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So geht Energiewende

In Deutschland wird immer mehr Strom aus erneuerbaren Energien erzeugt. Der Anteil von Strom aus Wind, Wasser oder Sonne ist zur Jahresmitte auf 35 Prozent des Verbrauchs gestiegen.

Das ist erfreulich, bringt aber auch neue Herausforderungen mit sich. Man könnte sagen, das Stromnetz ist durch den zunehmenden Anteil an Grünstrom permanent angespannt. Denn die neue Energiewelt funktioniert anders als die Dauerbelieferung durch Kohle- und Atomstrom. Bislang lief das so: Der Strom wurde vom Übertragungsnetz in die Verteilnetzen gespeist und von dort aus zu den Verbraucher geliefert. Heute funktioniert das zunehmend umgekehrt. Solarstrom wird zum Beispiel in kleineren Mengen dezentral produziert - etwa auf privaten Hausdächern - und von dort aus in die Verteilnetze geliefert. Für diese Nutzung waren sie aber ursprünglich nicht gedacht.

Das Netz ist angespannt

Das ist nicht unproblematisch: An manchen Tagen im Jahr führt beispielsweise die hohe Photovoltaik-Einspeisung zu bedrohlich hohen Netzspannungen und deutlich erkennbaren Überlastungen von Leitungen, Ortsnetztransformatoren und sogar Netztransformatoren in Umspannwerken. Die ansteigende Einspeisung von fluktuierendem Strom bringt die Belastbarkeit von Verteilnetzen also an ihre Grenzen. Droht eine Überlastung des Netzes werden heute per Einspeise-Management Erneuerbare-Energie-Anlagen abgeriegelt. Jedes Jahr gehen auf die Weise riesige Mengen erneuerbarer Energie verloren. Ökonomisch sinnvoll ist das nicht. Und auch nicht gut für die Umwelt, denn um die Klimaziele zu erreichen wird noch viel mehr erneuerbarer Energie benötigt und nicht weniger.

Im Projektgebiet schon heute deutlich mehr Erneuerbare als verbraucht werden

In Norddeutschland wurde deswegen nun Enera, das größte Energiewende-Demonstrationsprojekt des Landes, gestartet. Beteiligt sind neben dem EWE-Konzern aus fast 50 Unternehmen, Start-ups, Forschungslaboren und Stadtverwaltungen. In der Modellregion, die sich zwischen Friesland, Aurich, Emden und Wittmund im Nordwesten Deutschlands befindet, fließt bereits heute ein Anteil von rund 170 Prozent Strom aus Wind- und Solarenergie sowie Biomasse durch die Stromnetze. Also deutlich mehr als dort vor Ort verbraucht werden kann. „In unserem Netz gibt es im ganzen Jahr nur noch wenige Stunden, in denen wir tatsächlich Strom aus dem Übertragungsnetz beziehen, stattdessen leitet unsere Netzgesellschaft den grünen Strom in andere Regionen, sagt Christian Arnold, Leiter des Enera-Projekts. Zum Vergleich: Die Bundesregierung peilt für das Jahr 2050 einen Anteil von 80 Prozent erneuerbarer Energie am Stromverbrauch an.

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Doch wie macht man eine solche Region fit für die Energiewende? Zunächst einmal über den Einbau vieler Sensoren. Rund 1000 dieser Datensammler sollen in der 2.700 Quadratkilometer großen Demonstrationsregion in den nächsten Jahren angebracht werden: an den Stromleitungen im Feld, den großen Transformatoren in den Umspannwerken und den kleineren Ortsnetztransformatoren in den Kommunen. Dazu kommen bis zu 30.000 intelligente Stromzähler, so genannte Smart Meter, die zuhause bei den Verbrauchern die analogen Messgeräte ersetzen.

Der Weg zum smarten Netz führt über viele Sensoren

Ziel ist es, das komplette physikalische Stromnetz virtuell abzubilden. Zum einen, um genauen Einblick zu bekommen, was dort genau abläuft und zum anderen präzise darauf reagieren zu können. Wenn irgendwo in der Region zum Beispiel gerade sehr viel Solarstrom eingespeist wird, könnte man diese Energie an einen nahegelegenen Verbraucher leiten, der dafür gerade Bedarf hat - und den Verbraucher dafür entlohnen, dass er seinen Beitrag dazu leistet, das Netz stabil zu halten.

Um die vielen Informationen auszuwerten, hat EWE eine komplett neue IT-Landschaft aufgebaut. Mit Hilfe der Daten aus den Sensoren soll es möglich werden, mit nahezu Echtzeitinformationen zu arbeiten: Mit bis zu 200 intelligenten Trafos will Enera Schwankungen im Ortsnetz automatisch ausgleichen. Windkraftanlagen sollen durch ihre Wechselrichtern helfen, die Netzspannung stabil zu halten. Große, flexible Energieverbraucher wie Industriebetriebe werden mit Steuertechnik ausgestattet, mit der sie die Produktion steigern können, wenn ein Überangebot an Strom herrscht und umgekehrt.

Die verwendete Anlagentechnik soll dabei lernen, miteinander zu kommunizieren und zu interagieren. Eingriffe zum Erhalt der Stabilität der Verteilnetze und auch das Abriegeln der erneuerbaren Erzeuger, so die Hoffnung, werden sich auf diese Weise auf ein Minimum reduzieren.

Rund 150 Millionen Euro investiert das Projektkonsortium, mit weiteren 50 Millionen wird das Vorhaben vom Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi) gefördert. Viel Geld, das aber hervorragend investiert sein könnte: Studien gehen davon aus, dass sich durch eine intelligente Steuerung von Stromerzeugung und -bedarf der geplante Netzausbau zwischen 30 und 50 Prozent reduzieren ließe.

Neue Geschäftsmodelle ausprobieren

Doch bei Enera geht es längst nicht nur darum, die Stromnetze technisch fit für die Energiewende zu machen, sondern auch herauszufinden, wie sich in dieser neuen Energiewelt Geld verdienen lässt. Denn: „Die Energiewende hat bislang viele tolle Innovationen hervor gebracht, aber das Versprechen, gesamtwirtschaftlich ein nächstes Wirtschaftswunder zu aktivieren, ist noch lange nicht eingelöst", sagt Christian Arnold. Die Netzbetreiber stehen vor dem Dilemma, dass immer mehr Strom dezentral und privat erzeugt wird, was einerseits die Stromverteilung anspruchsvoller macht und sich andererseits alte Geschäftsmodelle auflösen.

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In dieser neuen Welt müssen sie sich erst einmal zurecht finden. Und die Konkurrenz schläft nicht. Konzerne wie Google, Amazon, Samsung oder Apple arbeiten längst daran, Dienstleistungen rund um das Thema „intelligente Energie" in ihr Angebot aufnehmen. „Man sieht ja, welche Disruption die Digitalisierung in anderen Branchen verursacht hat. Wir wollen nach Projektende auch unternehmerisch eine ganze Menge Innovation hervorgebracht haben und Teil einer neuen Wertschöpfung sein", sagt Arnold.

Neue Beziehung zu den Kunden aufbauen

Dazu wurde ein Energielabor gegründet, in dem zum Beispiel Energiewende-Apps entwickelt werden. „Wir müssen als Versorger ganz dicht am Kunden sein, eine ganz neue Beziehung zu ihm aufbauen, um seine Bedürfnisse in dieser neuen, digitalen Energiewelt zu verstehen", sagt Arnold. Der anonyme Stromversorger, der auf unerklärliche Weise Strom durch die Steckdose schickt, könnte also der Vergangenheit angehören. Tritt an seine Stelle ein freundlicher Chat-Bot, der erklärt wann man am bestens das E-Auto mit grünem Strom auflädt? Wird die Stromversorgung durch die Energiewende teurer? Und muss man Angst vor Stromausfällen haben?

Fragen, die die Verbraucher den teilnehmenden Unternehmen am Projekt Enera zum Beispiel auf Social-Media-Plattformen wie Facebook, Twitter und dem Projektblog stellen können. „Mein größtes Ziel, ist, die Menschen in die neue Energiewelt mitzunehmen ohne sie durch Komplexität zu überfordern", sagt Arnold.

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