Gesine Agena und Bettina Jarasch finden, dass die Zeit reif ist für eine grüne Zeitpolitik. Ein Interview über eine Gesellschaft unter Druck und Lösungsansätze, die Frauen nicht diskriminieren.
schrägstrich: Was ist denn das genau: Zeitpolitik?
Bettina Jarasch: Natürlich kann auch die tollste Politik nichts daran ändern, dass der Tag nur 24 Stunden hat. Worum es geht, ist, dass die Menschen stärker selbst entscheiden können, wofür sie ihre Zeit wann verwenden - wann sie arbeiten und wann sie Zeit für sich selbst und andere brauchen.
Gesine Agena: Und es geht darum, die Zeit für Erwerbsarbeit, Sorgearbeit und Freizeit gerechter zwischen den Geschlechtern zu verteilen. Viele Frauen, die berufstätig sind, leiden unter einer Doppel- oder Dreifachbelastung, weil sie zusätzlich in viel höherem Maß Care-Arbeit, also Fürsorgearbeiten innerhalb und außerhalb der Familie, leisten.
schrägstrich: Haben die Deutschen es wirklich so schwer, dass die Politik eingreifen muss? Im Vergleich zu unseren Großeltern und auch zu anderen Ländern haben wir doch relativ viel Freizeit...
Bettina Jarasch: Objektiv gesehen müssten wir eigentlich mehr Zeit haben als frühere Generationen. Aber die Erwartung, in einer begrenzten Zeit immer mehr und auch verschiedene Dinge gleichzeitig schaffen zu müssen, hat sich extrem gesteigert. Trotz und teils wegen aller technologischen Fortschritte fühlen wir uns immer stärker unter Zeitdruck.
Gesine Agena: Der Zeitdruck ist doch für viele Realität! Für viele Familien stellen sich Zeitprobleme im Vergleich zur herkömmlichen Alleinverdiener-Ehe anders, weil beide Partner erwerbstätig sein wollen und oft auch müssen. Wenn es Kinder oder zu pflegende Verwandte gibt, ist es immer noch ein enormer Aufwand, alles unter einen Hut zu bekommen. Wenn beide erwerbstätig sind, sollte es möglich sein, die Sorgearbeit fair zu verteilen. Das zu ermöglichen und auch zu fördern, ist das Ziel unserer Zeitpolitik.
Bettina Jarasch: Die Arbeitswelt hat sich insgesamt stark verändert, Flexibilisierungen gab es aber meistens zugunsten der Arbeitgeberseite.
Gesine Agena: Heute stehen Beschäftigte auch angesichts des digitalen Wandels in der Arbeitswelt unter dem verstärkten Druck, immer erreichbar und verfügbar zu sein.
schrägstrich: Sind die grünen Ansätze besser als die aus der Großen Koalition? Die befasst sich schließlich auch mit der „gehetzten Generation" und dem „guten Leben".
Gesine Agena: Die Familienministerin hat das Thema Zeit durchaus erkannt, auch wenn ihr Modell lange nicht umfassend genug ist. Die CDU/CSU hingegen hat nur eine zeitpolitische Maßnahme im Angebot - und das ist das Betreuungsgeld. Das aber zementiert ein Rollenbild der 1950er Jahre und birgt auch dessen Probleme: Die „Zeit für die Familie", die den Frauen dadurch ermöglicht werden soll, bezahlen diese viel zu oft durch mangelnde Absicherung bis hin zur Altersarmut. Das ist nicht gerecht und nicht im Sinne einer modernen Familienpolitik.
Bettina Jarasch: Die 32-Stunden-Woche, die Familienministerin Schwesig vorgeschlagen hat, zielt auf temporäre Arbeitszeitverkürzungen für bestimmte Mittelstandsfamilien ab. Davon profitiert gerade mal ein Prozent der Paare. Das greift deutlich zu kurz. An der Verteilung der Fürsorge- und Erwerbsarbeit zwischen Männern und Frauen wird sich gar nichts ändern, solange wir nicht endlich die Fürsorgearbeit anerkennen und aufwerten. Um solche Themen mogelt sich Schwarz-Rot bislang herum.
Gesine Agena: Wenn man Zeitpolitik nicht nur in Bezug auf die Erwerbsarbeit begreift, sondern über alle Menschen spricht, über Fürsorge, zivilgesellschaftliches Engagement, Auszeiten, dann reden wir über den nachhaltigen Umgang mit uns selbst und anderen, über Solidarität ohne Abhängigkeit, über Selbstbestimmung, über Geschlechtergerechtigkeit. Das passt wunderbar ins grüne Programm. Mit Zeitpolitik wollen wir dem Raubbau am Menschen Grenzen setzen, so wie wir schon immer gegen den Raubbau an der Natur kämpfen.
schrägstrich: Und wenn es um die Finanzierung geht, verfliegt die Begeisterung ...
Bettina Jarasch: Es ist doch nicht so, dass jetzt plötzlich hohe neue Kosten auf uns zukommen, nur weil wir Zeitpolitik machen wollen. Im Gegenteil: Wir entwickeln Lösungsansätze für Aufgaben, die die Gesellschaft auf jeden Fall etwas kosten werden. Der demografische Wandel kommt mit Riesenschritten auf uns zu. Wollen wir die Pflege der Älteren systematisch an die billigsten Arbeitskräfte auslagern oder denken wir über neue Modelle nach?
Gesine Agena: Trotzdem, es wird sowohl den Staat als auch die Wirtschaft Geld kosten, Kindererziehung und Pflege aufzuwerten und Familienpolitik gerechter zu machen. Das darf es auch.
Bettina Jarasch: Stimmt, aber Zeitpolitik ist kein Klassenkampf. Auch Leute, die gut verdienen, leben oft fremdbestimmt und haben zu wenig Zeit für ihre Kinder. Diese Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer wollen wir rechtlich stärken, damit sie ihre Zeit freier einteilen können. Das muss die Gesellschaft nicht solidarisch mitfinanzieren. Einkommensschwache Familien müssen wir aber auch mit Steuermitteln unterstützen. Und der Staat muss prekäre Selbstständige absichern, damit die nicht den dritten Auftrag annehmen müssen, obwohl sie ihr Kind gerade dringend braucht. Grüne Zeitpolitik sollte allen zugutekommen. Dafür brauchen wir verschiedene Finanzierungsmodelle, Gießkanne funktioniert hier nicht.
Gesine Agena: Dennoch werden wir um eine Umverteilung von Zeit und auch Geld nicht herumkommen. Da werden wir auch Konflikte mit Teilen der Wirtschaft aushalten, da bin ich mir sicher. Und wir werdenfür eine neue Zeitpolitik natürlich auch veraltete Strukturen umkrempeln. Das Ehegattensplitting beispielsweise ist einfach nicht mehr zeitgemäß, aber es hat immer noch fatale Folgen für viele Frauen.
schrägstrich: Schauen wir mal optimistisch in die Zukunft: Wenn grüne Zeitpolitik erst Realität ist, was wird dann anders sein, zehn Jahre später?
Gesine Agena: Mehr Familien hätten die Chance, Beruf und Familie wirklich miteinander zu vereinbaren und gleichberechtigter aufzuteilen. Unsichtbare Fürsorgearbeiten würden anerkannt und sichtbar gemacht und bezahlte Care-Arbeit wäre finanziell aufgewertet. Und junge Menschen hätten wieder mehr Zeit, sich ehrenamtlich und politisch zu engagieren.
Bettina Jarasch: Wir hätten echt was erreicht, wenn Eltern sagen können: Mein Kind kommt in die Pubertät und braucht mich wieder mehr, also reduziere ich meine Arbeitszeit für eine Weile - ohne Angst, dass das Einkommen dann nicht mehr reicht und ohne Angst, dass ich später nicht wieder länger arbeiten kann. Und wenn meine Eltern pflegebedürftig werden, würde ich gerne entscheiden können: Ich nehme nicht nur einige Tage frei, um einen Pflegedienst zu organisieren. Ich möchte euch selbst begleiten. Zeitpolitik hätte dann für eine solidarischere Gesellschaft gesorgt, in der Menschen sich umeinander kümmern können.
Das Gespräch führte Dirk Nordhoff (schrägstrich)