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Jenny Erpenbeck hat das Buch zur Stunde geschrieben

Deutscher Buchpreis

"Gehen, ging, gegangen" handelt von der Konfrontation mit Flüchtlingen. Die Berliner Autorin ist für den Deutschen Buchpreis nominiert.

Elisa von Hof


Schriftstellerin hat sie nie werden wollen. Zu viele gäbe es schon in ihrer Familie. Ihre Oma, die populäre DDR-Literatin Hedda Zinner, ihr Opa Dramaturg und Schriftsteller, ihr Vater Wissenschaftler und Schriftsteller. Zu schreiben erscheint ihr nicht besonders originell.

"Ich wollte lieber was ganz eigenes machen", sagt Jenny Erpenbeck. Das ist jetzt über zwanzig Jahre her. Mit ihrem siebten Werk " Gehen, ging, gegangen" schafft es die Berlinerin nun in die Finalrunde des Deutschen Buchpreises. Irgendwie, sagt sie, habe das mit dem Schreiben eine Eigendynamik entwickelt.

"Ich gebe mir meine Arbeit selbst"

Als sie irgendwann also doch zu Papier und Stift greift, 1994 ist es, da geht es ihr ähnlich wie der Hauptfigur ihres neuen Romans. Erpenbeck steht an einer Übergangsstelle, hat eine Ausbildung zur Buchbinderin und ein Musiktheater-Regie Studium hinter sich und noch keinen Job in Aussicht. Sie hat Zeit. Was für sie, genau wie für ihren Protagonisten Richard, ungewohnt ist.

"Da dachte ich, ich gebe mir meine Arbeit jetzt selbst", sagt Erpenbeck, genau wie Richard. Sie schreibt also doch. Und zwar eine Geschichte, die ihr schon länger im Kopf herum spukt. Aber sie legt den Text in eine Schublade. Erst einige Jahre später wird sie den Text bei einem Verlag einreichen, und auch das nur "als Beweis, dass ich schon mal was geschrieben habe".


Der Erfolg lag in der Schublade

Literarisch unehrgeizig sei sie eben gewesen, wollte eigentlich einen ganz anderen Text zeigen. Erpenbeck, eher nachdenklich, runzelt ihre hohe Stirn. Manchmal, wenn sie von früher erzählt, dann lächelt sie. So wie jetzt. Veröffentlicht wird dann nämlich doch der erste Text, der aus ihrer Schublade. Es ist "Die Geschichte vom alten Kind", ihr Debütroman.

Seither sind einige Literaturpreise in ihr Regal gewandert. So viel Zeit wie damals, als sie ihren ersten Roman schreibt und ihn über Jahre in der Schublade verwahrt, hat Erpenbeck schon kurz danach nicht mehr. Sie geht als Regieassistentin an die Oper in Graz, inszeniert dann auch selbst. Bis es zu der Veröffentlichung dieses ersten Romans kommt.


Das Faszinosum Zeit

Die Feuilletons bejubeln die Geschichte über eine Erwachsene im Mädchenkörper. Erpenbeck bekommt Schreibaufträge. Aber Schreiben und Inszenieren, das frisst viel Zeit. Als ihr Sohn zur Schule kommt, fällt die Entscheidung zwischen Bühne und Schreibmaschine zugunsten des geschriebenen Wortes.

Zeit, die beschäftigt sie aber immer noch. So sehr, dass sie die Protagonisten ihrer Romane mit ihr konfrontiert. "Zeit hat mich schon immer fasziniert. Man kann sie nicht sehen, aber sie verwandelt uns, verwandelt sogar unseren Blick auf das, was war, immer wieder. Mit ihr wird Politik gemacht, mir ihr wird auch Macht ausgeübt, wird gekämpft. Zeit ist, auch und gerade in Biographien, immer viel mehr als nur eine Chronologie der Ereignisse."

Wie sich Menschen in ihrer Zeit zurecht finden, wie sie mit dem Zeitgeschehen umgehen, das ist ein zentrales Thema ihres literarischen Schaffens. Erpenbeck scheint sich stets aufs Neue zu fragen: Was wäre, wenn. In "Heimsuchung", Erpenbecks Roman von 2007, erzählt sie zwölf Leben anhand eines Hauses an einem märkischen See nach. Sie beobachtet still, erzählt unaufgeregt.

In "Aller Tage Abend", Roman von 2012, lässt sie ihre Protagonistin fünf Mal sterben, um dann die verschiedenen Möglichkeiten aufzuzeigen, die ihr Schicksal hätte nehmen können. "Das sogenannte Schicksal gibt es nicht, das ist Unsinn. Niemand schickt uns an ein paar Schnüren durch die Welt. Wir machen unseren Weg selbst, indem wir Entscheidungen fällen, deren Tragweite uns vielleicht gar nicht bewusst ist.


Die Wand zwischen der echten und anderen Welten

Auch Zufall ist so ein zweifelhafter Begriff. Den "Zufall" machen wir, indem wir uns entscheiden", sagt die 48-Jährige. Was wäre, wenn. Es ist diese Welt des Konjunktivs, die Erpenbeck interessiert. An manchen Punkten im Leben scheint die Wand zwischen der echten und dieser möglichen Welt ganz dünn. Da setzt Erpenbeck mit ihrem Stift an. Auch in ihrem neuen Roman.

Hauptfigur Richard, emeritierter Professor für alte Sprachen, hat durch seine Pensionierung plötzlich Zeit - so wie noch nie in seinem Leben zuvor. "Mit unausgefüllter Zeit konfrontiert zu sein, bedeutet immer, mit sich selbst konfrontiert zu sein.

Besuche im Flüchtlingsheim

Man stellt sich grundsätzliche Fragen, zum Beispiel, was eigentlich wichtig ist, wie die eigene Lebenszeit vergeht, wozu man überhaupt auf der Welt ist", sagt sie. Was wäre, wenn. Das tut Richard. "Über das sprechen, was Zeit eigentlich ist, kann er wahrscheinlich am besten mit denen, die aus ihr hinausgefallen sind", heißt es im Buch.

Auf der Suche nach einer Antwort, aber auch nach einem Zeitfüller, geht er in ein Flüchtlingsheim in Berlin. Spricht mit den dort untergebrachten Flüchtlingen, hört sich ihre Geschichten an. Zuerst aus reiner Neugier, "auf amoralische Weise und ohne Wertung", wie Erpenbeck es nennt. Dann rutscht er immer tiefer in deren Alltag hinein, der eigentlich nur aus nichts tun besteht. Denn leere Zeit, das stellt sich schnell heraus, haben Richard und die Flüchtlinge gleichermaßen.


Der Impuls kam durch erschütternde Nachrichten

Der Impuls, diese Geschichte zu schreiben, erreicht sie vor zwei Jahren. Bei einem schweren Bootsunglück kommen mehrere hundert Flüchtlinge ums Leben. Erpenbeck ist betroffen über die Reaktionen in Europa. Empfindet sie als hart und angemessen. Sie möchte sich mit dem Thema beschäftigten. Und geht los. Zuerst zu Hungerstreikenden am Brandenburger Tor, dann weiter zu den Flüchtlingen auf dem Oranienplatz. Dort stellt sie Fragen, arbeitet sich in die europäischen Asylgesetze ein.

Für sie ist es ein Privileg ihres Jobs. "Ich schreibe einfach gern, weil ich mich gern mit Dingen auseinandersetze und in Ruhe nachdenke. Das hat in erster Linie auch eine egoistische Komponente, denn das mache ich eigentlich für mich", sagt sie geradeheraus. Dann, genau wie ihr Protagonist, besucht sie ein Flüchtlingsheim. Jetzt ist sie ehrenamtlicher Vormund für einen Jugendlichen, der ohne Eltern nach Europa geflohen ist.


Nüchtern, nachdenklich, ohne Melodramatik

Wenn man sich ihnen zuwende, findet sie, sieht man durch eine andere Perspektive auf seine eigene Welt. Das hat sie in ihrem Roman niedergeschrieben. Herausgekommen ist eine Geschichte über das Leben der Asylsuchenden: Unbedingt irgendwo ankommen wollen und doch nur mit Warten hingehalten werden. Das berührt. Wegen des sensiblen Protagonisten Richard, aber auch wegen Erpenbecks Ton: Nüchtern, nachdenklich, aber nicht um Melodramatik feilschend.

"Das Leben der Flüchtlinge, das ist kein wirkliches Leben. Es ist ein Zwischenzustand", sagt sie. In diesem Zwischenstadium offenbart sich wieder diese Welt des Konjunktivs, die Erpenbeck beschäftigt: Was wäre, wenn. Wenn sie die Flüchtlinge vor dem Fernseher sitzen sieht, während gerade eine Meldung über ein Bootsunglück im Mittelmeer gebracht wird, merkt sie, dass die Männer in den Bildern immer auch ein bisschen sich selbst erkennen.


Festsitzen zwischen zwei Welten

"In diesen Momenten ist beides anwesend: Die Möglichkeit, dass auch sie selbst gestorben sein könnten, aber auch die Hoffnung, dass sie doch noch eine Zukunft haben werden. Zwischen diesen beiden Welten, der der Toten und der der Lebendigen, sitzen sie fest", sagt sie.

Das bewegt sie. Auch nach ihrer Recherche. "Das Schreiben ist eigentlich nie die Auflösung eines Problems. Im Schreiben stellt man die Frage, man beschreibt die Dinge. Es ist der Anfang, nicht der Endpunkt", sagt Erpenbeck. Was wäre, wenn.

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