Ein Knopfdruck von Tylor genügt, um die Großstadt Capetown restlos zu zerstören. Dutzende Sprengkörper, die über Kilometer hinweg zu hören sind, werden die Fundamente der Gebäude nahezu zeitgleich pulverisieren. Wie ein gigantisches Kartenhaus soll die Stadt in sich zusammenfallen.
Aber vorher lässt der junge Mann seinen Blick ein letztes Mal über die Skyline der Metropole wandern: Hochhäuser reihen sich dicht aneinander und bilden tiefe Straßenschluchten. Bars und Büdchen buhlen mit schriller Werbung um die Aufmerksamkeit der Passanten. Ein großes, neu eröffnetes Krankenhaus wartet auf Patienten. Und direkt vor den Toren der Stadt gräbt sich das Meer in einen wunderschönen Sandstrand.
Eigentlich könnte das malerische Capetown an der Spitze der Top-Urlaubsziele 2018 stehen, aber es gibt einen Haken: Die Großstadt existiert nicht in unserer, sondern nur in der virtuellen Welt - und zwar auf den Servern des Videospiels "Rust".
Eine Spiel fast ohne Grenzen - aber mit Haltbarkeitsdatum
In der Welt von "Rust" teilen sich bis zu 400 Spieler eine riesige Insel und dürfen dort tun und lassen, was sie möchten. Es existieren keine Regeln, keine Ziele, keine Aufgaben - nur die Gefahr, zu verhungern oder zu verdursten, wenn man die Suche nach Nahrung vernachlässigt. Es ist ein simples Spielkonzept, das schnell viele Fans finden konnte: Seit der Veröffentlichung im Jahr 2013 lassen sich täglich zwischen 40.000 und 50.000 Menschen auf den Überlebenskampf ein.
Jeder Spieler beginnt sein virtuelles Leben nackt und wehrlos. Um ihre Überlebenschancen zu steigern, schließen sich die "Rust"-Anfänger deswegen gerne in Gruppen zusammen. Überlebt die Gemeinschaft lang genug, steht dem Bau einer Siedlung nichts im Weg. Nicht selten fließen für die Gründung einer Stadt wie Capetown Hunderte Stunden in die Beschaffung von Baumaterialien und die Konstruktion der Gebäude.
Doch keine Stadt in der Welt von "Rust" ist für die Ewigkeit gebaut - und dann werden Spieler wie Tylor um Hilfe gebeten.
Alte Gebäude müssen weichen
Tylor, der eigent
lich Chef einer kleinen, amerikanischen Tankstellenkette ist und seinen Nachnamen nicht nennen möchte, hat sich in "Rust" einen guten Ruf als Sprengmeister erarbeitet. Der Mittzwanziger wird herbeigerufen, wenn eine der Großstädte abgerissen werden soll. Die Gründe für diesen Wunsch können dabei unterschiedlich ausfallen, wie der Tankstellenchef erklärt: "Manchmal ist die Spielwelt zu eng bebaut und lässt kaum noch Raum für neue Gebäude. Dann soll ich neuen Platz schaffen. Meistens aber werde ich gerufen, wenn ein sogenannter Server Wipe ansteht."
Alle vier bis sechs Wochen kommt es zu einem solchen Server Wipe, der die ältesten Gebäude löscht, um einen stark beanspruchten Server zu entlasten. Dieser Prozess ist vergleichbar mit dem Abriss von Ruinen in einer realen Stadt, um Platz für neue, moderne Häuser zu schaffen. Doch einen großen Unterschied gibt es: In "Rust" ist für den Abriss eigentlich kein Sprengpersonal notwendig. Ein Server Wipe passiert automatisch und ist nach wenigen Minuten abgeschlossen. Trotzdem gibt es einen guten Grund dafür, warum Tylors Arbeit so gefragt ist: "Die Spieler haben teilweise Wochen und Monate ihre Städte gebaut und bewohnt. Deswegen wünschen sie sich oft einen gebührenden Abschied von ihrem Zuhause, ein richtiges, spektakuläres Event!"
Eine schwierige Kunst
Sich dieses Abschiedsevent auszudenken, ist der vielleicht wichtigste Teil von Tylors Job. Ihm stehen einige technische Hilfsmittel zur Verfügung, mit denen er herumspielen kann. Darunter sind verschiedene Plugins und Mods, mit denen er Feuerregen, Staubwolken, Schneestürme oder gigantische Monster erscheinen lassen kann. Viele der Mods können in Online-Datenbanken gratis heruntergeladen werden, andere hat Tylor selbst programmiert.
Für den Abriss von Capetown hat er sich etwas besonderes ausgedacht: Sobald sich alle ehemaligen Bewohner weit genug von der Stadt entfernt und in Sicherheit gebracht haben, wird er zwei Kampfhubschrauber erscheinen lassen, die von einer künstlichen Intelligenz gesteuert werden. Sie überwachen das Abrissgelände aus der Luft, während Tylor überall in der Stadt Schatzkisten platziert.
Diese Kisten enthalten wertvolle Gegenstände, die in der Spielwelt rar und kostbar sind. Sie sollen die Zuschauer in Versuchung führen, trotz der patrouillierenden Hubschrauber doch noch einmal in die Stadt zu sprinten und sich die Beute zu sichern. Eine letzte, große Straßenschlacht in den Häuserschluchten der untergehenden Stadt, das wäre ein Abschied ganz nach Tylors Geschmack.
Zerstörung vertagt
Doch es kommt anders: Die Kampfhubschrauber verhalten sich aggressiver als erwartet und stürzen sich auf die wehrlosen Spieler. Und während die um ihr Leben rennen, häufen sich bei Tylor die Fehlermeldungen: Die virtuelle Zündschnur will einfach nicht anbrennen.
Allmählich beschweren sich immer mehr Zuschauer, die sich eigentlich einen spektakulären Abschied für ihre Heimatstadt gewünscht haben. Schließlich muss Tylor das Event abbrechen und die Zerstörung der Stadt vertagen. Der Sprengmeister nimmt die Enttäuschung der ehemaligen Capetown-Bewohner aber sportlich: "Fehler können passieren. Ich bin es gewohnt, dass nicht jedem gefällt, was ich veranstalte. Trotzdem ist es manchmal frustrierend, wenn kaum jemand deine Arbeit anerkennt, die du in die Eventorganisation steckst."
Bezahlt wird Tylor für die dutzenden Stunden der Planung und Vorbereitung nicht. Und auch seine Kollegen aus der Zunft der virtuellen Sprengmeister erledigen ihre Arbeit ohne Gegenleistung. Ihnen macht die Planung eines Abriss-Events Spaß, bei der die eigentliche Zerstörung der Stadt nur einen Bruchteil des Geschehens ausmacht.
Sprengmeister sind gefragt in der Community
Tylor schätzt, dass etwa hundert erfahrene Sprengmeister in der Community aktiv sind. Ein verschwindend geringer Anteil, doch ihre Arbeit ist gefragt und so sind alle Mitglieder fast immer für ein Event gebucht: "Wenn in der Welt von Rust eine große Stadt abgerissen werden muss, kannst du dir sicher sein, dass einer von uns damit zu tun hat", sagt er. Man bleibt untereinander in Kontakt, vergleicht Eventplanungen und tauscht Ideen für neue Aufträge aus. Vergleichbare Sprengmeister-Organisationen in anderen Spielen gibt es nicht.
Und auch wenn der eine oder andere Abschied von einer virtuellen Großstadt nicht immer wie geplant verläuft, ist die Community der Zunft nie lange böse. Nicht zuletzt, weil die Spieler wissen, dass ihre Werke nicht von Dauer sein können - wohl aber die Erinnerung an ihre Zerstörung.