht es um die Symbolik. Wir wollen nicht nur als Happening, sondern politisch in den Reichstag eindringen. Als realer Forderungskatalog, als reale Gemeinschaft. Und ein Bild dafür schaffen.
Beides. Es ist symbolische Politik. Wir gründen mit der "General Assembly" eine globale Legislative, die eine Charta verabschieden wird für viele Fragen.
Schaubühne, Kurfürstendamm 153: "Lenin": Premiere am 19.10. (ausverkauft), 20. + 21.10., 20.30 Uhr, 23. + 24.10., 20 Uhr. "General Assembly": 3.-5.11., ganztägig. Mehr Info: www.general-assembly.net© Berliner Morgenpost 2017 - Alle Rechte vorbehalten.