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Ein Nachruf auf Selfmade Records

Selfmade gehörte zu den wichtigsten deutschen HipHop-Labels. Eine Grabrede.


Manchmal liegen die großen Geschichten versteckt in den kleinen Details. In den Dingen, die nicht so richtig in das Bild passen wollen. November 2012. Ein Büroraum, verborgen in einer Düsseldorfer Seitenstraße. Hauptbahnhofsnähe. Auf dem Asphalt sitzen Junkies. Einige haben Bierflaschen in der Hand, andere binden sich gerade die Venen ab. Kein ungewöhnlicher Anblick hier. Außen ist alles schäbig. Doch die Büroräume sind anders. Sehr aufgeräumt, sehr modern, sehr durchgestylt. CDs liegen herum. Alles wirkt luxuriös. Nur der Baseballschläger irritiert.


Er lehnt an der Wand. Irgendwo neben dem großen, eindrucksvollen Schreibtisch und der schwarzen Ledercouch. Der Baseballschläger passt nicht so richtig in das sonst so cleane Büro. Er ist ein Störfaktor. So wie der Mann, dem er gehört für manche ein Störfaktor ist. Elvir Omerbegovic. Chef von Selfmade Records. Ein deutsches Hip-Hop-Label, das gerade vor der Veröffentlichung seines wohl wichtigsten Albums steht. Ein Album, das nachhaltig sehr viele Dinge verändern wird. Man wusste das noch nicht, damals im November 2012, in dem kleinen Büroraum mit dem Baseballschläger an der Wand.


Aber man konnte den Hype schon erahnen. Da waren die explodierenden Vorbestellungen. Die Facebook-Likes. Die YouTube-Klicks der Trailer. „Jung, Brutal, Gutaussehend 2, heiß erwartet wie der Klimawandel", hieß es damals. Es ist kaum vorstellbar, dass man sieben Jahre früher, als das Label gegründet wurde, sich auch nur hätte vorstellen können, was nach dem Release des Kollabo-Albums von Kollegah und Farid Bang passieren würde. Dass „Jung, Brutal, Gutaussehend 2" (JBG2) alles verändern würde.


Alles begann mit einer Grenzüberschreitung


Denn eigentlich war Selfmade Records nur der Plan B. Das Label wurde von Omerbegovic und Philipp Dammann gegründet. Wer Anfang der 2000er-Jahre Hip-Hop gehört hat, der wusste, wer Philipp Dammann ist. Dammann war damals Rapper. Er nannte sich Flipstar und war Teil der einflussreichen Formation Creutzfeld & Jakob. Ihr erstes Album hieß „Gottes Werk und Creutzfelds Beitrag" und gilt als Meilenstein der Deutschrap-Geschichte. Der Nachfolger hieß „Zwei Mann gegen den Rest" und wurde zum Flop. Die Käufer mochten das Album nicht. Die Fans ehrlicherweise auch nicht. Und dann gab es noch Uneinigkeiten mit dem Label, und schließlich ließ Universal die Gruppe fallen.


Um weiter Musik releasen zu können, baute sich Dammann notgedrungen seine eigenen Strukturen auf. Mithilfe von Omerbegovic. Omerbegovic hatte mit Deutschrap zunächst nicht viel zu tun. Er kam von außen. War kein Rapper. War kein Producer. Hörte nicht einmal die Musik. US-Rap, ja. Aber die deutsche Variante? Nur zum Teil. Nur das, was ihm wirklich gefiel. Das war nicht viel. Omerbegovic war aber ein Geschäftsmann. Und er hatte einen scharfen Blick. Durch Dammann, den er beim Basketball kennengelernt hat, lernte er die Szene kennen. Beobachtete sie lange Zeit. Studierte ihre Strukturen und erkannte Möglichkeiten, sie zu optimieren.


Für Dammann hatte Omerbegovic einmal Videoaufnahmen von den letzten Creutzfeld-&-Jakob-Sessions gemacht. Er wollte eine Doku machen. Sie sollte „Selfmade" heißen. Die Doku ist niemals erschienen. Aber Selfmade ist geblieben. Der Begriff wurde zum Namen für das junge Label, das die beiden im Jahr 2005 gründeten. Kurz darauf gab es das erste Release. Auf dem Sampler „Schwarzes Gold" versammelte man zahlreiche Rapper aus dem Ruhrpott. Omerbegovic und Dammann wohnten selber noch in Bochum und wollten ihre Heimat repräsentieren. Der Sampler war nicht weiter beachtenswert. Allerdings gab es einen Künstler, der sich absetzte. Ein Rapper, von dem man vorher noch nie etwas gehört hatte, der einen aber aufhorchen ließ. Favorite.


Favorite war anders als andere Künstler seiner Generation. Seine Rap-Persona war die eines grenzüberschreitenden Psychopathen, der seine Verbalentgleisungen erst da beginnen ließ, wo bei anderen die Schmerzgrenze schon längst überschritten war. Er hatte vor nichts und niemandem Respekt. Und war (besonders flow)technisch begnadet. Neben dem Produzenten Rizbo wurde Favorite das erste Signing von Selfmade.


Ein paar Monate später wurde der Roster um einen weiteren Künstler erweitert. Kollegah. Der hatte sich bereits einen Namen in der RBA gemacht. Einem Online-Rapbattle-Turnier, wo man sich anmelden konnte, um virtuell gegen andere Nachwuchsrapper anzutreten. Wer die bessere Technik und die meisten Punchlines hatte, gewann das Battle. Kollegah, bürgerlich Felix Blume, gewann fast immer. Er verkörperte in seiner Frühzeit einen omnipotenten drogenvertickenden Zuhälter, der seinen imaginierten Lebensstil auf roughe Beats packte. Später war er dann einfach nur noch der „Boss".


Ein Kollegah galt zu Beginn als „zu radikal"


Dammann hatte zunächst ein Problem mit Kollegah. Zu radikal verbalisierte er seine Gewaltfantasien. „Okay, showtime bitch / Ich prügel im Mondscheinlicht / Solang auf dich Sohn einer Bitch ein, bis der Tod eintritt." Auf der anderen Seite hatte Kollegah eine Reimtechnik, die Dimensionen über den einfachen Haus-Maus-Reimen anderer Gangstarapper lagen. Er beherrschte eine zu diesem Zeitpunkt im deutschsprachigen Raum unerreichte Doubletime-Technik und revolutionierte den Wie-Vergleich. Omerbegovic glaube an Kollegah. Damann ließ sich zwar überzeugen, dennoch verließ er bald das Label und widmete sich seinem richtigen Beruf. Statt Rapper wurde er Neurochirurg.

Omerbegovic hingegen betrieb Selfmade weiter. Er war ehemaliger Leistungssportler. Basketball. Die Disziplin und Leistungsbereitschaft von damals hatte er noch immer verinnerlicht. Er entwarf einen Plan für Selfmade Records. Er dachte in langen Zeiträumen. Und kalkulierte Durststrecken ein. Es ist überliefert, dass er sich mit seinen Künstlern in seinem Wohnzimmer traf und ihnen dort mittels einer PowerPoint-Präsentation seine weiteren Pläne mitteilte.


Es ist ebenfalls überliefert, dass die Künstler verwirrt waren. Sie hatten kaum Geld, ihre Miete zu zahlen. Was sollte das jetzt? Und überhaupt. PowerPoint-Präsentationen im heimischen Wohnzimmer waren wirklich nicht sehr Hip-Hop-like. Aber Omerbegovic zog durch. Wahrscheinlich wusste er selber noch nicht, welchen Einfluss sein Label einmal, sehr viele Jahre später, auf die deutsche Hip-Hop-Kultur haben würde.


Aggro Berlin war die Blaupause

Selfmade wurde zu einem Zeitpunkt gegründet, an dem ein ganz anderes Label seine größten Erfolge feierte: Aggro Berlin. Aggro hatte mittlerweile die deutsche Rapszene nachhaltig verändert. Bislang war die deutsche Adaption von Hip-Hop stark von bürgerlichen Wohlstandskindern geprägt. Das hatte auch finanzielle Gründe. Eine Platte aufzunehmen, konnte sich nicht jeder leisten.


Die deutsche Adaption von Hip-Hop war entsprechend dem Bildungsbürgertum vorenthalten. Von den Fantastischen Vier bis Fettes Brot. Doch durch die fortschreitende Digitalisierung war es irgendwann jedem möglich, kostengünstig eigene Tracks aufzunehmen. In verschiedenen Städten entwickelten sich im Underground neue Künstler. Neue Stile. Und in Berlin auch eine neue Härte.


Dort erhob die bislang sozial benachteiligte Jugend ihre Stimme. Das Label Aggro Berlin schaffte den kommerziellen Durchbruch. Sie haben Gangstarap zwar nicht erschaffen, zum ersten Mal aber in den Mainstream gespült. Es ging nun darum, möglichst authentisch zu sein. Das Leben im Getto auf melancholische Beats zu packen. Keiner machte das so gut wie Bushido, der sich als erfolgreichster Vertreter des Genres etablieren konnte.


Selfmade dachte Aggro Berlin weiter. Man bediente sich der Sprache der Straße, überspitzte sie aber so sehr, dass sie ironisch gebrochen wurde. Man zeigte einen gut gemachten Gangsterfilm, verwies aber darauf, dass es sich eben um einen Film handelte. Fiktion. Die große Leistung von Selfmade war es so, den strengen Authentizitätsbegriff endgültig aufzulösen und Kunst wieder zu Kunst zu machen. In den Staaten fand eine ganz ähnliche Bewegung etwa zur gleichen Zeit statt. Rick Ross war einer der erfolgreichsten Gangsta-Rapper der 00er-Jahre.


Er inszenierte sich als Drogenbaron. Doch dann kam raus, dass er in seiner Vergangenheit gar keine Tonnen von Kokain verschiffte-, sondern Gefängnisaufseher war. Statt dem Karriereknick verkauften sich seine Platten weiterhin ganz hervorragend. Eine neue Zeitrechnung begann. Eine Zeitrechnung, in der ein Kollegah einen Zuhälter spielen konnte, obwohl er Jura-Student war. Den Fans war das mittlerweile egal.


Sie wollten unterhalten werden. Hip-Hop war wieder bei seinen Wurzeln angelangt. Und die lagen nicht, wie heute so oft falsch verstanden wird, in der Authentizität, sondern im Entertainment. Die zweite große Leistung von Selfmade war es, die allgemeine Messlatte für Raptechnik anzuheben. Kreuzworträtselrap wurde das einmal verächtlich genannt. Kollegahs Vergleiche, die man über drei Ecken denken musste, und mehrsilbige Reimketten, wie es sie noch nicht gab. Dazu Doubletime-Passagen und Flowexperimente. Die Technik der Selfmade-Künstler wurde zum Maß aller Dinge. 


Und dann kam der Durchbruch


Dezember 2012. Ein kleiner Büroraum, verborgen in einer Düsseldorfer Seitenstraße. Hauptbahnhofsnähe. Der Baseballschläger, der hier an der Wand lehnt, ist mittlerweile zu einem Symbol von Selfmade geworden. Man sah ihn auf Fotos. Man sah ihn in Videos. Er steht für die Härte, die man demonstrieren wollte. Denn hart war nicht nur die Musik, sondern auch die Umstände, unter denen das Label gewachsen ist.


Selfmade wurde die ersten Jahre massiv angefeindet. Das Label war für viele ein Störfaktor. Für all die, die an der Authentizität von Hip-Hop festhalten wollten. Für die Realkeeper. Nachdem man sich musikalisch mit Aggro Berlin anlegte (ein perfekt inszenierter raptechnischer Vatermord), wurde bei einem Auftritt in der Hauptstadt die Bühne gestürmt. Ein Backup-Rapper verletzt. Viele Jahre wurden die Künstler nicht mehr in Berlin gebucht. Doch auch außerhalb von Berlin gab es jede Menge Gegenwind.


Der Baseball-Schläger stand aber auch für Sportlichkeit. Die Selfmade-Künstler haben bis zu diesem Zeitpunkt ihre Probleme mit anderen Rappern immer auf Rapebene ausgetragen. Ein Diss war ein Diss. Es blieb dabei. Keine Selbstverständlichkeit im Gangstarap-Kosmos. Und dann war da noch die Disziplin von Omerbegovic, mit der er Kurs hielt. Auch in Zeiten, in denen alles verloren schien. Als das Label kurz vor dem Abgrund stand. Eine Disziplin, die vielleicht auch auf seine Zeiten als Leistungssportler zurückzuführen ist. Das zahlte sich nun alles aus. Als JBG2 erschien, wurden sämtliche Verkaufsrekorde gebrochen. 80.000 verkaufte Einheiten in der ersten Woche. Platz eins der Charts. Goldstatus. Von nun an ging es bergauf. Sämtliche CDs erreichten fortan die Spitze der deutschen Charts. Aus Gold wurde Platin. Manchmal liegen die großen Geschichten versteckt in den kleinen Details.


Was bleibt, ist künstlerische Resterampe

Selfmade schaffte es in den kommenden Jahren, zu dem erfolgreichsten deutschen Independent-Label aufzusteigen. Doch 2017 war der Zenit erreicht. Nach und nach verließen immer mehr Künstler das Label. Zunächst Kollegah, der sich mit Alpha Music Empire selbstständig machte. Auch Genetikk, die Nachwuchshoffnung, auf die sich von Feuilleton bis Hip-Hop-Head alle einigen konnten, gründeten ihr eigenes Label.


Und vergangene Woche verließ auch Favorite das sinkende Schiff. Zumindest das machte keinen Unterschied mehr, denn von dem einstigen Anarcho ist nur noch eine durch exzessiven Drogenkonsum ausgemergelte Hülle geblieben, die mit Stumpfsinn gefüllt ist.

Was bleibt von einem der ehemals wichtigsten deutschen Hip-Hop-Label der 00er-Jahre, ist nicht viel mehr als Massenware von der künstlerische Resterampe. Rap-Ramsch. Die 257ers und Karate Andi. Die 257ers vertonen in ihren Songs den immer gleichen epileptischen Anfall. Sie verpacken ihn entweder im Schlager-Gewand oder machen Technospastimucke für eine ganze Generation saufaffiner Ballermann-Berufsschüler.


Sie liefern ihnen den Soundtrack für den nächsten Sangria-Absturz. Das verkauft sich gut bei Menschen, die irgendwann einmal ihre Würde in den Bierpfützen einer After-Work-Party verloren haben. Menschen, die sich zu Karneval Herzchen auf die Wangen malen und „Party, Party" schreiend im Viervierteltakt zu dem Stumpfsinn ihrer eigenen Belanglosigkeit stampfen.


Karate Andi hingegen ist die soziokulturelle Gegenerzählung. Er fungiert als Projektionsfläche für Mate trinkende Hipster-Studenten, die in ihm eine Rap-Version von Charles Bukoskwi erkennen wollen. Karate Andi propagiert, die Führungsfigur einer Generation von Billigbier saufenden Gossenkids zu sein, eine Art Gossenpoet, der mit Sternburg in der Hand und zu viel Chemie im Kopf der Melancholie des Bildungsbürgertums zu entfliehen sucht.


Das hätte sogar klappen können. Karate Andi war einmal einer der vielversprechendsten jungen Battlerapper, die Deutschland hatte. Doch sein Potenzial erschöpft sich in belanglosen Alben, gefüllt mit belanglosen Songs, in denen er seinen Freiheitsbegriff über seine beim Mofafahren im „Wind flatternde Popelbremse" definiert. Die von ihm heraufbeschworene Generation Andy ist leider doch nur in der schäbigen Kellerkneipe von gegenüber versackt. Schade eigentlich.


Man sollte aussprechen dürfen, was nahezu offensichtlich ist. Selfmade Records ist klinisch tot. Und so schmerzhaft das auch ist, vielleicht sollte man das Label einfach sterben lassen, bevor es weiter vor sich hinsiecht. Die 257ers machten zuletzt Werbung für Penny. Das bringt sicher noch Geld, aber hat mit der Vision von Selfmade Records so gar nichts mehr zu tun. Omerbegovic, der schon immer ein gutes Gespür für aktuelle Entwicklungen hatte, widmet sich derweil gerade dem Künstler Rin.


Der ist zwar alles in allem ein großes Missverständnis der Musikgeschichte, macht aber immerhin den Sound der Zukunft. Seine Musik erscheint bei Universal. Nicht auf Selfmade Records. Manchmal liegen die großen Geschichten versteckt in den kleinen Details.

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