David Torcasso

Journalist/Editor, Berlin/Zürich

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Artikel

Sex in the Bankenstadt

Alle sprechen vom Strassenstrich. Dabei ist Zürich vor allem eine Stadt der Luxus-Prostitution.

Von Sacha Batthyany und David Torcasso

Wenn Nadja durch die Flure der Fünfsternehotels läuft, dann tut sie das geräuschlos, sie kennt die Wege, sie kennt die Farben der Spannteppiche. «Ich mag das Spiegelzimmer im Hotel Widder, ich liebe es, im Dolder zu frühstücken, im Park Hyatt verbringe ich mehr Zeit als in meiner Wohnung.» Nur ins Savoy gehe sie ungern, seit ihr ein Concierge vor zwei Jahren den Weg zum Lift abschnitt. «Pardon Madame», sagte er leise, «sind Sie hier eigentlich Gast?»

Nadja lackiert sich die Nägel, die Bar des Hotels Crown Plaza ist um diese Zeit immer leer. Ihr blaues Etuikleid sitzt, als wäre es aus Wachs, ihr schulterlanges Haar glänzt im gedimmten Licht, das aus winzigen Halogenlampen von der Decke scheint. «Ich bin ein Luxus-Escort», sagt Nadja auf Englisch mit russischem Akzent, während sich der Geruch von Nagellackentferner ausbreitet, «ich bin keine Prostituierte, eher eine Art Geisha.»

Nadja lebt von wohlhabenden Ärzten, Piloten, Juristen, die tausend Franken bezahlen für neunzig Minuten, aber vor allem lebt sie von den Banken, wie sie behauptet: «Sie buchen mich für ihre besten Kunden, aber nicht wie eine kleine Nutte von der Langstrasse, es muss alles zufällig aussehen: Ich warte in einer Lobby oder in einem VIP-Zelt, zum Beispiel während des Pferderennens in St. Moritz. Sie sprechen mich an, wir flirten, ich trinke Bellini, als hätten wir geschäftlich miteinander zu tun. Männer mögen die Jagd, also gebe ich ihnen das Gefühl, sie könnten mich verführen. Das ist meine Strategie», sagt Nadja gelangweilt: «Ich gebe mich unschuldig und naiver, als ich bin. Und wenn mich ein Mann nach Monte Carlo einladen will, dann sage ich: ‹Monte Carlo?, das wäre wunderbar, da war ich noch nie!›, obwohl ich dort jedes Bett kenne. Ich mag die Badewanne in der Churchill-Suite im Hotel de France.»

Zürich und Prostitution das sind die ungarischen Roma am Sihlquai, über die in diesen Tagen alle berichten. Das sind die Brasilianerinnen an der Langstrasse und die Thais in ihren winzigen Massagesalons. Dabei ist die Stadt im Ausland ebenso bekannt für edle Escort-Damen wie Nadja, nur sind sie kaum sichtbar, weil sie keine Latexröckchen tragen und den Männern nicht nachpfeifen, sondern mit ihnen in der Businessklasse nach Bali fliegen, Sitznummer 1F, woanders, sagt Nadja, sitze sie nicht.

Einige dieser Top-Callgirls arbeiten für Agenturen und geben vierzig Prozent ihrer Einnahmen ab, doch viele arbeiten für sich, halten sich ein Dutzend Stammkunden und verdienen in guten Monaten 20 000 Franken, seit der Finanzkrise weniger. Sie wohnen am Zürichberg oder sind auf Durchreise, Steuern zahlt keine.

ZÜRICH GEGEN GENF

Nadja stammt aus Tomsk, Westsibirien, einer Stadt mit fünfhunderttausend Ein- wohnern, aber nur «zwei halbwegs brauchbaren Schuhgeschäften». Ihre Eltern arbeiten beide als Hochschullehrer. Sie leben in einem kleinen Haus ohne Garten und sind seit vierzig Jahren verheiratet, doch nur des Status wegen, nicht der Liebe, schon als Kind habe sie diese Verlogenheit gestört. Nadja, die ihre Biografie in wenige, leere Sätze quetscht, wollte weg, «raus aus Russland», sie wollte Tänzerin werden und landete mit achtzehn in einem Kabarett in Subotica, einer miesen Kleinstadt im Norden Serbiens, wo ihr italienische Geschäftsmänner Eiswürfel in den Ausschnitt steckten. «Wer es dort schafft», sagt sie, weil der Bar-Pianist gerade Sinatras «New York, New York» spielt mit viel Pedal , «schafft es überall.»

Es folgte ein Jahr in einem Nachtklub in Pisa, wo sie im Monat 2000 Euro verdiente, in Paris schloss sie sich einer Escort-Agentur namens Elite an, deren Chefin wegen Steuerhinterziehung mittlerweile im Gefängnis sitzt. «Ich wurde in ganz Frankreich bekannt für meinen Blowjob», sagt Nadja und hebt den Kopf, als würde sie auf Applaus warten oder einen Tusch. Dann kam die Schweiz.

«Alle Mädchen wollen in die Schweiz. London hat vielleicht mehr Glamour, Paris ist eleganter, aber hier ist unsere Arbeit legal, das ist entscheidend. Wir müssen keine Angst haben. Zürich ist mein Paradies.»

Im Unterschied zu Genf, wo sie mit ihren Kunden auf Partys ging, auf Vernissagen und sich öffentlich zeigte, spiele sich ihr Leben in Zürich verborgener ab. «Ich bewege mich meist in Hotels.»

Nadja bestellt Rindstatar ohne Cognac, ohne Zwiebeln, ohne Pfeffer, in zwei Stunden trifft sie sich mit einem ehemaligen Piloten der Jet Aviation im Grand Hotel Dolder, den sie zweimal im Monat sieht. «Ein netter Mann, verheiratet, doch Sex mit ihm ist anstrengend», weil er bestimmte Positionen fordere, weil er ihr seitenlange E-Mails schicke mit seinen Wünschen und Vorstellungen. «Er schreibt mir auf, wann ich was zu tun habe, bis zu den Geräuschen: ob Ahhh oder Ohhh. Jede Minute ist verplant.» Als wäre sie sein Airbus.

«Viele meiner Kunden haben Familie, sie schreiben ihren Frauen Textnachrichten, während ich mich im Badezimmer ausziehe.» Doch Mitleid habe sie keines. Sie nennt die Frauen in Zürich Schneeköniginnen: gute Figur, elegant gekleidet, doch innendrin eiskalt und eigenartig ambitionslos im Bett. «Sie haben keine Ahnung, was ein Mann will und es ist ihnen auch egal. Das macht es für mich hier so einfach. Ich kenne fünfzig Arten, einen Mann zu verführen. Schneeköniginnen kennen zwei.»

Nadja steht auf, zieht ihren Mantel an, schnürt den Gürtel um die Taille fest mit einem Ruck. In ihrer Handtasche hat sie alles dabei, was sie für ihren Piloten braucht: Louboutins, eingepackt in einen Beutel aus rotem Filz, und hautfarbene Unterwäsche, «das war sein Wunsch», und sie lacht ein mädchenhaftes Lachen, so routiniert, tausendfach an Männern ausprobiert. Nadja grüsst den Pianisten sie scheinen sich zu kennen und steigt in ein Taxi.

«Nicht die Langstrasse ist das wahre Rotlichtviertel», sagt Claude, Inhaber einer Escort-Agentur namens Swissmodels, die auch in London tätig ist, «sondern die Nobelgegend zwischen Bahnhofstrasse und See: die Hotels, die teuren Läden, die Restaurants und Nachtklubs. Offiziell würden sie es zwar nicht zugeben, aber sie alle profitieren von diesem Geschäft.» Im Schatten des ewigen Geredes um die «Schweizer Grüselmeile Nummer 1» («Blick») hat sich die Gegend um den Paradeplatz, wo sich die Hauptfilialen der Banken befinden, in den letzten Jahren verändert: Nach Ladenschluss herrschte hier früher eine eigenartige Totenstille, mal abgesehen vom Kaufleuten, dem Zürcher Klub der Neunzigerjahre. Es schien, als ob sich die Verschwiegenheit der Bankiers auch auf das Quartier auswirke.

Mit den Boni, den Gehältern und dem Aufstieg Zürichs in die Top Ten der wichtigsten Finanzplätze der Welt stieg auch die Anzahl der Nachtklubs und Bars und Lärmklagen, wie die Stadtpolizei bestätigt. Wo früher die Gnomen hausten und ihr Geld leise vermehrten, wird heu-te gefeiert und geprasst bis morgens um vier: im Saint Germain, im Jade, im Icon, im Carlton am Dienstag, nirgends ist Zürich grossstädtischer als im Petit Prince am Mittwoch gegen drei Uhr morgens, wenn die Russinnen den anwesenden Geschäftsmännern zeigen, wie man Wodka trinkt. Selbst gegenüber der Tonhalle, in dessen Foyer sich die Zürcher Bildungsbürger Lachs-Canapés mit Kapern gönnen, während sie sich über Bruckners «Neunte» unterhalten, wirbt seit Wochen ein meterhohes Plakat für eine Escort-Agentur namens massage-forum.ch. Es könnte auch am Hauptbahnhof hängen. Tut es aber nicht.

Es ist ein heller Sommertag, Vanessa, Nadjas Freundin, trägt ein blassgrünes Kleid, passend zu den Ledersesseln im Restaurant Rive Gauche, unweit des Paradeplatzes, und kurz, als wäre es ein Herrenhemd. Sie bestellt rohen Thunfisch, aber vor allem will sie rauchen, also steht sie auf, und sämtliche Männer sehen ihr dabei zu, wie sie auf ihren hohen Schu- hen durch den Raum balanciert: eine Giraffe auf Stelzen.

KEINE «ZIGEUNERNUTTE»

Ein paar Stunden zuvor fand in einem sehr viel spartanischeren Raum an der Walchestrasse 19 eine Pressekonferenz zum Thema «Missstände im Prostitutionsgewerbe» statt. Es gab Kaffee und Granini-Orangensaft, rund vierzig Journalisten waren anwesend, «das Thema zieht eben», sagte ein Kollege vom Radio: Es ging um den Strassenstrich an der Sihl, um die Hygiene in den rund zweihundert Bordellen der Stadt und um Lösungen, damit «Zürich nicht zur Sexmeile» verkommt, wie Bruno Sauter, Chef des kantonalen Amts für Wirtschaft und Arbeit, verkündet. Allein im Januar hätten sich 495 Prostituierte neu angemeldet, ein Ausweis und ein Foto reichen, plus 25 Franken in bar einen Maronistand zu eröffnen ist in dieser Stadt schwieriger.

«Natürlich erscheinen wir in keiner dieser Statistiken», sagt Vanessa genervt, weil sie mit diesen «Zigeunernutten» nichts zu tun haben will. «Ich kann jeden Mann so weit bringen, dass er mich finanziell unterstützt. Das unterscheidet mich und Nadja von den Frauen am Sihlquai: Wir wählen uns die Männer aus, nicht umgekehrt.» Und doch schaffen sie es, dass der Mann am Ende das Gefühl hat, er habe sie erobert, obwohl er längst in ihrer Falle sitzt: Das ist ihr grösster Trick.

Tagsüber arbeitet Vanessa in einem Schuhgeschäft in der Nähe der Bahnhofstrasse. Sie ist vierundzwanzig Jahre alt, in Horgen aufgewachsen, sie sehnt sich nach einem Leben mit zwei Kindern, einem Labrador und einem Ehemann, der abends im Range-Rover nach Hause kommt, noch aber verbessert sie sich ihren Lohn, in dem sie abends Zeit mit ihren «Sponsoren» verbringt. «Einige bezahlen mich mit Kleidern, andere zahlen meine Miete», letztes Jahr hatte sie einen Anwalt, der ihr alles Unangenehme vom Hals hielt: Rechnungen, Steuern, Versicherungspolicen. «Dafür wünschte er sich Ringkämpfe in Unterwäsche. Wir hielten uns an den Armen, wie japanische Sumokämpfer, und stampften auf seinem Bett herum», sagt Vanessa, dabei rutscht ihr ein Stück Thunfisch von den Stäbchen. «Zwischen unseren Oberkörpern befanden sich bunte Luftballons. Er mochte den Geruch und das Geräusch, wenn sich die Ballons an unseren Körpern rieben, bis sie platzten.»

Vanessa und Nadja arbeiteten schon oft zusammen, zuletzt verbrachten sie Anfang Monat ein Wochenende mit drei Russen am Genfersee, die sich verhalten haben sollen wie Kinder. «Nadja ist die Beste», sagt sie, so diszipliniert, ein Profi, «ein Vorbild für viele.» Manchmal würden sie zusammen ausgehen, um sich neue Männer zu suchen, in Nachtklubs wie dem Icon oder dem Diagonal, wo Champagnerkübel auf niedrigen Tischen stehen und die Männer beim Tanzen ihre Fäuste ballen wie Sieger. «Ich stehe an der Bar mit offenen Haaren, ein Rock vielleicht, High Heels immer. Ich schau mich um, ich zeige meine Hüften, sobald ich ein leeres Glas in der Hand halte, kommen die Männer geflogen wie die Motten ans Licht.»

Erst danach beginne die eigentliche Arbeit: das Kopfverdrehen, das Spielen, das Lügen, das Flirten. «Jeder Mann will hören, dass er der Beste ist», sagt Vanessa so ruhig, wie sie alles sagt. «Du musst sie anhimmeln, du musst sie um Rat fragen: Welches Sofa soll ich kaufen? Wie funktioniert die Börse? Erklär mir dies, erklär mir das.» Aber vor allem müsse sie dosieren und stets darauf achten, dass der Mann das Gefühl habe, es komme noch mehr. Auch im Bett. «Du fängst zart an, als wärst du seine Freundin, aber du zeigst, dass du alles drauf hättest und dass es immer weitergeht.» So halten Frauen wie Vanessa die Männer am Laufen, wie einen Esel mit einer Karotte.

NADJA IST DIE BESTE

Es war der Tag, an dem die Schweiz in Südafrika gegen Honduras spielte, die Strassen waren leer, hie und da hörte man das Raunen der Fans, die sich in den Restaurants und Cafés versammelten und gemeinsam ein Tor herbeisehnten, das dann doch nicht fiel. «Zürich ist im Ausland für zwei Dinge bekannt», sagte Paolo, ein Möbelhändler aus Mailand, während er Bratwurst am Bellevue ass.

Erstens?

«Die silbernen Toilettenhäuschen, die aussehen wie Tempel. Warum baut ihr Schreine für eure Ausscheidungen?»

Und zweitens?

«Die Frauen.» Nirgends sei es so einfach und erst noch legal, um 23 Uhr ein sechzehnjähriges Mädchen aufs Zimmer zu bestellen. «Nirgendwo sonst in der Welt wirst du am Flughafen mit einem grossen Plakat eines teuren Bordells namens Aphrodisia begrüsst. Eure Edelnutten das ist Zürichs wahre Sehenswürdigkeit. Ich kenne Geschäftsmänner, die innerlich jubeln, wenn sie Sitzungen in Zürich haben. Denn anders wie in Paris, werden sie von ihren Ehefrauen nicht begleitet, da Zürich als bieder gilt. So haben die Männer freie Hand.»

Paolo, der zweimal im Jahr um den Globus reist, schrieb Nadjas Telefonnummer auf einen Zettel und sagte, wie Vanessa Wochen später: «Nadja ist die Beste.»

«Die Nobelprostitution in Zürich entwickelt sich zu einem Tourismusfaktor», sagt auch der umstrittene Strafverteidiger Valentin Landmann, dem ein Ruf als «Anwalt der Unterwelt» vorausgeht. Der offizielle «Cityguide» der Stadt, herausgegeben von Zürich Tourismus, macht seitenlang auf die verschiedenen Escort-Agenturen aufmerksam: Belle-Donne, Glamour-Model, Teeny-Model, Swiss-Elite, keine andere Branche inseriert so oft. «Das Angebot ist breit, der Markt lebendig», so Landmann, der mehrere Inhaber solcher Agenturen berät, oft gewöhnliche Geschäftsmänner, die nebenher noch was verdienen wollen, «wer möchte, kann morgen eine Agentur eröffnen.»

Die Zulassungspraxis ist liberal, wie kaum woanders. Es gibt keine Hürden, es gibt keine Mafia in Zürich. Dafür eine hohe Kaufkraft, viel schweizerische Diskretion und genug internationale Klientel.

«HALFWAY HOOKERS»

Als der Golfprofi Tiger Woods im Frühling dieses Jahres mit dem Auto gegen einen Baum fuhr und sich herausstellte, dass er ein Dutzend Affären hatte, war die Klatschpresse in erster Linie an deren Anzahl interessiert, dabei war die Herkunft der Frauen, dieses Milieu, viel interessanter: Frauen wie Kalika Moquin, Jamie Jungers, Julie Postle und die berühmteste von allen Rachel Uchitel. Die einen arbeiten in Nachtklubs, andere organisieren Partys, und doch leben alle von ihren Sponsoren und suchen sich neue, wenn alte Quellen versiegen. Halfway Hookers werden sie in den USA genannt, irgendwas zwischen einer Geliebten und einer Prostituierten. Es ist das Jobprofil von Nadja und Vanessa.

Nadja sagt: «Alles ist käuflich», als sie eine Woche später im Hotel Leonardo, oben beim Rigiblick, in der Nähe der ETH, kalte Tomatensuppe löffelt. «Ich bin ein Profi darin, so zu tun, als wäre ich verliebt, als bestünde die Möglichkeit einer Affäre.» Nie würde sie Druck ausüben, nie einen der Männer belagern, beschimpfen, erpressen, «ich reagiere immer nur auf deren Wünsche, Männer wollen keine Emanzen. Das ist ja der Unterschied zwischen mir und ihren Ehefrauen: Ich stelle keine Forderungen. Alles muss sich federleicht anfühlen, als würden wir uns blindlings verstehen.» Vor allem die Anfangseuphorie müsse sie nutzen, es sei die lukrativste Zeit, «in den ersten Wochen und Monaten kaufen mir die Männer alles».

Angela Montanile, Chefin der Abteilung Milieu- und Sexualdelikte der Stadtpolizei Zürich, erzählt von einem ähnlichen Fall: einer Russin, wie Nadja, die mehrere Zürcher Männer gleichzeitig in den Ruin getrieben haben soll. «Sie war gepflegt bis in die Haarspitzen, sehr gebildet, ein wenig arrogant. Sie war die eiskalte Königin, vor der die Männer in die Knie gingen.» Irgendwann sei die Russin dann abgereist und hinterliess ihre verzweifelten und gebrochenen Opfer, die sich erfolglos an die Polizei wandten. «Doch», sagt Montanile, «die Dame hat das Gesetz nicht gebrochen. Sie hat nichts Verbotenes getan. Die Männer gaben ihr alle freiwillig, was sie hatten. Ich würde sogar sagen, es sei ein psychologisches Geschick, das sich diese Russin zunutze machte.» Nur neu ist das alles nicht

SELTSAME VORLIEBEN

Mätressen, die ihren Geliebten den Kopf verdrehten, gab es schon im Hochmittelalter, später, im 18./19. Jahrhundert, wurden sie immer berühmter und mächtiger, wurden verehrt und verewigt, von Madame de Pompadour, der Mätresse Ludwigs XV., bis zu Marie Duplessis, der «Kameliendame». Balzac schuf mit «Glanz und Elend der Kurtisanen» eine präzise Sittenstudie aus dem Pariser Leben um 1847. «In der Belle Époque waren Kurtisanen wie La Belle Otéro oder Liane de Pougy richtige Medienstars, sie pflegten enge Kontakte zu den damaligen Klatschreportern, die über ihre Auftritte, ihre teuren Garderoben und luxuriösen Wohnungen berichteten. Die Starfotos dieser Frauen wurden zu Tausenden als Postkarten verkauft. Es waren ‹material girls› avant la lettre, sie trieben angesehene Männer in den Ruin und wurden unglaublich reich», sagt die Historikerin Regula Bochsler, die 2004 eine Sonderaustellung zur Prostitution in Zürich mit dem Titel «Wertes Fräulein, was kosten Sie?» kuratierte. «Mit dem Untergang des Adels im Ersten Weltkrieg geht auch die Zeit der öffentlichen Edelprostitution zu Ende. Heute», sagt Bochsler, «hält man sich Mätressen wieder heimlich.» Es ist die Zeit der bürgerlichen Doppelmoral. Es ist die Zeit, in der Politiker wie Eliot Spitzer, ehemaliger Gouverneur New Yorks, am Fernsehen die Gier der Banker anprangert und sich am Abend heimlich mit Damen wie dem Luxus-Callgirl Ashley Alexandra Dupré im Hotelzimmer 871 in Washington trifft und seine Karriere ruiniert.

«Einer meiner Stammkunden», erzählt Nadja, die zweimal pro Woche eine Businessschule besucht, um sich auf die Zeit vorzubereiten, in der sie alt sei und «verwelkt», «ist ein Zürcher Politiker, der öffentlich gegen den Strassenstrich am Sihlquai wettert und von Verwahrlosung der Gesellschaft spricht. Am Abend will er, dass ich ihn ans Bett fessle, ihn erniedrige und ihm mit Turnschuhen auf dem Bauch rumtrample.»

Im Unterschied zu den Russen seien Schweizer Männer komplizierter. «Sie sind sehr nett vor dem Sex und sehr distanziert danach. Als würden sie sich schämen, sich hinzugeben. Als könnten sie sich nicht eingestehen, Sex zu wollen. Den Russen ist gar nichts peinlich. Sie sprechen den ganzen Tag nur über Sex oder sie spielen Karten.»

Dafür hätten die Zürcher seltsame Vorlieben. «Am Anfang wollen die meisten das nette Mädchen, so sauber, so elegant. Sie wollen keine Diva, keinen Vamp. Sie wollen von mir hören, dass ich viel jogge und gerne Obst esse, Äpfel, Bananen, weil mich das gesund macht.» Dann aber würden sich überdurchschnittlich viele Urin- und Kotspiele wünschen, sagt Nadja, und sie ist nicht die Einzige.

Vanessa, die Giraffe aus dem Schuhgeschäft, sagt: «Bei den Arabern gehts immer ganz schnell. Die Schweizer hingegen sind nicht so bescheiden, wie man annehmen könnte. Irgendwann kommt die Frage nach Urin, direkt ins Gesicht oder aus dem Glas.»

Die deutsche Domina Ava von Eden, die lange in Berlin und Düsseldorf arbeitete und in Zürich innert kürzester Zeit zur begehrtesten ihrer Gilde aufstieg, sagt: «Ich habe in meiner Kammer präparierte Toiletten, unter die sich die Männer legen. In Zürich ist das extrem beliebt, während deutsche Männer mehr auf Gewaltspiele stehen.»

Irina, die zwei Jahre lang bei einem der renommiertesten Escort-Agenturen Zürichs Anrufe entgegennahm und ihre Arbeit mit der eines Pizza-Kuriers verglich, weil die Männer am Telefon ihre Spezialwünsche durchgaben («Latina, aber gross soll sie schon sein, keine Raucherin»), als handle es sich um eine Extraportion Käse, Schinken oder Champignons, sagt: «Am häufigsten gewünscht wurden Natursekt und Kaviar, also Kot. Viele fragen nach Kokain, was wir auch lieferten. Und Silikonbrüste, die sind wieder out. Schweizer Männer stehen auf Natur.»

ZWINGLI IST TOT

Das Büro des bekannten Ethnologen und Psychoanalytikers Mario Erdheim, 70, liegt hinter dem Schauspielhaus. Erdheim ist Experte für sexuelle Perversionen, er hält Vorträge über amerikanische Politiker, die nichts erregender finden, als heimlich unter dem Anzug Damenunterwäsche zu tragen und damit vor Ausschüssen erscheinen. Ganz gelassen sitzt er in seinem Sessel, hinter ihm eine wacklige Wand aus Büchern und CDs. «Das Einsetzen starker sexueller Formen dient dem Abbau von Stress, der gewöhnliche Sexualverkehr reicht nicht mehr aus.» Psychoanalytisch könne man auch von einer Symbolisierung sprechen, «die Männer drücken damit aus, welche Scheisse sie täglich bauen». Es sei eine Art Entlastung. Es sei ein Art Geständnis und wirke als Katharsis. «Weil sie nicht darüber reden können, inszenieren sie ihre Schmutzgeschäfte in der Sexualität.»

Aber wie ist das möglich, Herr Erdheim? Zürich ist doch eine protestantisch geprägte Stadt? So enthaltsam, so wertkonservativ. Wieso dürfen sich sechzehnjährige Mädchen legal prostituieren?

Wieso gibt es kaum moralische Entrüstung?

Wieso fordern plötzlich alle Verrichtungsboxen, wie man sie aus Holland kennt: Toilettenkabinen aus Plastik, in der man schnell mit einer Frau verschwindet. Wieso finden das alle normal?

«Angebot und Nachfrage», so Erdheim. Zürich sei eine Finanzstadt mit li- beralem Geist, «es ist nicht die Zeit der Moral, sondern des Marktes.» Max Weber, der Soziologe, zog eine direkte Linie zwischen der protestantischen Arbeitsethik des 18. und 19. Jahrhunderts und dem Kapitalismus von heute. Nur mit Arbeitsfleiss in der diesseitigen Welt verbesserten sich die Bürger die Aussichten, ins Paradies zu gelangen. Die Masseinheit für den Wert der Arbeit wurde das Geld: Was kein Geld brachte, galt schon damals als unnütz und heute erst recht.

EROTIC MOMENTS

Dennoch kann man seit den Neunzigerjahren beobachten, wie der Einfluss des Protestantismus von Zwingli in Zürich schwindet. Diese Lockerung an Sittenstrenge, an Reserviertheit und Enthaltsamkeit ist an vielen Signalen zu erkennen: an den Ladenöffnungszeiten, die sich immer weiter ausdehnen. An der Bar- und Klubdichte, die so hoch ist wie nirgends sonst. An der Berichterstattung ausländischer Journalisten, die sich die Augen reiben, wenn sie nach Jahren wieder nach Zürich kommen. «Those who still think Zurich is sober and irredeemably bourgeois are in for a surprise», schreibt die «Financial Times».

Man erkennt den Wandel der Stadt auch an der Luxus-Hotellerie, die bis vor wenigen Jahren aus Häusern wie dem Savoy oder dem Baur au Lac bestand, charmant zwar und vornehm bescheiden, aber auch hoffnungslos verstaubt und schrecklich verknorzt, weil es bis heute verpönt ist zu zeigen, wie viel Geld man hat, obwohl alle darin schwimmen. Bis im Jahr 2004 das Park Hyatt eröffnete, wenige Schritte vom Paradeplatz entfernt: Auf einmal parkieren pfirsichfarbene Lamborghinis im Halteverbot vor dem Eingang zur Lobby, und in der gut besuchten Onyx-Bar werden auch nach dem Rauchverbot kubanische Zigarren gequalmt. Frauen wie Vanessa gehen hier auf Kundenfang, manche von ihnen verteilen Visitenkarten, auf denen «Erotic Moments» steht, während sie langsam an den Barhockern vorbeischleichen und sich bevorzugt Männer aussuchen, die mit den Schlüsseln ihrer Autos spielen und sich zwischen den Drinks ein paar Cashewnüsse einwerfen, auf dass man ihre gebleachten Zähne sieht.

Dass Kurt Straub, der Direktor des Hyatt Zürich, all das nicht verleugnet und sich nicht versteckt, auch das passt zum neuen Selbstverständnis: «Wir wollen Luxus und Lifestyle zelebrieren.» Straub ist ein gross gewachsener Mann, der an den ehemaligen Botschafter Thomas Borer erinnert, redegewandt, selbstbewusst, die Haare glatt nach hinten gekämmt, die Stimme sonor: «Wir sind keine Kirche», sagt er in einem klimatisierten Sitzungszimmer im zweiten Stock, «wir haben nichts gegen solche Damen, solange sie sich korrekt verhalten und die Gäste nicht belästigen», was allerdings eine Gratwanderung sei.

Auf keinen Fall möchte Straub mit dem Langstrassen-Milieu in Verbindung gebracht werden, deshalb habe er veranlasst, die Eingangskontrollen zu verschärfen, Lifte seien nur noch mit Schlüsselkarte bedienbar, Hausverbote wurden ausgesprochen, weil irgendwann «einfach zu viele dieser Damen da waren» und sich einige zu forsch verhielten und so Straub zu deutlich.

«LOGOS SIND FÜR JUGOS»

Es ist halb acht Uhr abends, Sarah nimmt ein paar Kleidchen aus ihrem Schrank und wirft sie auf ihr Bett, «ich brauche 45 Minuten für das ganze Styling». Sarah, 17, Gymnasiastin aus Erlenbach, hat sich ihre Fingernägel mattgrau lackiert und sich für ihre Louis-Vuitton-Tasche entschieden, ohne Logo, natürlich, denn «Logos sind für Jugos». Sarah bestellt ein Taxi.

Es soll eine «super Nacht» werden, hofft sie, «die Letzte, bevor alle in die Sommerferien abzischen». Sarah will feiern, tanzen, koksen, nichts verpassen aber vor allem gratis trinken, nirgends Eintritt bezahlen, keine Schlange stehen, «ein bisschen prostituieren wir uns schon, was ist denn dabei?».

Auf ihrem Blackberry erkundigt sie sich, ob alle schon im Café Terrasse sitzen am Bellevue, nie würde sie Zug fahren oder Tram, nie ein iPhone benutzen, zu vulgär, der Abend kann beginnen: Die Jungs haben sorgfältig frisierte Haare, T-Shirts mit weitem V-Ausschnitt, sie tragen Evisu-Jeans zu ihren lila Tods. Die Frauen trinken Cosmopolitan, fotografieren sich in ihren Paillettenkleidern und laden ihre Schmollmundfotos auf ihre Facebook-Profile. «Die wichtigsten Männer», sagt Sarah, seien die Veranstalter von Partyreihen wie Vanity, Chic oder Royal Flash. «Wenn du an die rankommst, dann bist du jemand.» Dann werde man versorgt. Im Grunde sei es wie ein Tausch: «Wir ziehen uns sexy an, wir flirten, wir küssen, wir sind schön und jung. Und die Veranstalter geben uns Alkohol und Drogen und eine perfekte Party.» In dieser Stadt lerne man schnell, dass man was geben müsse, um etwas zu erhalten. «Freundinnen von mir blasen für Memberkarten.»

EIN NEUES LEBEN

Vom Terrasse geht es weiter mit dem Taxi ins Saint Germain, obwohl es nur einige hundert Meter entfernt ist: Die Musik peitscht, die Menge wippt, «im Kaufleuten gibt es neuerdings keinen Moët mehr, nicht mal Dom Pérignon», schreit Selina, eine Freundin von Sarah, «nur noch Taittinger», und sie verzieht das Gesicht, als hätte sie in eine dieser Limetten gebissen, die man mit Tequila reicht, während es aus den Lautsprechern dröhnt: «Take a dirty picture of me!»

Und so geht der Abend weiter. Vom Saint Germain ins neu eröffnete Jade, mit kurzem Zwischenhalt im Kaufleuten, im Icon, wo Sarah, wie sie erzählt, auf der Herrentoilette mit einem älteren Typen Sex hatte, der ihr eine Woche später eine Tasche schenkte. «Mit meinem letzten Freund war ich eigentlich nur zusammen, weil er Geld hatte und weil ihn alle kennen», sagt sie gleichgültig, doch da ist sie schon zu betrunken, um zu merken, wie hässlich dieser Satz aus dem Mund einer Siebzehnjährigen klingt.

Und wie sehr er an Nadja erinnert.

Nadja, der Profi, sitzt im Zug nach Ascona, wo sie ihren Piloten trifft, der hier mit seiner Familie die Ferien verbringt. Er hat ihr einen Plan geschickt, Hotelname, Zimmernummer, Zeitpunkt, und ihr mitgeteilt, was sie anzuziehen habe. Die Fussballweltmeisterschaft ist vorbei, der Sommer auch, kurz vor dem Gotthard beginnt es zu regnen, und Nadja erzählt von ihrem Umzug in eine neue Wohnung, vier Zimmer, wenig Möbel, keine Bilder, kaum Küchengeräte. «Ich mag es leer und luftig, eine Flasche Champagner und Mozzarella di Bufala findet man bei mir jedoch immer, falls Freunde kommen», doch es klingt nicht, als ob dies je passiert wäre. «Vor Jahren» sei sie mit einem Franzosen verheiratet gewesen, einem ehemaligen Kunden, dem sie kaum nachtrauert, aber einen EU-Pass verdankt. «Früher habe ich zu viel gezeigt, zu viel gegeben», heute habe sie eine Savannahkatze, die aussehe wie ein Tiger, «mehr Nähe brauche ich nicht».

Wenn Nadja lacht, dann formen sich kleine Krähenfüsse um ihre Augen, sie ist 33 Jahre alt, sie hat zu oft nachts gelebt, man kann das sehen, «eigentlich ist meine Zeit vorbei», sagt sie und klingt kalt. Sie kenne alle Beauty-Produkte, alle Masken, alle Cremes. Sie schwört auf Vitamin-Eye-Pads von Essence für drei Franken, das Teuerste sei oft nicht das Beste. «Irgendwann will ich mit diesem Leben aufhören.» Ihr Traum sei ein Haus am Meer, ihre Stammkunden hätten ihr gezeigt, wie man Geld anlegt. Und Kinder? Ja, vielleicht, «eines Tages», Nadja blickt böse, wenn ihr das Gespräch zu persönlich wird.

Nach vier Stunden im Zug, sieht sie noch immer aus wie frisch geduscht. Ihre Frisur, ihre Haut, ihre Kleidung, alles sitzt, alles makellos, keine Krümel, obwohl sie dauernd Zwieback ass, weil sie Magenschmerzen hat. Es ist kurz vor fünf, als sie die Lobby des Hotels Riposo betritt. Kein Fünfsternehotel, ein eher unauffälliges Haus, die Sessel im Eingang sind aus hellem Holz, drei Stunden später tritt sie wieder hinaus.

Sie sucht ein Taxi, doch es steht keines bereit. Sie zögert, wirkt unsicher, zu Fuss geht sie die engen Gassen hinunter. In der Via del Lago verschwindet Nadja im Strom der Touristen, die da langgehen und dort.

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