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Portait über Raiffeisen


Ein historisches Porträt über Friedrich Wilhelm Raiffeisen, das anlässlich des Raiffeisen-Jahres 2018 in Auftrag gegeben wurde.

https://www.wir-leben-genossenschaft.de/de/Die-Westerwald-Mission-5306.htm

1846 ist ein Krisenjahr in Deutschland, das damals noch Deutscher Bund heißt und mehr Agrar- als Industriestaat ist. Zum zweiten Mal in Folge sind die Ernten ein Totalausfall. Vulkanausbrüche haben das Klima durcheinandergebracht, eine Fäule vernichtet die Kartoffeln. Die Grundnahrungsmittel werden knapp und die Preise steigen sprunghaft – auch in Weyerbusch.

Friedrich Wilhelm Raiffeisen 18181888

Das ist ein 250-Seelen-Dorf im Westerwald, ein, zwei Tagesreisen vom Rhein und von Köln entfernt, allerdings gibt es dahin keine Straßen, sondern nur Lehmwege, die oft im Schlamm absaufen. Für den jungen Bürgermeister Friedrich Wilhelm Raiffeisen ist es erst das zweite Jahr im Amt. Mit Mitte 20 muss er eine folgenschwere Entscheidung treffen: Soll er die Kornlieferung der Regierung an die hungernde Bevölkerung verteilen, auch wenn er dadurch seinen Job verliert? Für den jungen Mann ist diese Entscheidung von besonderer Tragweite, denn sie wirkt bis tief in seine Familie hinein: Bevor er 1818 geboren wurde, hatte die Familie über 70 Jahre lang immer wieder die Bürgermeister in Hamm an der Sieg gestellt. Doch dann schlug sein Vater aus der Art und flog achtkantig aus dem Amt. Unter anderem hatte er Gelder aus der Armenkasse veruntreut. Diese Schulden sind noch immer nicht abbezahlt, als der Sohn über 20 Jahre später die Korn-Entscheidung treffen muss. Das Heimatdorf liegt keine 20 Kilometer entfernt.


Raiffeisen entscheidet sich zu helfen: Das Getreide, das er eigentlich verkaufen soll, verteilt er kostenlos an die Verarmten – obwohl der Vorgesetzte offen mit einem Amtsenthebungsverfahren droht. Von den Wohlhabenden in der Gemeinde sammelt er Geld ein, das er in den Fonds eines eigens gegründeten „Brodvereins“ steckt. Daraus bezahlt Weyerbusch die Schulden bei der übergeordneten Regierungsstelle im Preußenstaat, finanziert weitere Lieferungen und Saatgut für Kartoffeln, baut sich sogar ein eigenes Backhaus, wo günstig Brot gebacken werden kann. Die Rechnung geht auf: Das nächste Jahr ist fett, nicht mager; die Erträge sind hoch genug, um alle Kredite zurückzuzahlen. Der Bürgermeister behält seinen Job.


Ein Mann mit Mission

Diese Episode gilt als Grundstein der Genossenschaftsbewegung – denn hier hat eine Gruppe nach dem Prinzip Hilfe zur Selbsthilfe gemeinschaftlich gewirtschaftet und dabei auf Selbstverwaltung und nachhaltige Investitionen gesetzt. Für Raiffeisen war es eine berufliche Feuerprobe, mit der er sich für Bürgermeisterposten in größeren Gemeinden empfahl, nachdem seine Karriere eher holprig begonnen hatte. Als bibelfester Christ, dessen Erziehung stark von evangelischen Pfarrern beeinflusst war, war es außerdem die moralische Selbstvergewisserung: Nächstenliebe hört beim Geld nicht auf.

Vor allem aber war es die Geburt einer Mission: Lasst uns die Wirtschaft neu organisieren! „Was einer allein nicht schafft, das schaffen viele“, das soll der Ansatz für die Zukunft sein. Als Bürgermeister von Flammersfeld gründete Raiffeisen später den Flammersfelder Hülfsverein zur Unterstützung unbemittelter Landwirte, als Bürgermeister von Heddesdorf den Heddesdorfer Wohltätigkeitsverein, der sich bald zu einem Darlehensverein weiterentwickelte, den viele als erste „echte Genossenschaft“ bezeichnen. Kaum pensioniert, veröffentlichte Raiffeisen Mitte der 1860er Jahre das Ratgeberbuch Die Darlehnskassen-Vereine als Mittel zur Abhilfe der Noth der ländlichen Bevölkerung sowie auch der städtischen Handwerker und Arbeiter. Und in den 1870ern ging es weiter mit Vorträgen, Beratungen, der Gründung einer zentralen Landeskasse. Aus den frühen Vereinen, in denen die Reichen mit unbegrenzter Solidarhaftung für die Armen einstehen, wurden über die Jahre Zusammenschlüsse, in denen Arme und Reiche Genossenschaftsanteile gleichermaßen kaufen, denn die Ursprungsidee entwickelte sich weiter. Raiffeisen konnte zwar stur sein, aber Reflektieren und Diskutieren waren ihm auch nicht fremd.


Selbst hilfebedürftig

An seine Sache scheint er jedenfalls immer geglaubt und sie unermüdlich verfolgt zu haben. Dabei war Raiffeisen weder topfit noch vom Schicksal sonderlich begünstigt. Da ist zum einen die Geschichte mit seinem Vater, dem geschassten Bürgermeister. Wenig ist bekannt über dieses Verhältnis. Einfach dürfte es nicht gewesen sein, belegt ist jedenfalls, dass Raiffeisen nicht aufs Gymnasium gehen konnte, weil der Familie das Geld fehlte. Und dann zum anderen die Sache mit den Augen: Durch die Brille wirken Raiffeisen-Bilder gegenüber denen von Zeitgenossen vielleicht modern, doch die Brille trug er, weil er eine Augenkrankheit hatte, die ihn fast erblinden ließ. Später steckte er sich mit einem Nervenfieber an, das ihm zusätzlich zusetzte, weil er während einer Typhus-Epidemie Krankenbesuche machte. Mehrfach war Raiffeisen zu krank zum Arbeiten. Seine Tochter Amalie hat ihr eigenes Leben zurückgestellt, um ihren kranken, alternden Vater zu unterstützen – auch beim Fördern der Genossenschaftsbewegung.


Vater Raiffeisen

Als eine Lungenentzündung dazukommt, ist es schließlich zu viel für Friedrich Wilhelm Raiffeisen. Er stirbt 1888, wenige Tage bevor er die Ehrendoktorwürde der Universität Bonn erhalten hätte. Noch zu seinen Lebzeiten hatte er viel Anerkennung erfahren: Kaiser Wilhelm I. ernannte ihn zum Ritter und spendete 15.000 Mark für den Reservefonds der Landwirtschaftlichen Zentralkasse. Über die Beerdigung berichtete das Landwirtschaftliche Genossenschaftsblatt, dass der „Jedermann zugängliche Trauersaal“ bis unmittelbar vor der Trauerfeier voll „von Vereinsgenossen und anderen Personen, welche Vater Raiffeisen noch ihr letztes Lebewohl sagen wollten“, gewesen sei. Der Nachruf schloss mit dem Satz: „Wird doch sein Andenken und sein Geist ewig unter uns fortleben!“

Heute leben wir nahezu alltäglich mit Raiffeisens Erbe. 22,6 Millionen Genossenschaftsmitglieder sowieso. Und im Alltag gibt es Raiffeisen-Straßen, Raiffeisen-Sondermarken, Denkmäler und Museen. 2018 würde Friedrich Wilhelm Raiffeisen 200 Jahre alt werden. Posthumes Geschenk: das Raiffeisen-Jahr 2018.