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Ein gigantisches Puppenhaus steht auf der Bühne

Theatertreffen

Am heutigen Sonnabend startet das Theatertreffen. Eines der zehn Gastspiele findet in Oberschöneweide statt. Ein Besuch.

Elisa von Hof


Orangefarbene Riesenschläuche winden sich auf dem Boden und pressen heiße Luft aus sich heraus, denn noch ist es frisch in der fußballfeldgroßen Halle im Südosten Berlins. Dass hier ab Sonntag Theater gespielt wird, erkennt man erst, wenn man vor dem Bühnenbild steht. Denn von außen sehen die Rathenau-Hallen, die sich als Kunstquartier etablieren sollen, eher nach Oberschöneweider Industriemittelpunkt aus. Das kommt dem Theatertreffen, das für eine Inszenierung die Hallen gemietet hat, recht gelegen. Denn das will ja offen und modern sein. Es möchte bitte kein Erzähltheater mehr, und wenn doch, dann nicht so, wie sich Tschechow das einst dachte.


Neue Erzählformen sollen ausgetestet werden

Am heutigen Sonnabend startet das Theatertreffen, das bis zum 21. Mai die zehn Inszenierungen präsentiert, die von einer Kritikerjury als die "bemerkenswertesten" dieser Saison im deutschsprachigen Raum ausgewählt wurden. Live aber werden in Berlin nur acht Produktionen zu sehen sein, der "Schimmelreiter" vom Hamburger Thalia Theater fällt krankheitsbedingt aus, "Die Räuber" vom Münchner Residenztheater können aus technischen Gründen nicht gezeigt werden.

377 Stücke haben sich die Juroren angesehen. In die Top Ten haben es zwei Schweizer Produktionen geschafft und zwei internationale Kooperationen, ein Berliner Stück (Herbert Fritsch mit "Pfusch") und eines mit Berliner Beteiligung ("Real Magic" war schon im HAU zu sehen), man hat viele junge Regisseure geladen, aber wenig klassische Stoffe, bloß Schillers "Die Räuber" und Tschechows "Drei Schwestern" haben es in die Auswahl geschafft, aber nicht mit Originaltext. Nein, das Theater soll eben nicht stag­nieren, lautet die Maxime des 54. Theatertreffens. Klar, dass man die Zehnerauswahl daher etwas pathetisch unter dem Motto "Zeitenwende" zusammengerafft hat. Das trifft auch auf das Treffen selbst zu. Denn neu ist in diesem Jahr ein Festival im Festival: "Shifting Perspectives" zeigt am zweiten Wochenende zusammen mit dem Goethe-Institut fünf internationale Gastspiele, auch der Stückemarkt ist in das Programm des viertägigen Mini-Festivals gerutscht, dazu gibt es Workshops, Filme, Konzerte und die Konferenz "The Art of Democracy". Es gilt also überall, neue Erzählformen auszutesten.

Das hat sich Kay Voges, Intendant des Theaters Dortmund, ohnehin vorgenommen. Seit sieben Jahren "forscht" er, wie er gern sagt, in seinem Theaterlabor nach gegenwärtigen Spielformen. Er bindet Video und Foto in seine Stücke ein, es gibt Live-Regie und Twitterdialoge mit dem Publikum. Sich bloß nicht gegen die digitale Gegenwart zu stemmen, lautet seine Devise. Mit der Inszenierung "Die Borderline Prozession" ist er erstmals zum Theatertreffen geladen - nach Oberschöneweide.

Denn Voges braucht Platz. In ein Theater hätte sein Bühnenbild nicht gepasst. Zu groß. Weil es in seinem Stück um "die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen" gehen soll, erzählt er nicht nur eine Geschichte, sondern viele - wie auf Facebook. Auch da steht ja Video neben Foto neben Textpost, man klickt von Link zu Link, von Geschichte zu Geschichte. Es ist wohl Voges Konzept, das aus dem virtuellen Raum auf die Bühne zu heben. In "Die Borderline Prozession", das am Sonntag Premiere in Berlin hat, kann der Zuschauer selbst entscheiden, welcher der parallel erzählten Geschichten er folgt. Dazu hat Voges gleich ein ganzes Haus in die Rathenau-Hallen bauen lassen: Einen Jacuzzi gibt es und einen Kraftraum, Sonnenterrasse und Wohnzimmer, Schreibstube und Bad, dazu fünf weitere Zimmer im Retro-Look, auch Bushaltestelle und Kneipe. Das Publikum sitzt um das Puppenhaus herum, nie kann man alle Räume sehen, nie alle 23 Schauspieler, in den Pausen aber den Platz wechseln. "300 Zuschauer werden zusammen dieses eine Stück sehen und dennoch wird jeder einen anderen Abend erleben", sagt Voges. Dass die Jury ihn nach Berlin eingeladen hat, das sei ein Glück, sagt der 44-Jährige. Das ist eine Auszeichnung, aber auch Ermutigung, bloß weiterzumachen mit dem, wie es die Jury nannte, "philosophischen Totaltheater".


Die Gegenwart spielt die Hauptrolle

Diese Formulierung gefällt ihm. Denn Voges will sowieso seine Grenzen testen. Was kann man den Zuschauern zumuten? Kamerafahrten, klar. Live-Regie auch. Aber Virtual-Reality-Brillen, Roboter und Hologramme? Voges ist offen für die Ergebnisse der digitalen Revolution und glaubt, der Zuschauer ist es auch. "Wenn das Theater seine Relevanz behalten will, muss es sich einfach mit den Medien der Gegenwart auseinandersetzen", sagt er. Und auch mit den Inhalten. "Es hilft unserer Gesellschaft nicht, wenn wir uns mit Bildern beschäftigen, die eigentlich auf den Müllhaufen der Geschichte gehören", sagt Voges. Nein, die Gegenwart soll die Hauptrolle auf seiner Bühne spielen, wie beim Theatertreffen.

Tickets für die Gastspiele sind ausverkauft, mit etwas Glück kann man Restkarten an der Abendkasse erstehen oder sich drei der zehn Inszenierungen auf 3Sat oder kostenlos auf großer Leinwand im Sony Center ansehen.

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