Ein neuer, dicker Band bündelt 483 Briefe der DDR-Schriftstellerin. 15.000 Exemplare finden sich insgesamt in ihrem Nachlass.
Elisa von Hof
"Ich habe das starke Gefühl, in einer schwebenden Luftblase zu leben, die durch ein kompliziertes, instabiles Kraftfeld in ihrer Schwebe gehalten wird", schreibt die Literatin Christa Wolf 1984 an einen Freund. Jederzeit könne die Blase zerbersten, jeden Moment kann sie herabstürzen auf diesen unsicheren Grund. Auf ihre DDR. Nein, hier schreibt keine "Staatsdichterin", hier schreibt auch keine Sozialismusenthusiastin, jedenfalls nicht mehr.
Christa Wolfs Beziehung zu ihrer Heimat hat sich Mitte der 80er-Jahre auf Nullgrade abgekühlt. Wie sehr, das lässt sich nun in einem neu erschienenen Konvolut an Briefen nachlesen: 483 davon enthält der Band "Man steht sehr bequem zwischen allen Fronten". Und es ist dieser Titel, der nach der Lektüre (über 1000 Seiten mit Fußnoten, Register und Anhang) am meisten irritiert.
Denn wer Wolfs Literatur, die kantigen Romane "Kassandra" oder "Medea", das erzähltechnisch clevere "Kindheitsmuster" oder den romantischen Rückgriff "Kein Ort.Nirgends" kennt, der weiß, so richtig gemütlich gemacht, hat es sich Wolf nie. Schon gar nicht zwischen den Fronten, DDR und Bundesrepublik, Ostblock und Westbündnis.
Gehen oder Bleiben, Schweigen oder Schreiben. Stattdessen zweifelt sie, grübelt, hadert - mit der Politik, dem Osten wie dem Westen, mit der Nazivergangenheit und der Gegenwart, mit dem "Scheitern des Experiments" DDR und vor allem mit sich selbst. Das artikuliert Wolf zum Teil in ihren Romanen, vor allem aber in autobiografischen Schriftstücken wie diesen. Aber klar, "dieses Gefühl, zwischen falschen Alternativen zu leben", wie die Schriftstellerin schreibt, das macht sich halt nicht so gut auf dem Cover.
Heiner Müller, Jürgen Habermas, Wolfgang Thierse, Manfred Krug, Elfriede Jelinek, Maxie Wander, Anna Seghers, Heinrich Böll, Max Frisch und Günter Grass. Die Liste von Wolfs Konversationspartnern ist so lang wie prominent. Auch wenn Wolf das Briefeschreiben manchmal vor sich her- schiebt wie Telefonate mit lang nicht gesehenen Freunden, manchmal verflucht ("Briefe schreiben ist Mist") und weiß, dass alles auch von der Stasi eifrig mitgelesen wird ("Meine Post wird beinahe lückenlos kontrolliert"), schreibt Wolf unentwegt - über ihren Alltag, die Familie, ihre Töchter Annette und Katrin und Ehemann Gerhard, später über Krankheiten und Ängste, über aktuelle Lektüre, und Politik.
15.000 Briefe finden sich in ihrem Nachlass in der Akademie der Künste. Die Archivarin und Herausgeberin dieses "ersten Angebots", wie Sabine Wolf diese Briefsammlung nennt, musste also stark selektieren. Sie hat eine Auswahl getroffen, die besser als jedes Geschichtsbuch Eindrücke aus einer Zeit vermittelt.
Mit den Briefen lässt sich durch diese Zeit reisen, von 1952 bis 2011, von Wolfs Germanistikstudium bis zum Todesjahr, von ihren fast naiven Schwärmereien für diesen neuen Staat und die "neue moralische Qualität unserer Gesellschaft" bis zum verzweifelten Bruch bei seinem Untergehen. Diese DDR, die fühlt sich in Wolfs Briefen nicht an wie ein abgeschlossenes Kapitel im Geschichtsbuch, die ist lebendig. Wolf schreibt sich an ihr ab, oft bis auf die eigenen Knochen, denn man "muß sich alles genau ansehen, was man geschrieben hat, muß sich selbst überprüfen, ob man ohne Hintergedanken geschrieben hat und es immer und überall verteidigen könnte."
Diese Suche nach der Wahrheit, nach einer subjektiven Authentizität, die wird ihr Schreibprinzip, bereits hier, in einem Brief an die enge Schriftstellerfreundin Sarah Kirsch 1963, als ihr erster Roman "Der geteilte Himmel" erscheint. Wolf will schreiben, was ist. Schonungslos, "kompromißlos", wie es in den Briefen häufig heißt, vor allem sich selbst gegenüber. Es hilft ihr bei Schmerzen, Konflikten, Ängsten. Denn, "beim Schreiben kann man ja nicht lügen, dann ist man blockiert."
Die Frage, warum sie die DDR trotzdem nicht verlässt - obwohl ihre Hoffnung "erschöpft" ist -, beantwortete sie einmal so: "Drüben, in der Traum-Leere, würde ich mein Thema verlieren, ich bin zu alt, ein neues zu gewinnen."
Christa Wolf: Man steht sehr bequem zwischen allen Fronten. Briefe 1952-2011, Suhrkamp, 1040 Seiten, 38 Euro.© Berliner Morgenpost 2017 - Alle Rechte vorbehalten.
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