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Deutsche Nationalmannschaft: Die Bierhoffisierung des Fußballs - SPIEGEL ONLINE

Es gibt ein kurzes Video, das viel über die deutsche Nationalmannschaft im Jahr 2016 aussagt. Gianluigi Buffon, Torwart der Italiener, geht am Tag nach dem Ausscheiden seines Teams im Viertelfinale gegen Deutschland vor das Hotel zu den Fans. Er lässt den Bodyguard hinter sich, beugt sich über die Absperrungen und umarmt die Tifosi gleich mehrmals im halben Dutzend. Er hatte ja schon direkt nach dem Spiel seinen Tränen freien Lauf gelassen, und niemand käme auf die Idee, Buffon bei all dieser Herzlichkeit auch nur im Ansatz Kalkül oder Inszenierung vorzuwerfen. Oder das gar peinlich zu finden.

Jetzt klappere man mal in Gedanken die Reihe der deutschen Nationalspieler ab und überlege kurz, bei wem diese Szene authentisch gewirkt hätte - und eben nicht inszeniert oder gar peinlich. Zugegeben, nicht jeder taugt vom Typ her dazu, einfach mal ein paar Fans zu umarmen, etwa Toni Kroos. Aber auch sonst fällt es sehr schwer, sich einen deutschen Nationalspieler in dieser Szene vorzustellen. Mit Abstrichen vielleicht noch Lukas Podolski - der hätte natürlich gleich die Situation für ein Selfie genutzt.

Die Frage ist, ob Oliver Bierhoff das gefallen hätte.

Bierhoff ist seit 2004 Manager der Nationalmannschaft, und seitdem, da muss man gar nicht groß auf die Bilanz schauen, ist die Nationalelf so erfolgreich wie selten zuvor. Seit 2006 bei großen Turnieren immer mindestens im Halbfinale, vor zwei Jahren gab es als Höhepunkt den WM-Titel in Brasilien. Die Bilanz, und das betonen die Verantwortlichen um Bierhoff und Joachim Löw immer wieder, liest sich hervorragend.

Wo sind die Gefühle geblieben?

Warum aber ist irgendwie das Mitfühlen mit der Nationalelf verloren gegangen? Warum hielt sich die Enttäuschung nach dem Halbfinal-Aus gegen Frankreich in Grenzen? Warum haben die Fans in Deutschland plötzlich mehr die Isländer gefeiert als das eigene Team? Vielleicht hat das doch alles mehr als gedacht mit der "Bierhoffisierung" des deutschen Fußballs zu tun, dieses Glattbügeln, Disziplinieren und Entemotionalisieren von allem, was irgendwie noch einen Hauch von Authentizität und Echtheit ausstrahlt. Und was die Inszenierung stören könnte.

Das fängt natürlich damit an, dass die Nationalelf plötzlich als "Die Mannschaft" eine Marke ist, es lächerliche Slogans gibt wie "Bereit wie nie" (2014) oder jetzt "Vive La Mannschaft". Es geht damit weiter, dass Zitate von Spielern oder Trainern mittlerweile so beliebig und austauschbar sind, dass es schmerzt und lustige Antworten wie die von Thomas Müller ("Nee, wir wollen nicht Europameister werden, sondern im Halbfinale ausscheiden") schon als Höhepunkte des Turniers gefeiert werden. Und es hört damit auf, dass den deutschen Spielern jegliche Mündigkeit abhanden gekommen ist.

Ich verstehe schon, dass die Nationalmannschaft keine Spieler braucht, die in die Hotellobby pinkeln oder den Fans den Stinkefinger zeigen. Aber wer hat den Spielern denn gesagt, dass sie jetzt gar nicht mehr Wichtiges oder Kritisches sagen dürfen? Leute wie Manuel Neuer, Jérôme Boateng, Mats Hummels oder Mesut Özil stehen tagtäglich im Fokus der Öffentlichkeit und sollten aufgrund ihrer Leistungen auch genug Selbstbewusstsein haben, etwas jenseits vorgefertigter Phrasen zu sagen.

Aber ein vernünftiges Statement zu Themen wie den diversen Fifa-Skandalen? Den Schmähgesängen der deutschen Fans im Spiel gegen Italien? Oder der WM-Vergabe nach Russland 2018 und Katar 2022? Nichts. Man möchte ihnen ins Gesicht schreien: Jungs, da müsst ihr demnächst spielen, ist euch das eigentlich bewusst?!

Die Familie hält zusammen

Vielleicht liegt es aber auch an den "Jungs", wie sie immer von Löw und Bierhoff genannt werden. Vielleicht verhalten sie sich deshalb so, weil sie der "Familie" Nationalmannschaft, wie Bierhoff immer betont, nicht schaden wollen. Einreihung ins Glied ist da oberste Disziplin. Früher hätte ein Spieler wie Benedikt Höwedes mit Zitaten wie "Letzten Endes geht es gar nicht um mich, letzten Endes geht es ums große Ganze" nach seiner zwischenzeitlichen Ausbootung nur Kopfschütteln geerntet, heute gibt es Applaus von allen Seiten. Der Familienfrieden ist nicht in Gefahr.

Wenn ich daran denke, dass diese Spieler immer noch Vorbilder für die Kinder im ganzen Land sind, dann fröstelt es mich ein wenig. Man muss sich nur mal die ganzen Fünfjährigen anschauen, die derzeit mit Neuer- oder Özil-Trikots durch die Gegend laufen. "Kinder!", möchte ich rufen, "alles gut und schön, das sind tolle Fußballer. Aber ihr dürft im Leben auch mal eure Meinung sagen. Auch wenn sie anderen nicht passt. Ihr dürft sauer auf den Trainer sein, wenn er euch nicht spielen lässt. Und sauer auf den Mitspieler, wenn der Pass auf euch zehn Meter zu lang ist." Daumen hoch Richtung Kollegen nach einem noch so miesen Pass ist ja ein weiterer Unfug, der sich in den letzten Jahren eingeschlichen hat. Wenn ich ein Schelm wäre, würde ich sagen: Hat wahrscheinlich Bierhoff erfunden. Positiv denken!

Ein Herz für Island

Wer könnte es den deutschen Fans verdenken, dass sie in den vergangenen Wochen ihr Herz für das isländische Team entdeckt haben? Ich glaube, dahinter steckt mehr als nur die klassische Sympathie für den Underdog. Es ist die Sehnsucht nach einem Funken Emotion, etwas Echtem, das im heutigen Fußball immer seltener wird und die deutsche Nationalmannschaft nicht mehr bietet. Vom bärtigen Aron Gunnarsson würde man glatt erwarten, dass er sagt, wie bescheuert er eine WM in Katar findet. Oder die eigenen Fans kritisiert, wenn die statt "Hu!" plötzlich "Scheiß Italiener!" singen würden.

Das hat Oliver Bierhoff natürlich nicht gemacht. Er hat stattdessen gesagt, dass solche Zwischentöne die tolle Stimmung auf den Rängen nicht schmälern würden. Er könne natürlich auch die Uefa verstehen, dass keine Kinder mehr nach Spielende mit aufs Feld sollten. "Irgendwann wird das halt zu viel", sagte er. Das stört halt die Inszenierung. Fragen nach dem EM-Quartier mit den seltsam langen Anfahrtswegen? Gab es da noch alte Geschäftsbeziehungen, die die Wahl beeinflusst haben? Abgebügelt, solche Fragen.

Ich muss zugeben, ich habe nach dem verlorenen Halbfinale auf das "Danke, Fans!"-Plakat gewartet, mit dem Bierhoff die Spieler in die Kurve geschickt hätte. Aber es kam nicht. Vielleicht wollte er einfach keinen Streit mehr riskieren wie damals nach dem Finale 2008 mit Michael Ballack. Dabei hätte er bei den derzeitigen Spielern keinen Grund zur Sorge haben müssen, dass da jemand aufmuckt oder vor lauter Emotion gar handgreiflich wird.

Ich weiß, zurückdrehen wird man all das nicht mehr können, das wird schon Bierhoff verhindern, dessen Vertrag bis 2020 läuft und damit zwei Jahre länger als der des Bundestrainers Löw. Aber ich habe die Hoffnung nicht aufgegeben, dass da doch noch ab und zu mal was auftaucht bei der deutschen Mannschaft, das nach mehr aussieht als nach Inszenierung. Mir ist übrigens doch noch ein deutscher Spieler eingefallen, bei dem diese Buffon-Szene auch hundertprozentig gepasst hätte: Miroslav Klose. Leider hat er seine große Karriere nach der WM 2014 beendet.

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