David Torcasso

Journalist/Editor, Berlin/Zürich

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Artikel

Warum soll Indien den Westen nachahmen?

Warum soll Indien den Westen nachahmen?

David Torcasso aus Zürich leistet seinen Zivildienst bei einer Entwicklungsorganisation in Indien. Als Journalist hilft er Landlosen, ihr Recht auf ein Stück Boden einzufordern.

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DAVID TORCASSO
FOTOS: GEORG BÜHLER, AKANKSHA DAMINI JOSHI

" "Land first" steht auf dem Schild, das eine Frau mit tätowierten Händen hochhält: "Land zuerst". Ich nehme an einem Demonstrationszug der Bewegung Ekta Parishad teil, zusammen mit über 5000 landlosen Bauern - der Marsch endet im Regierungsviertel der indischen Hauptstadt Delhi. Ich muss auf der Hut sein vor der Polizei: Ausländern ist es nicht gestattet, an einer politischen Kundgebung teilzunehmen. So sitze ich die meiste Zeit im Hotelzimmer, führe Interviews und publiziere Berichte - auf Websites und Social Media, die in Indien weit verbreitet sind.
Im Januar begann ich in Indien meinen sechsmonatigen Einsatz bei Ekta Parishad. Die Organisation ist keine klassische Nichtregierungsorganisation, sondern eine Volksbewegung, der über 700 000 Adivasi und Dalits (landlose Bauern und Kastenlose) sowie Tribals (Ureinwohner) angegliedert sind. Sie organisiert im Sinne Gandhis gewaltlose Fussmärsche für das Recht auf ein Stück Land. Denn über 50 Millionen Bauern in den Dörfern bangen um ihre Existenz, weil der Zugang zu Land und Trinkwasser durch Korruption und Grossprojekte von Regierung und internationalen Konzernen blockiert wird.
In der Stadt der tödlichen Gaswolke
Mein Arbeitsort ist die Zentrale von Ekta Parishad im Gandhian Center in Bhopal. Die Stadt erlangte in den achtziger Jahren durch die tödliche Gaswolke von Union Carbide traurige Berühmtheit. Vor dem Fussmarsch verfasste ich für Ekta Parishad einen Brief an Indiens Premier Narendra Modi. Darin forderten wir ihn auf, die Rechte der Landbevölkerung zu wahren. Das Schreiben ging nur langsam voran, denn das Internet fällt jede Stunde aus. Meine Kollegen trinken dann Tee. Ich musste mich daran gewöhnen, dass Google für sie nicht das Tor zur Welt ist. Und auch daran, dass vor zehn, halb elf Uhr niemand zur Arbeit erscheint, dafür aber am Samstag.
"Wir teilen uns sogar die Flipflops"
Drei meiner indischen Arbeitskollegen sind auch meine Mitbewohner - und meine Freunde geworden. Sie arbeiten als Social Worker für Ekta Parishad. In Bhopal leben wir in einer 3¿-Zimmer-Wohnung. Meist zu viert, manchmal zu sechst, wenn Mitarbeiter aus anderen Landesteilen zu Besuch sind. Wir teilen alles, selbst die Flipflops zum Duschen. Diese Gastfreundschaft ist in der Schweiz unvorstellbar. Die Inder würden für einen Besucher nicht nur ihr letztes Hemd, sondern auch ihre letzte Unterhose hergeben.
Wir verbringen 24 Stunden an sieben Tagen in einer Gemeinschaft. Privatsphäre gibt es höchstens auf der Toilette. Ich bemerke aber, dass dieses Leben weit behaglicher ist als der in Europa zelebrierte Individualismus. Weil wir so viel Zeit miteinander verbringen, ist unsere Freundschaft so rasch gewachsen.
Zum Zivildienst in Indien kam ich über den Schweizer Verein Centre for Socio-Cultural Interaction. Er unterhält in Südindien ein Zentrum zur Ausbildung junger Sozialaktivisten. Gegründet wurde es 1993 von der Zürcherin Maja Koene. Auch dieser Verein unterstützt Ekta Parishad.
"Jal, jungle aur jamin" - "Wasser, Wald und Erde", rufen die Menschen auf dem Marsch und fordern von der Regierung eine Landrechtsreform. Ein Stück Erde steht für die Würde der Adivasi und Tribals, die durch ihr Handwerk und ihre Tradition reich sind, aber heute kaum überleben können. Der Gründer von Ekta Parishad, Rajagopal P. V., sagte mir: "Warum sollte Indien den Westen imitieren, wenn es Alternativen gibt? Landwirtschaft hat Zukunft - zumindest für unsere Nahrung."
"Ich bin in Indien mittendrin"
Ich darf in Indien nicht als politischer Akteur auftreten. Meine Aufgabe ist es, in kleinen Schritten zu denken und meinen Kollegen aufzuzeigen, wie sie mit geschickter Kommunikation die Bewegung wirksam unterstützen können. Sei das mit einem Blog oder dem Schneiden eines Films. Das Konzept des gewaltlosen Wirkens versuche ich auch in der Freizeit zu leben. So unterrichte ich nach der Arbeit Kinder aus Bhopals Slums in Englisch. Und ich esse kein Fleisch mehr. Manchmal verbringe ich ein paar ruhige Momente beim Joggen oder am See von Bhopal.
Ich bin in Indien mittendrin - statt wie ein Tourist nur dabei. Das macht nachdenklich. Eigentlich müsste die Schweiz in der Welt mehr Verantwortung übernehmen. Dass wir als Nation ein Vielfaches mehr verbrauchen, als wir benötigen, während Millionen von Menschen unterhalb der Armutsgrenze leben, kann man als Ausdruck struktureller Gewalt sehen.
David Torcassos Blog: www.dal-by-dal.com
Weitere Informationen: www.cesci.ch;
www.ektaparishad.com
"Privatsphäre gibt es höchstens auf der Toilette." David Torcasso, 31