2 Abos und 4 Abonnenten
Artikel

Die vermeidbaren 10 Millionen Tonnen

Über 18 Millionen Tonnen Nahrungsmittel landen in Deutschland pro Jahr im Müll - zehn Millionen wären vermeidbar. Diese Menge entspricht fast einem Drittel des aktuellen Nahrungsmittelverbrauchs Deutschlands. Zu diesem Schluss kommt die Studie „ Das große Wegschmeißen " des WWF.

Die Verschwendung und die Verluste bei der Produktion haben gewaltige wirtschaftliche und ökologische Auswirkungen. Der WWF rechnete die zehn Millionen Tonnen Lebensmittelabfälle, die als vermeidbar klassifiziert wurden, in 2,6 Millionen Hektar Ackerfläche um. Fläche, auf der Lebensmittel unter erheblichem Energieaufwand und Verbrauch von Pestiziden und Dünger erzeugt werden, nur um anschließend in der Tonne zu landen. 2,6 Millionen Hektar Ackerfläche entspricht fast einem Viertel der gesamten Fläche, die in Deutschland für die Erzeugung der Agrarrohstoffe für Ernährung benötigt wird - und in etwa der Größe von Mecklenburg-Vorpommern.

Eine Fläche, so groß wie Mecklenburg-Vorpommern

Die Autoren der WWF-Studie haben sich die komplette Wertschöpfungskette der Nahrungsmittelproduktion angesehen. Konzipiert ist die Studie als Meta-Analyse: das bedeutet, der WWF hat nicht selbst Untersuchungen angestellt, sondern den aktuellen Sachstand der wissenschaftlichen Literatur zum Thema Lebensmittelverschwendung zusammenzutragen, bewertet und dokumentiert. Dazu haben die Wissenschaftler die Wertschöpfungskette in sechs Stufen unterteilt: Ernte, Nachernte, Prozessierung, Verteilungsverluste bei Groß- und Einzelhandel, Großverbraucher und schließlich die Verluste beim Endverbraucher. Ein wichtiges Ergebnis: Obwohl das Thema Lebensmittelverschwendung schon seit Jahren auf der politischen Agenda steht, sei die Datengrundlage nach wie vor unzureichend, kritisieren die Autoren der Studie. Vielfach hätten sie sich mit Schätzungen begnügen müssen, anstatt auf fundierte Daten zurückgreifen zu können. Das heißt: Die Menge der verschwendeten Lebensmittel könnte sogar noch viel größer sein. Einig ist sich die Wissenschaft, dass am Ende der Wertschöpfungskette am meisten verschwendet wird: etwa 40 Prozent der Verluste werden durch die Endverbraucher verursacht. Von den insgesamt rund 7,2 Millionen Tonnen Lebensmittelabfällen ließen sich bis zu 70 Prozent vermeiden, so der heutige Wissensstand. An zweiter Stelle stehen Großverbraucher wie Gaststätten oder Betriebsküchen. Hier gehe im Mittel rund 20 Prozent der verbrauchsfertigen Ware verloren. Das entspricht in Deutschland einer Menge von rund 3,4 Millionen Tonnen Lebensmitteln im Jahr. Auch hier seien bis zu 70 Prozent vermeidbar.

Die meisten Verluste im Handel sind vermeidbar

Die Verluste bei Großhandel und Einzelhandel werden in der Studie mit 2,5 Millionen Tonnen beziffert. Hier besteht nach Ansicht nach Ansicht der Autoren das höchste Potenzial aller Wertschöpfungsstudien. Bis zu 90 Prozent der Verluste seien vermeidbar. Die Gründe: Erwartungen der Konsumenten an Frische, Verfügbarkeit und der Lebensmittel. Die Banane mit der braunen Stelle, Brot vom Vortag oder Waren kurz vor Ende des aufgedruckten Mindesthaltbarkeitsdatums lassen sich schlecht verkaufen. Längst versucht die Bewegung der Foodsharer, dieser Verschwendung Einhalt zu gebieten. Finanziert durch Crowdfunding entstand vor drei Jahren die Online-Plattform foodsharing.de. Dort können Privatpersonen online „Essenskörbe" mit überschüssigen Lebensmitteln anbieten, die von anderen abgeholt und verbraucht werden. Jeder darf mitmachen, Kosten entstehen keine. Das Gros der Lebensmittel wird aber in Supermärkten vor der Tonne gerettet. Nach Ladenschluss treffen sich dort in Absprache mit dem Ladenbetreiber Foodsharer, nehmen die Produkte mit und verbrauchen sie entweder selbst oder geben sie an diverse „Fairteiler" und öffentliche Kühlschränke ab.

Foodsharing, Zweite-Chance-Supermarkt und Gemüseretter-Box

In Köln wollen zwei Gründerinnen dem ehrenamtlichen Konzept des Foodsharing nun einen ökonomischen Konzept hinzufügen: Sie haben angekündigt, einen Supermarkt zu eröffnen, in dem Lebensmittel zu einem geringen Preis verkauft werden, die es nicht in den Handel geschafft haben. Das Start Up „ The Good Food" versteht sich nach eigener Aussage als Ergänzung zu Foodsharing. Wo das Ehrenamt an seine Grenzen stößt, wollen die Gründerinnen nach eigenen Angaben mit ihrem Geschäftsmodell die nötige Logistik und das Personal finanzieren. Laut WWF-Studie sind insbesondere die Verluste im Bereich der Ernte und der Nachernte wenig erforscht und daher schlecht quantifizierbar. Unter Ernteverlusten werden im pflanzlichen Bereich alle Verluste erfasst, die zum Beispiel durch mechanische Zerstörung zustande kommen. Im tierischen Bereich betreffen diese Verluste die Übergabe an den Abnehmer. Etwa fünf Prozent aller Nahrungsmittelverluste seien auf dieser Prozessstufe zu verorten. Ursache der Verluste bei der Nachernte wie etwa Reinigung des abgeernteten Gutes, bei dessen Transport und Lagerung infolge von Schüttverlusten und Degeneration. Bei tierischen Produkten bezieht sich die Definition der Nachernteverluste auf Tieren, die bereits während des Transports zum Schlachthof sterben, oder fleischliche Produkte, die im Schlachthof vor der eigentlichen Weiterverarbeitung aussortiert werden. Bei Eiern und Milch kommen Verderb und anderweitiger Verlust während des Transports zum Handel hinzu. Ernte- und Nachernteverluste zusammengenommen machen laut WWF-Schätzung rund 2,6 Millionen Tonnen Verluste aus. In der Gesamtheit der Wertschöpfungskette machen sie mit 13 Prozent eine vergleichsweise kleine Menge der Verluste aus, von denen sich vergleichsweise wenig vermeiden ließe.

Verschwendung per Gesetz

Nicht in der Studie erfasst, aber vermutlich ein erhebliches Problem, sind gesetzliche Normen und Standards. Vorschriften von Wirtschaftsverbänden und Richtlinien von Supermärkten verhindern, dass Obst und Gemüse das außerhalb der Normvorschriften liegt, überhaupt im Handel angeboten wird. Insbesondere im Obst- und Gemüsebereich werden deswegen größere Tranchen aufgezogenen Agrarguts gar nicht erst geerntet. So erreichen schätzungsweise 30 Prozent der Möhren und rund zehn Prozent der Äpfel nie den Nachernteprozess. Sie verderben oder werden nur noch an Tiere verfüttert. Es gebe deutliche Indizien dafür, dass diese Regelwerke, ursächlich für teilweise sehr hohe Verlusten sind, so der WWF. Weil es in diesem Bereich aber nur vereinzelte Schätzungen gebe, wurden sie in die Studie ein nicht berücksichtigt.

Von fehlender Datenbasis lässt sich das Münchner Start Up „ Etepetete" nicht abhalten. Kunden können bei „Etepete" die Gemüseretter-Box bestellen. Die Box enthält krumme Gurken, Karotten mit zwei Beinen und riesige Zucchini, die zwar den Normen der Supermärkte nicht standhalten, aber deswegen nicht schlechter schmecken. Während in Deutschland vor allem private Organisationen gegen die Lebensmittelverschwendung einsetzen, erregte die französische Nationalversammlung kürzlich mit einem Gesetzesvorschlag weltweit Aufsehen. In Frankreich soll es Supermärkten künftig verboten werden, Lebensmittel wegzuwerfen. Stattdessen sollen die Märkte das unverkaufte Essen nun spenden oder Bauern zukommen lassen, die ihre Tiere damit füttern. Wer auf die deutsche Politik etwas Druck ausüben will, kann zum Beispiel die WWF-Petition „ Lebensmittelverschwendung stoppen" unterzeichnen. Darin fordert die Organisation von der Bundesregierung eine Strategie gegen Lebensmittelverschwendung, und zwar unter Berücksichtigung aller Stationen - vom Feld, über den Lebensmitteleinzelhandel, Kantinen, bis zu den Verbrauchern. Auch die gemeinsame Aktion von Foosharing, Slow Food Youth Net­works ind Aktion Agrar versucht mit der Kampagne „ Wegwerfstopp für Supermärkte" Druck aufzubauen.

Zum Original