30 Jahre nach Tschernobyl ist die Historikerin Anna Veronika Wendland in osteuropäische Atomstädte gereist - und hat dort auch Positives entdeckt.
Leibniz-Gemeinschaft: Ihr Projekt heißt: „Kernkraftwerksstädte zwischen Utopie und Katastrophe". In Deutschland haben viele nur die Katastrophen im Kopf: Prypjat bei Tschernobyl ist seit 30 Jahren eine Geisterstadt, die Umgebung des Kernkraftwerks Fukushima ist seit fünf Jahren unbewohnbar. Wo bleibt da die Utopie?
Anna Veronika Wendland: Die Kernkraft markiert zusammen mit der Raumfahrt und der Mikrotechnologie in der Sowjetunion den Aufbruch in die sogenannte wissenschaftlich-technische Revolution. Historisch war sie in der Sowjetunion stark mit dem Elektrizitätsmythos der 1920er und 1930er Jahre verbunden, der dafür stand, die Industrialisierung auf eine völlig neue Basis zu stellen und den Bauern nicht nur Licht und Elektroantriebe, sondern auch Bildung zu bringen. In den 1970ern setzte man die Kernkraftwerke in dünn besiedelte Landstriche und gab diesen dadurch eine völlig neue Funktion als Energielandschaft. Es gab Dynamik, Arbeitsmigration und eine ganz neue Mobilität. Die Atomexperten sahen sich selbst in der Rolle einer nach innen kolonisierenden Avantgarde. Die Kernkraftstädte waren, wenigstens in der Propaganda, idealtypische sozialistische Planstädte - etliche waren architektonisch von der Städtebaumoderne geprägt, erhielten Architekturpreise.
Und dann kam es am 26. April 1986 zur Katastrophe in Tschernobyl, die Tausende das Leben kostete.
Leider gibt es bis heute keine verlässlichen Angaben über die Opferzahl durch Spätfolgen. Die WHO schätzt rund 4.000-5.000 zusätzliche Krebstote. Bis dahin hatte es Unfälle in Militäranlagen gegeben, davon einen sehr schwerwiegenden in den 1950er Jahren im sibirischen Kyštym/Majak, der geheim gehalten wurde. Der Zusammenbruch in einer zivilen Anlage, die zudem als das Flaggschiff der sowjetukrainischen Atomindustrie galt, war für die Kernkraft-Vision ein Schock. Die Bevölkerung verlor das Vertrauen in die gepriesene Technologie und die vom Staat hofierten Techniker-Eliten. Die Staatsführung brach ihrerseits den bestehenden Gesellschaftsvertrag, indem sie das Personal in Tschernobyl zum Sündenbock machte, obwohl Fachleute bereits vor dem Unfall Initiativen gestartet hatten, diese Reaktorlinie zu modernisieren und Auslegungsmängel zu beheben. Auch hat das Personal in Tschernobyl in den Stunden und Tagen nach dem Unfall unter schlimmen Verlusten sehr viel getan, um die Katastrophe nicht auf weitere Blöcke übergreifen zu lassen - das wurde lange gar nicht thematisiert. Aber das damalige Kommandosystem in der sowjetischen Atomindustrie hat systematisch Praktiken verhindert, die für eine gute Kerntechnik lebensnotwendig sind: eine offene Fehlerdiskussion beispielsweise und eine Haltung des Hinterfragens, auch wenn eine Anordnung von oben kommt. Der Prozess der Aufarbeitung hat über 20 Jahre gedauert. Vieles konnte erst nach dem Ende der Sowjetunion aufgearbeitet werden.
Sie haben Ihr Forschungsprojekt 2012 gestartet. Haben die Reaktorunfälle von Fukushima Sie auf Ihr Thema gebracht?
Die Findungsphase ist tatsächlich mit Fukushima zusammengefallen, aber die Idee trage ich schon sehr, sehr lange mit mir herum. Ich war als Studentin in der Ukraine und habe dort Menschen aus Prypjat kennengelernt, die ihrer Heimat nachtrauerten...
...der Stadt, die zum Kernkraftwerk Tschernobyl gehörte, das vor 30 Jahren explodiert ist.
Ich hatte seitdem immer im Hinterkopf, zu diesen Kernkraftstädten und den mit ihnen verbundenen Lebenswelten zu forschen. Dass es so viele Jahre gedauert hat, ist eigentlich eine glückliche Fügung. Das Projekt musste erst reifen. Mir war der Alltag in den Kernkraftstädten wichtig, aber ich wollte auch einige komplexe Fragen untersuchen: Wie prägt die transnationale Technologie der Kerntechnik soziale Identitäten in unterschiedlichen Ländern? Wie unterscheidet sich die Sicherheitskultur in Ost- und Westeuropa? Und wie verändern sich Sicherheitskulturen durch Lernprozesse und grenzüberschreitende Wissenstransfers? Ich untersuche den Zeitraum 1965 bis heute, es geht also um die Sowjetunion, aber auch darum, was weiterwirkt in den heutigen Nachfolgestaaten: Was sich von unserer Sicht im Westen unterscheidet, und wo sich die Systeme aufeinander zu entwickelten. Darum habe ich auch zwei deutsche Kernkraftwerksstandorte, Grafenrheinfeld und Grohnde, einbezogen.
Sie waren mehrere Monate im Kernkraftwerk Rivne, etwa 350 Kilometer westlich von Tschernobyl, um die Abläufe und Mentalitäten dort zu analysieren.
Als Historikerin bin ich natürlich zunächst den klassischen Weg über Archive und schriftliche Quellen gegangen, aber bald auf zwei Hürden gestoßen: Zum einen unterliegt bei diesem Thema viel der Geheimhaltung, sei es durch die Betriebe oder den Staat. Zum anderen halten klassische Archivbestände und Fachliteratur meist keine Informationen über die ganz konkrete, alltägliche Umsetzung des Verhältnisses zwischen Mensch und Technik vor - das sind Dinge, die man nur durch direkte Beobachtung und Befragung erfahren kann. Um also die Lücken der klassischen Quellen zu kompensieren, führe ich Interviews, beobachte die Arbeitsprozesse. Das ist ein Ansatz, den Ethnologen und Soziologen, aber auch Ingenieure bei der Prozessoptimierung anwenden: participant observation.
Durften Sie als deutsche Wissenschaftlerin denn einfach so mitgehen in ein ukrainisches Kernkraftwerk?
Das war ein langer Weg mit vielen bürokratischen Stufen. Und als ich dann endlich drin war, haben die Fachleute mich abgecheckt, mein technisches Wissen getestet. Als sie gemerkt haben, dass die Kerntechnik kein Buch mit sieben Siegeln für mich war, hat sich Vertrauen entwickelt. Danach hatte ich wirklich optimale Arbeitsbedingungen für eine Wissenschaftlerin mit einem so heiklen Thema. Welche Fotos und Quellen aus Kraftwerksbeständen ich veröffentliche, entscheiden die Betreiber natürlich mit. Diese Freigabepolitik gehört zum üblichen Sicherheitsregime in jedem Kernkraftwerk. Aber diesen Einfluss mache ich in meiner Publikation transparent.
30 Jahre nach Tschernobyl ist Ihr Befund: Atomstädte in Osteuropa haben prinzipiell eine Perspektive für die Zukunft.
Wenn die Kraftwerke leben, leben auch die Städte - aber die Abhängigkeit ist auch die Hypothek dieser Städte. Prypjats Geschichte endete 16 Jahre nach der Stadtgründung auf tragische Weise. Aber zum Beispiel das litauische Kernkraftwerk Ignalina bei der Stadt Visaginas blieb am Netz, obwohl dort Reaktoren vom gleichen Typ in Betrieb waren wie in Tschernobyl. Die Atomstadt dort lebte ihr Leben weiter. Ignalina wurde erst im Jahr 2009 stillgelegt, das war eine Voraussetzung für den EU-Beitritt Litauens. Jetzt schrumpft die Stadt, ist davon geprägt, dass das Werk abgewickelt wird und sucht nach Auswegen aus dieser mono-industriellen Abhängigkeit. Kusnezowsk in der Ukraine wiederum ist eine optimistische Stadt voller Leben. Ich habe viele Monate unter den rund 40.000 Einwohnern dort verbracht, als ich im zugehörigen Kernkraftwerk Rivne war. Es wimmelt in der Stadt vor Kindern, die Geburtenrate liegt weit über dem Landesdurchschnitt. Hier efüllt sich also paradoxerweise die alte sowjetische Propaganda von der jungen aufstrebenden Stadt, die auf Kernkraft gebaut ist.
Man schaut vom Balkon auf ein Kernkraftwerk und ist zufrieden?
In Kusnezowsk: ja. Die meisten lieben ihre Arbeit und leben gerne in ihrer Stadt. Sie sind im Landesvergleich gut abgesichert und optimistisch.
Hat sich Ihre eigene Einstellung durch Ihre Forschung und Ihre Begegnungen mit den Menschen in den Atomstädten verändert?
Ich komme aus der Generation, die mit der Idee „Atomkraft? Nein danke!" sozialisiert ist. Außer den paar Kohl-Anhängern haben wir das damals in der Schulzeit alle gedacht. Das war fast ein Lebensgefühl. Tschernobyl war für mich ein prägendes Ereignis. Die Katastrophe 1986 hat meine Wahrnehmung stark nach Osteuropa verschoben. Ich habe angefangen russisch zu lernen, habe osteuropäische Geschichte studiert. Dann bin ich für ein Austauschjahr nach Kiew gegangen. Dort habe ich Menschen kennengelernt, die ganz anders über Atomkraft dachten als wir linken Studenten aus Deutschland. Die passten nicht ins Bild, da hat bei mir etwas „klick" gemacht. Außerdem habe ich mich seitdem viel mit den technischen und naturwissenschaftlichen Aspekten von Kernenergie beschäftigt.
Sagen Sie nun „Atomkraft: ja bitte"?
Ich würde mich heute als skeptische oder kritische Befürworterin bezeichnen - kritisch, weil die Industrie vieles besser organisieren könnte, und weil Kritikfähigkeit eine Grundvoraussetzung für eine starke Sicherheitskultur ist; Befürworterin, weil ich angesichts des Klimawandels für einen Industriestaat, der das auch bleiben will, energiewirtschaftlich keine Alternative sehe. Kernenergie und regenerative Energien könnten in einer low-carbon-Industriegesellschaft komplementär genutzt werden, statt sie gegeneinander auszuspielen, wie das in der deutschen Diskussion gemacht wird. In anderen Ländern ist dieser komplementäre Ansatz Grundpfeiler der langfristigen Energiesystemplanung.