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"Bestenfalls chaotisch"

Zerstörte Strandidylle: Eine Urlauberin legt am 30. Juni in Sousse Blumen am Tatort nieder. (Foto: Jeff J. Mitchell/Getty)

38 Touristen wurden im Juni 2015 am Strand erschossen. Nun werden schwere Vorwürfe gegen die Polizei erhoben.

In einem Sonnenschirm hatte der tunesische Attentäter sein Sturmgewehr versteckt, bevor er 38 Touristen am Strand von Sousse erschoss. Der Terroranschlag im Juni 2015 war einer der blutigsten in Tunesien. Die große Mehrheit der Opfer kam aus Großbritannien, auch zwei deutsche Touristen starben bei dem Massaker. Nun stellten britische Ermittler in einem Untersuchungsbericht der tunesischen Polizei ein verheerendes Zeugnis aus: Die Polizisten vor Ort hätten "bestenfalls chaotisch, im schlimmsten Fall feige" gehandelt, sagte Ermittlungsrichter Nicholas Loraine-Smith zum Abschluss der sechswöchigen Untersuchung.

Der Schütze Seifeddine Rezgui konnte die Badegäste wahllos am Strand erschießen, bevor er zum Pool und in die Hotelanlage lief, um jeden zu töten, der ihm entgegenkam. Auf Videoaufnahmen ist zu sehen, wie Rezgui ungehindert durch die Hotelanlage spaziert. Augenzeugen berichteten, der Attentäter habe ruhig gewirkt und sei langsam auf seine Opfer zugegangen.

Die Anwältin Samantha Leek berief sich auch auf den Bericht des tunesischen Anwalts Lazhar Akremi, der eine Untersuchung eingeleitet hatte. Darin steht, die benachrichtigte Nationalgarde sei gezielt zu spät gekommen. Erst nach etwa 40 Minuten trafen sie am Anschlagsort ein. Eine Quad-Einheit habe Schwierigkeiten gehabt, den Badestrand des Hotels zu erreichen, da die Fahrzeuge offenbar in einem "sehr schlechten Zustand" gewesen seien.

Auch die Polizisten vor Ort hätten unprofessionell reagiert. Dabei hätten sie Sturmgewehre mit sich getragen und den Angriff von vornherein stoppen können. Ein Zweierteam der Nationalgarde sei sogar in der Nähe des Hotels gewesen: Einer der Männer soll vor Angst in Ohnmacht gefallen sein, als der Attentäter eine Handgranate warf. Als er wieder zu sich kam, soll er sich hinter einem Sonnenschirm versteckt haben, heißt es im Bericht. Der andere Nationalgardist konnte seine Waffe offenbar nicht bedienen und soll daraufhin sein Uniformhemd ausgezogen haben, um nicht als Sicherheitsbeamter erkannt zu werden. Die Reaktion der Polizei auf den Anschlag hätte "viel wirksamer ausfallen können und müssen", resümierte der Richter.

Nun müssen sich sechs tunesische Polizisten vor Gericht verantworten, meldete die Nachrichtenagentur Reuters unter Berufung auf die Justizbehörden. Die Beamten wurden demnach wegen unterlassener Hilfeleistung angeklagt. Die Ermittlungen richten sich gegen insgesamt 33 Beschuldigte, von denen 14 in Untersuchungshaft sitzen.

Bis zu den schweren Anschlägen auf Touristen war das kleine nordafrikanische Land ein beliebtes Reiseziel bei deutschen Pauschaltouristen. Politisch richten viele westliche Politiker große Hoffnungen auf Tunesien, das sich in der Region hervorhebt. Das nordafrikanische Land hatte es nach dem sogenannten Arabischen Frühling geschafft, weitreichende demokratische Reformen umzusetzen.

Doch im Land brodelt es: Wirtschaftlich und sozial stagniert Tunesien, die Arbeitslosigkeit ist hoch, der Salafismus erstarkt. An diesem Freitag besucht Bundeskanzlerin Angela Merkel Tunesien. Sie erhofft sich eine stärkere Zusammenarbeit in der Flüchtlingspolitik, um Migranten von der Überfahrt nach Europa abzuhalten. Doch Premier Youssef Chahed machte bei seinem Besuch in Berlin im Februar deutlich, dass der kleine Küstenstaat nicht zum Auffanglager für Flüchtlinge aus Subsahara-Afrika werden will.

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