In der Vojvodina lebten Generationen meiner Vorfahren. Das ist lange vergangen. Ist die Geschichte der Donauschwaben noch meine? Und wie verändert es das Erinnern, wenn man die Orte der Großeltern besucht?
Wir irren über den Friedhof. Finden lange nicht, was wir erhoffen, wollen die Suche schon beenden, und dann plötzlich doch: Da sind die Gräber der Deutschen. Und, wie unwahrscheinlich: das Grab meiner Großmutter. Ich kannte sie nicht, nur ihren Namen, sie starb 1978. Theresia. Meine kleine Tochter, die mit Zweitnamen auch Theresia heißt, legt ihrer Urgroßmutter Theresia Blumen aufs Grab.
Diese Blume, von Theresia zu Theresia, vom Kind zum Grab, von Geburtsjahrgang 2008 zu Jahrgang 1918, verbindet uns plötzlich mit diesem Ort. Vorher hatte ich von Crvenka viele Bilder im Kopf, deshalb auch diese Reise. Die Bilder hingen aber nicht miteinander zusammen und nicht mit meinem Leben. Es fehlten mir die Wege und die Momente, die die Bilder verbinden, auch die Dürfte, der Wind, die Begegnungen.
Und trotzdem, seitdem ich ein Kind bin, begleitet mich Crvenka, Jugoslawien. Was wird es mir jetzt noch bieten?
„Tscherwenka", sagten die vielen Tausend Deutschen, die hier lebten, früher. Ich habe die Erzählungen meines Vaters im Ohr. Bevor wir die Reise dorthin gemacht haben, stellte ich mir das heutige Crvenka vor wie ein Puzzle aus seinen Kindheitsbildern, aber von 1000 Teilen fehlten 950.
Ich sah alles wie auf Schwarz-Weiß-Fotos: Kinder, die knietief im Franzenskanal stehen, im Hintergrund das Strandbad, und die im Kanal Stücke von Wassermelonen essen, welche sie von den Feldern der Bauern geklaut haben. Es gibt Bäuerinnen und Landarbeiter in Leinenkleidern, die einen merkwürdigen pfälzischen Dialekt sprechen. Frauen, mager und zäh wie alte Pferde. Die Schüler glotzen eines Tages mit offenem Mund, wenn sie mit sechzehn oder siebzehn Jahren das erste Mal in die Stadt reisen, nach Novi Sad, und sie dort ins Theater gesteckt werden. Es ist, als führe man Ochsen ins Ballett. Aber an der Ballerina hätten sie schon Interesse und sie würden sich liebend gern um sie prügeln, bis ihnen die Nasen schief stehen.
Mein Vater war einer der letzten Deutschen, die hier in Crvenka zur Welt kamen, 1940. Und einer der wenigen, deren Mutter nach dem Krieg blieb und das überlebte. Jetzt reise ich dorthin, mit meinen zwei Kindern, auf der Suche nach Bildern, nach denen ich plötzlich eine Sehnsucht entwickelt habe und nicht weiß, was das bedeuten soll. Was bleibt von einer Familiengeschichte, die längst vergangen ist? Wo niemand von uns verblieben ist, wo es gerade noch das letzte alte Grab zu sehen gibt?
Die Vojvodina ist eine flache Ackerlandschaft im nördlichen Serbien, passable Straßen, langweilige Städtchen mit Bäckereien, chinesischen Plastikwarengeschäften und kleinen Supermärkten. In Subotica aber erinnern prachtvolle Gebäude eindrucksvoll an die Vergangenheit: katholische Kirchen aus ungarischer Zeit, lutherische aus deutscher Siedlungszeit, eine prächtige Synagoge. Ansonsten: Kleinstädte voller mittelalter Menschen in unspektakulärer Kleidung, geschäftig, längst nicht mehr bäuerlich, bestenfalls Hühner haltend. Weizen, Mais und Rüben sind da auch, auf Feldern groß und einseitig wie in Vechta.
Am Ortsteingang von Crvenka liegen die alten Weinkeller der Deutschen, die mein Vater noch Volksdeutsche nannte - ein Nazibegriff, wie mich Wikipedia erinnert, aber bei ihm war er immer leicht ironisch verzerrt zu „Volksdeitsche". So sagten sie es hier eben zu sich selbst, als er ein Kleinkind war. Das „Volk" verschwand dann 1945, finis germania, nach Westen oder in tödliche Lager.
Die Weinkeller an der Straße, ich kenne sie von schwarz-weißen Fotos. Ihre Eingangstore aus Holz sind nun meist verrottet, in einem ist ein Lädchen mit Grabblumen. Dahinter hat sich der Friedhof versteckt. Tausend Grabsteine aus Marmor gibt es dort, überladen mit Plastikblumen. die Portraits der Toten sind nach serbischer Art auf die Grabsteine eingraviert. Und da ist das Ende des Friedhofs, nein doch nicht, da schaut ein alter Grabstein heraus. Und noch einer, unter Efeu, unter Rosen, unter Bäuschen, wie in einem Indiana-Jones-Film. Hier also liegen sie, die alten Volksdeitschen, verabschiedet mit frommen Reimen: „Hier ruhet in Frieden Josef Fuchs, gestor. in seinem 28. Lebensjahre am 24. Juli 1901. Ruhe sanft in der Stille. Denn es war Gottes Wille!"
Ich finde die Gräber der Dauermanns und Welkers und Albrechts und Welschs und so weiter. Viele Grabsteine sind verwittert und zerbrochen. Und plötzlich entdecke ich, völlig unterwartet, das Grab meiner Großmutter Theresia. Laut Grabinschrift starb sie als „Terezija".
In Crvenka gibt es kein Kanalschwimmbad mehr, keine Melonendiebe, keine Melonenfelder. Im Internet findet man einen alten Stadtplan aus der Zeit vor dem Krieg, der sagt: hier wohnen Deutsche, dort Deutsche, überall Deutsche, und überall auch der eine oder andere Grossarth. Diese Region ist bis heute ein Melting Pot. Ein Teil von Crvenka ist heute serbisch, ein Teil ungarisch, einige Bewohner der Region sind russisch, kroatisch, rumänisch.
Und dann nimmt uns die Geschichte wieder liebevoll an die Hand. Wir essen mittags an der Straße ein schwitzendes Pleskavica mit Ketchup, für umgerechnet 1,80 Euro, aus Presshackfleisch von Schwein. Flach wie eine Flunder. Da, neben uns, steht ein älterer Mann in Lederjacke, spricht etwas Englisch, fragt wer wir sind, und ich sage, mein Vater kommt von hier, und er fragt: „German"? Und er freut sich über unser Ja und sagt, hier war mal jedes Haus von Deutschen bewohnt, er kenne den alten Stadtplan aus dem Internet, und er sagt: Sein Nachbar, der spreche noch Deutsch.
Den suchen wir, und der Nachbar öffnet uns die Tür, er war angeln am Kanal, hat einen Zander gefangen. Er mag keinen Fisch, seine Frau auch nicht, der Nachbar wird ihn später holen. Der Mann lässt uns rein in die bescheidene Stube mit Polstermöbeln, einem uralten Computer und an den Wänden vielen Schwarz-Weiß-Bildern von den Ahnen. Hier hießen alle wie er, sieben Generationen. Julius heißt der Nachbar, sein Deutsch ist etwas holprig, ein Mischmasch aus Akzenten, noch pfälzerisch, aber auch jugoslawisch. Er ist der sechste Julius in seiner Familie, und sein Sohn heißt auch Julius, ein Punkmusiker in Belgrad. Julius, Anfang sechzig, erzählt, was aus dem Rest seiner Familie wurde, sie sind jetzt in der ganzen Welt verstreut, in Kanada, Neuseeland, Amerika und Heidelberg. Auf dem Holzschrank steht ein präparierter Tigerfisch aus dem Kongo, den hat mal ein Cousin gefangen und als Gastgeschenk nach Crvenka mitgebracht.
Tscherwenka sagten die Deutschen, Crvenka schreiben die Serben, Cservenka schreiben es die Ungarn; ein unbedeutender Ort im Nichts, der mich plötzlich packt, von dem ich mehr erfahren will, über ihn, über mich. Und am Ende lande ich ganz woanders:
Denn auch gespenstische Bilder von hier habe ich ja noch im Kopf, Bilder aus den Erzählungen meines Vaters. Er fraß als Kind den Kalk von den Wänden, so groß war der Hunger, als er vier oder fünf war und der Krieg fortgeschritten. Die Faschisten warfen Hunderte Partisanen und Juden unter das Eis der Donau. Als der Krieg vorbei war, brauchte man hier einen slawischen Namen, wenn man als Deutscher überleben wollte; meine Familie hatten zum Glück auch einen. Mein Vater, vier, musste den Wehrmachtsoldaten entgegenbrüllen: „Heil Hitler! Für ein freies und einiges Europa!"
Papa erzählte auch einmal von Dubsky, dem tschechischen und jüdischen Direktor der Zuckerfabrik, der ein Bekannter der Familie gewesen sei. Gustav Dubsky war schon älter als sechzig, als die Nazis ihn im April 1941 erhängten. „Die Nazis" waren in diesem Fall aber nicht die Berufsmörder der SS, sondern ein im Morden ungeübter Mob einfacher Volksdeutscher aus Tscherwenka. Und jetzt gehe ich diesem schrecklichen Bild nach, spaziere am Kanal zur Zuckerfabrik, die damals die größte des Balkans war und heute in griechischem Eigentum ist.
Ich stehe vor dem Tor der Fabrik, der Kanal liegt in meinem Rücken, und ich blicke von der Pforte in den Innenhof, wo der Mord laut den dünnen Quellen geschehen ist. Hier ist nicht mal eine kleine Erinnerungstafel zu sehen. Ich frage den Pförtner: Gibt es hier in Ihrer Fabrik alte Bücher, Bilder, ein Archiv? Irgendetwas über Dubsky? Ich darf hineingehen zu einer Direktorin. Sie hat kein Archiv und den Namen Dubsky noch nie gehört. Es gibt an historischem Material bloß ein Buch: „100 Jahre Zuckerfabrik", darin ist eine Liste der früheren Direktoren. „1925-1941 Gustav Dubsky", und zudem ein Satz: Dubsky wurde im April 1941 nach Einmarsch der ungarischen Faschisten ermordet. Von ihm gibt es hier kein Bild mehr und kein Gedenken.
Und nun ist das die Geschichtsspur, der ich nachgehen muss. Ich frage am nächsten Tag Julius: Kennst du Dubsky? Ja, sagt er, den Namen kennt hier jeder, der war der Besitzer der Zuckerfabrik, aber was ist mit dem? Warum fragst du? Am Abend läuten die Kirchenglocken. Sie locken mich hinein. Die Messe wird auf Ungarisch und Kroatisch gehalten, der Priester ist verschnupft, hat fettiges Haar und sieht ärmlich aus, mager und mit schlechten Schuhen. Nach der Messe spreche ich zwei alte Leute. Die Frau spricht gut Deutsch, der Mann etwas. Da frage ich sie: Erinnern Sie sich an Dubsky? Ja, sagt die Frau, der Name sei ihr bekannt, der sei unfassbar reich gewesen. Er nickt.
„Wurde er begraben?"
„Vielleicht, wer weiß. Da gibt es doch den jüdischen Friedhof, da vielleicht."
Auch sie haben alle kein Bild mehr von ihm. Es gibt keines mehr, dabei war er der wichtigste Mann an diesem Ort. Es gibt bloß noch Nachreden über seinen Reichtum. Aber hättet ihr Dubsky nicht ermordet, wäre eure Heimat nicht verloren gegangen, denke ich. Und wäre es dann vielleicht noch meine?
Abends spät essen wir Palatschinken und Pizza auf ungarische Art an einem Straßenverkauf. Sie alle sind so freundlich: Ihr seid Deutsche? Wir wohnen in einem Haus von Deutschen, wir auch, wir auch. Wir kaufen unsere Gebrauchtwagen immer in Deutschland. Wie findet ihr uns Serben? Wirklich, ja? Oh, wie schön.
Am nächsten Tag trinke ich an der zentralen Straßenkreuzung einen serbischen Mokka mit Julius. Als ich ihn zu seinem bescheidenen Haus begleite und mich dann von Julius verabschiede, geht er in einen Schuppen und bringt mir eine Flasche mit selbst gebranntem Birnenschnaps. Im Schuppen lagern viele Flaschen, in einem Dunkel aus Spinnenweben und Feuchte. „Die Birnen kommen von einem Birnbaum aus unserem Garten, der ist fast 250 Jahre alt", sagt er. Eine deutsche Birne, meint er, sei das. Die ersten Auswanderer brachten sie aus der Pfalz, im späten 18. Jahrhundert, auf den Donaubooten, auf denen sie hierherreisten. In Crvenka werde diese Birne sehr bewundert, sie trage mehr als eine Tonne Frucht, immer mehr und mehr, sein Keller sei voller Birnenbrand. Viele Nachbarn hätten schon versucht, Ableger zu der deutschen Birne ziehen, aber das gelinge einfach nicht.
So große Mühen, so ein schreckliches Ende. Als die Deutschen kamen, mit ihren Birnbäumen, Saaten, Gräten, Bibeln und Frauen, kamen sie in der Hoffnung auf Land, von Österreich angesiedelt als Bollwerk gegen die Türken. Bald verloren Tausende ihr Leben auf den Feldern. Die Ernten waren mager, die Arbeit mörderisch. Die erste Generation tot, die zweite hatte nur Brot, der dritten geht es erst gut, sagte man. So war es, und zwischendurch kam die Cholera. Und dann der Sturm, und dann der deutsche Donner, und dann nichts mehr.
Es geschahen in Crvenka nicht nur im Hof der Zuckerfabrik Kriegsverbrechen. 1944 wurden die letzten elf Juden und drei zum Christentum konvertierte Juden ins Konzentrationslager Subotica deportiert. Vier überlebten. Und im Oktober 1944 gab es in Tscherwenka eine der grausamsten Massenermordungen von Zwangsarbeitern des Krieges, wie der Historiker Randolph Braham in seiner Enzyklopädie festhält. Auf einem Marsch nach Sombor erschossen SS-Leute eine ganze Nacht lang hindurch insgesamt rund 750 Menschen. Sie warfen sie in Sandgruben, in welche die SS- Leute schließlich noch Handgranaten feuerten. Die Opfer waren Juden, Zeugen Jehovas und Adventisten, ermüdete Zwangsarbeiter der Ziegelfabrik. Julius sprach das Thema nicht an, obwohl die Ziegelfabrik seiner Familie gehörte, und mein Vater meinte nach meiner Reise zu mir, er habe Nächte nicht schlafen können, als ich ihm sagte, dass dieses Massaker wirklich gewesen sei. Er meinte, sich an die Leichenberge am nächsten Morgen erinnern zu können, so wie sich ein vierjähriges Kind erinnern kann, aber er könne einfach nicht mehr sagen, ob es stimme, aber er spüre Todesangst.
Ich und Julius, wir umarmen uns zum Abschied, ich lade ihn nach Frankfurt ein, da will er bald sowieso hin, einen gebrauchten Mini-Cooper für die Frau kaufen, den sie sich schon lange wünsche. Als ich gehe, sehe ich noch einmal den Blick des Tigerfischs aus dem Kongo, der bissig auf dem Regal verstaubt. Dann denke ich noch lange an ihn, Julius, aber nicht weniger denke ich an Dubsky.
Ich suche jetzt sein Grab. Ein junger Serbe, den ich nach dem jüdischen Friedhof frage, fährt mit seinem Auto vor und zeigt mir den Weg. Der Friedhof ist überwuchert, ebenso wie der volksdeutsche. Eingezäunt, aber mit offenem Tor, vor drei Jahren saniert, doch ungepflegt. Da liegen: Julia Löwy, geb. Schäffer. Cäcilie Steinfeld, geb. König. Sofie Löbe, geb. Frank. Einige mehr. Dubsky nicht. Opfer von Kriegsverbrechen bekamen keine Gräber, das weiß jeder. Wir gehen etwas durch das Gestrüpp, der Serbe legt Grabsteine mit seinen Füßen von Brombeersträuchern frei. „Wie findest du uns Serben?", fragt er.
Dubsky ist, wie erwartet, nicht zu finden. Ich habe nun einfach den Wunsch, ein Foto von ihm zu finden. Also muss ich in die Archive eintauchen, vielleicht gibt es da mehr Erinnerungen an ihn. Ich fahre also nach Novi Sad, ins Archiv des Museums der Vojvodina. Im Museum sind alte Bauerntrachten ausgestellt, die Kutsche der K&K-Reisenden, ein Gemälde von dem Kindermord in Serbien durch die osmanischen Besatzer. Ich frage im Archiv nach Bildern von Dubsky, und ich finde aber auch da keine Fotografien. Sie geben mir aber immerhin einige alte Zeitungen.
Ich blättere, Jahrgänge 1925 bis 1942, die Zeitung ist damals auf Deutsch, Ungarisch und Serbisch erschienen. „Közepbacska" für die Mittel-Batschka erscheint mit einem mutigen Vorwort, als in Deutschland schon der Faschismus aufrüstet. Am 27. Juni 1935 schreibt das Blatt im Vorwort, den Sturm im Blick und die armen Seelen: „Wir wollen die guten alten Zeiten, in welchen weder ein völkischer noch ein religiöser Gegensatz herrschte, als ein jeder einzig und allein als der Sohn eines einzigen Gottes in Betracht kam, erneuern. Jene Zeit, in welcher nach dem grimmigen Kampfe und der grausamen Zerstörung der sich abwechselnden Völker ein neues Leben erspross und die neuen Bewohner mit den alten zusammen in friedlicher Eintracht das gesegnete Feld bestellen. Wir verkündigen Friede und Liebe. Wir huldigen keinerlei künstlich in die Mode gebrachten Schlagworten - dies sind Kinder der Gegenwart. Rassen, Nationen, Mächte fallen, Neue entstehen, das Dasein des Menschen aber wird von einem ewigen Gesetze geregelt."
Oma Theresia war eine Sekretärin im Rathaus, lese ich dann in einem Buch über Tscherwenka, das von Volksdeutschen verfasst wurde, noch im völkischen Jargon der 50er. Hier erfährt man vieles über die Volksdeutschen aus völkischem Blick, aber sie schreiben kaum ein Wort über die anderen Menschen, die hier lebten. Kein Wort über Dubsky. Wortwörtlich aber: „Die Juden unterlagen, machten nacheinander bankrott, wanderten ab oder starben. Schließlich gab es nur noch einige Juden, deren Tempel zerfiel." Und so lese ich und lese und verliere mich in Worten und finde Dubsky wieder nicht.
Wochen später kommt ein Brief nach Frankfurt. Vom Archiv der Vojvodina, mit dem Ergebnis ihrer Recherche über Gustav Dubsky. Ich öffne den Umschlag. Ich blättere die Papiere zügig durch, und es ist wieder nur Text. Über seine Anteile an der Fabrik, Aktionärsstrukturen, die Enteignung der Fabrik durch die Kommunisten. Auf einem Papier ist Dubskys Unterschrift, sie ist wunderschön geschwungen, lebensfroh, fantasievoll, so wertvoll sie ein Foto.
Als wir die Vojvodina verlassen, ziehen Maisfelder vorbei und Rüben, ein buntes Haus, das Salas137 heißt und neuerdings ein bunt gefliester Ferienbauernhof ist, auch ein Reiterhof mit Luxushotel im kommunistischen Stil. Im Kofferraum liegen das Buch „100 Jahre Zuckerfabrik Crvenka" und eine Flasche volksdeutscher Birnenschnaps. In meiner Erinnerung habe ich jetzt eigene Bilder. Sie machen mich unabhängiger vom Erinnern anderer, von Mythen und Fantasien, sie sind konkret und verbinden mich gerade deshalb tiefer mit der Vergangenheit, mit der meiner Vorfahren, mit der Dubskys.
Ich sehe: Julius' freundliches Gesicht, den verhärmten Blick des alten Weibes aus der Kirche, die fantasievolle Unterschrift Dubskys. Ich habe einen Eindruck davon gewonnen, wie plötzlich Kulturen verschwinden können und dass auch mein Leben davon betroffen ist. Das ist sehr viel für eine Reise.