Elena Matera

Journalistin (Wissenschaft & Gesellschaft), Berlin

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Ein Leben im Schatten

Barfuß am Strand spazieren, für viele Menschen ist das nichts Ungewöhnliches. Für Hannelore Schimmelpfennig ist es ein kleines Wunder. Zum ersten Mal den Sand zwischen den Zehen, die Sonne auf der Haut spüren - die 76-Jährige kann sich noch genau an diesen Moment erinnern. Es war an einem Sommertag vor drei Jahren in Dangast, einem kleinen Kurort an der Nordsee. Ihre Tochter und ihre damals drei Jahre alte Enkelin waren aus Südafrika zu Besuch. Die Beiden hüpften im Watt herum, lachten. Schimmelpfennig beobachtete sie von Weitem, verdeckt: lange Bluse, Sonnenhut, Strümpfe, weiße Handschuhe - sie blieb im Schatten, in Sicherheit.

Die ehemalige Arzthelferin aus Oldenburg leidet an Erythropoetischer Protoporphyrie, kurz EPP - ein seltener Gendefekt. Nur gut 800 Menschen in Deutschland weisen diesen Befund auf. Sobald die Sonne auf die Haut der Betroffenen scheint, leiden sie unter unerträglichen Schmerzen. Nach einer Weile können Verbrennungen auftreten, es bilden sich Blasen auf der Haut, Rötungen.

Viele bekommen nie eine richtige Diagnose

Doch dieser Tag in Dangast sollte anders sein: Schimmelpfennig zog die Schuhe aus, krempelte die Hose hoch - die ersten Schritte barfuß im Sand. Ihre Tochter filmte diesen besonderen Moment. Schimmelpfennig erinnert sich gerne daran zurück. Sie muss lächeln, als sie an diesem Tag im Sommer 2019 in ihrer kühlen Wohnung in Oldenburg von diesem Erlebnis erzählt. Auf einer dunklen Kommode stehen eingerahmte Fotos. Auf vielen sieht man Tochter und Enkelin.

Ärzte stehen bei Patienten mit EPP-Symptomen, bevor diese diagnostiziert worden sind, häufig vor einem Rätsel, geben falsche Gutachten ab. Nur eine Sonnenallergie heißt es dann etwa. In den 70er-Jahren hat Schimmelpfennig das erste Mal von EPP gehört. Ihr erster Mann war auf einen Wissenschaftler aufmerksam geworden, der über die Krankheit schrieb. Er kontaktierte ihn. "Endlich wusste ich, warum ich immer diese Schmerzen in der Sonne hatte", sagt sie. „Ich hatte Glück. Viele leiden Jahrzehnte und bekommen nie eine richtige Diagnose."

Soziale Ausgrenzung im Sommer

Bereits als Kind taten Schimmelpfennig selbst die kleinsten Sonnenstrahlen weh. Es begann mit einem Jucken. Mit dem Alter wurden die Schmerzen immer schlimmer, „als würde die Haut brennen. Es ist schwer zu beschreiben." Vor allem die Hände, Füße und das Gesicht waren bei Schimmelpfennig betroffen. Auch ihre Schwester leidet an EPP. Bei ihr seien die Auswirkungen schlimmer gewesen, mit sichtbaren Rötungen. Bei Schimmelpfennig habe man nie etwas gesehen.

„Ich habe mein Leben lang den Schatten gesucht", sagt sie. Im Hochsommer konnte sie meist erst abends vor die Tür gehen. Immer wieder musste sie Freunde versetzen und Freizeitaktivitäten, wie Schwimmen oder Fahrradtouren, absagen. Urlaubsorte mit viel Sonne mied sie. „Ich war sozial ausgegrenzt", sagt sie. Andere konnten den Sommer kaum erwarten. Schimmelpfennig nicht. "Ich freute mich über die grauen Tage." Bei gutem Wetter habe sie sich isoliert gefühlt und geärgert. „Ich war oft traurig. Ich konnte eben nie das machen, was alle anderen machen." Ihr gewohntes Outfit: Sonnenhut, Handschuhe, Socken, lange Bluse, feste Schuhe. Barfuß im Sand gehen: unvorstellbar.

Ein Medikament gegen die Sonnenunverträglichkeit gab es lange nicht. Schimmelpfennig besuchte viele Ärzte. Doch nichts habe geholfen. Auch in einen Selbsthilfeverein für EPP-Patienten trat sie ein. Dort konnte sie sich austauschen. „Der Halt in der Gruppe tat mir gut."

Ein Medikament verändert ihr Leben

Vor etwa drei Jahren änderte sich Schimmelpfennigs Leben radikal. Sie fuhr in die Berliner Charité, um sich dort ein reiskorngroßes Implantat mit einem neuartigen Wirkstoff an der Hüfte einsetzen zu lassen. Das Hormonderivat Afamelanotid soll das Eindringen von Licht durch die Haut reduzieren und verhindert dabei die schmerzhaften Reaktionen. Das Medikament erlaubt ihr nun, was sie bis dahin ihr ganzes Leben lang vermieden hat.

Schimmelpfennig war eine der ersten Patienten, die das Medikament in der Charité erhalten haben. Viermal im Jahr fährt sie dafür seitdem nach Berlin, um sich das Implantat einsetzen zu lassen. Doch die Hürden sind groß, nur wenige Ärzte setzen es ein. Auch ihre Schwester wartet noch auf eine Zulassung. „Es ist ein Unding, dass viele Betroffene das Medikament immer noch nicht bekommen. Es ist diskriminierend", sagt Schimmelpfennig. Sie schüttelt den Kopf. „Ich habe seit drei Jahren ein ganz neues, freieres Leben", sagt sie. „Das ist ein Geschenk - mit 76."

Die Angst vor der Sonne bleibt

Hätte es das Medikament schon in ihrer Kindheit gegeben, wäre ihr Leben ganz anders verlaufen, sagt sie. "Ich hätte anders gelebt, ich wäre öfter draußen gewesen, wäre vielmehr gereist - ohne Angst, ohne Einschränkungen." Auch heute kann Schimmelpfennig nicht stundenlang in der Sonne sein. Die Strahlen dringen trotz Medikament nach einiger Zeit in die Haut. Ihre Tochter im Hochsommer in Südafrika zu besuchen, komme nicht infrage. Aber das sei okay. Und die Psyche spiele auch heute nicht immer mit. „Die Angst befällt mich manchmal immer noch, ich bekomme dann regelrecht Panik, wenn ich Sonne auf meiner Haut spüre." Sie zuckt mit den Schultern. „Das wird sich vielleicht auch nie ändern."

Schimmelpfennig holt ihr Smartphone hervor und spielt ein Video ab. Sie zeigt den kurzen Clip, den ihre Tochter vor drei Jahren in Dangast filmte. Wenige Wochen war es damals her, dass Schimmelpfennig das Medikament zum ersten Mal eingenommen hatte. Man sieht sie in langer Bluse, hochgekrempelten Hosen. Zögerlich geht sie über den Sand - wie ein Kind, das seine ersten Schritte wagt. Dann schaut sie in direkt in die Kamera. Die Sonne scheint auf ihr Gesicht.

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