Daniel Urban

Wort & Ton, Frankfurt am Main

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Artikel

Die 67. Berlinale: Ein Überblick

Das Jahr 2017 scheint im Zeichen der natio­nal­staat­li­chen Grenze zu stehen: Anfang des Jahres verkün­dete der frisch gekürte 45. Präsi­dent der Verei­nig­ten Staa­ten von Amerika ein zentra­les Wahl­ver­spre­chen so schnell als möglich in die Tat umzu­set­zen und eine Mauer zwischen den USA und seinem südli­chen Nach­barn Mexiko zu erreich­ten, die dortige Grenze also baulich zu mani­fes­tie­ren. Doch was genau ist eigent­lich eine Grenze?

Die ameri­ka­ni­schen Filme­ma­cher Joshua Bonnetta und J.P. Snia­de­cki widmen sich in ihrem expe­ri­men­tel­len 16mm-Doku­men­tar­film „El Mar La Mar“ voll und ganz dem Grenz­land zwischen beiden Ländern. Ins Bild gesetzt werden hier haupt­säch­lich die Land­schaft und deren tieri­sche Bewoh­ner sowie diverse Wetter­phä­no­mene; die ille­ga­len Über­que­rer der Grenze sowie die Hüter jener wieder­rum gibt das Bild kaum preis, da beide haupt­säch­lich im Schutz der Dunkel­heit agie­ren und das grob­kör­nige Film­ma­te­rial so nur das Schwarz der Nacht, die Fins­ter­nis des prekä­ren Lebens als Nicht-Bild einfängt.

Formale und inhaltliche Strenge

„El Mar La Mar“ steht stell­ver­tre­tend für eine ganze Reihe an Berli­nale-Filmen, die eine Geschichte ohne wirk­li­ches Subjekt erzäh­len: Bewusst haben sich die Filme­ma­cher dazu entschie­den, aus ihren weni­gen sicht­ba­ren Prot­ago­nis­ten wie einem Cowboy keine indi­vi­du­ell handeln­den Figu­ren, sondern eine Art Symbol­bild zu machen. Diese formale und inhalt­li­che Strenge bewahrt die Doku­men­ta­tion zugleich davor, sich zu sehr ins altbe­kannt ankla­gende Polit-Enga­ge­ment-Kino einzu­rei­hen.

Und natür­lich könnte der Zeit­punkt der Auffüh­rung jetzt, zu Zeiten der berühm­ten wie gefürch­te­ten Mauer, kaum aktu­el­ler sein – aller­dings beto­nen beide Filme­ma­cher, dass ille­gale Einwan­de­rer beispiels­weise auch unter Barack Obama massen­haft abge­scho­ben wurden. Same Story, diffe­rent day: Indem sich der Film für poeti­sche Bilder und fantas­ti­sche Sound­ku­lis­sen entschei­det, für Land­schaft statt für Betrof­fen­heits­be­richte, geht er über die bloße Nach­er­zäh­lung des bruta­len Alltags hinaus – und schafft es erst aus dieser Posi­tion heraus, wirk­lich etwas Neues zu vermit­teln.

Zwischen Filmkunst und Kunstfilm

Die filmi­sche Topo­gra­phie von Orten als Hand­lungs- wie auch Lebens­raum ist dann auch ein roter Faden (bei knapp 400 Filmen in neun Reihen plus diver­sen Sonder- und Unter­rei­hen selbst­ver­ständ­lich: neben ande­ren), der sich durch weitere Filme zieht: Wenn in Thomas Arslans Wett­be­werbs­film „Helle Nächte“ die mehr als mühsa­men Kommu­ni­ka­ti­ons­ver­su­che zwischen Sohn und Vater von einer minu­ten­lan­gen, schweig­sa­men Kame­ra­fahrt durch kurvige Berg­stra­ßen in immer dich­te­ren Nebel auf film­sym­bo­li­sche Ebene gehievt wird, wenn im Doku­men­tar­film „Aus einem Jahr der Nich­ter­eig­nisse“ in grob­kör­ni­gen 8- und 16mm-Film­ma­te­rial Flora und Fauna immer mehr den eigent­lich Prot­ago­nis­ten aus dem Bild verdrän­gen oder wenn sich die Prot­ago­nis­tin in Hong Sangs­oos wunder­vol­lem Wett­be­werbs­film „Bamui haebyun-eoseo honja – At the beach at night alone“ immer wieder über Schön­heit der sie umge­ben­den Natur selbst zu defi­nie­ren sucht.

Im Forum Expan­ded, der ausdrück­lich als Kunst- und Expe­ri­men­tal­film gewid­me­ten Unter­reihe des Forums, wird der Raum zum Ausgangs­punkt verschie­de­ner Arbei­ten. Ein Besuch lohnt sich, auch wenn das kura­to­ri­sche Gesamt­kon­zept allen­falls vage durch­schim­mert: Im Dunkel der Akade­mie der Künste kann man Video-Instal­la­tio­nen mit einer Gesamt­länge von insge­samt gut einem Arbeits­tag entde­cken, ganz ohne sich in die Berli­nale-übli­chen Warte­schlan­gen einzu­rei­hen. Unter den drei­zehn Arbei­ten beschäf­ti­gen sich einige mit der media­len Vermitt­lung poli­ti­scher und histo­ri­scher Narra­tio­nen, ohne dabei ihren eige­nen Stand­punkt inhalt­lich oder künst­le­risch beson­ders in Frage zu stel­len.

Die Stimmung wird immer paranoider

Aber es gibt sehr sehens­werte Ausnah­men: Wie die bild­ge­wal­tige 3D-Instal­la­tion „Isla Santa Maria“ von Oliver Husain, deren Hand­lung nach­zu­ver­fol­gen allein visu­ell viel Spaß macht. Ebenso die formal völlig entge­gen­ge­setzte, weil auf ein Mini­mum redu­zierte Bild­spra­che der 3-Kanal-Instal­la­tion „Twelve“ von Jeamin Cha, in der Verhand­lun­gen über den Mindest­lohn in Südko­rea darge­stellt werden – nüch­terne Sach­lich­keit par excel­lence.

Im Berli­nale-Forum präsen­tiert der fran­zö­si­sche Video­künst­ler Neil Beloufa seinen ersten Feature-Film „Occi­den­tal“: Während auf den Stra­ßen Paris‘ Proteste und Demons­tra­tio­nen ihren Lauf nehmen, buchen sich die beiden Italie­ner Gior­gio und Anto­nio im Hotel „Occi­den­tal“ in die Hoch­zeits­suite ein. Der Hotel­ma­na­ge­rin kommen die beiden Figu­ren suspekt vor und so befin­det sich alsbald die Poli­zei im Hause, während die Stim­mung im Hotel immer aufge­heiz­ter und para­no­ider wird.

I don’t like Slogans

Beloufa insze­niert ein kammer­spiel­ar­ti­ges Lust­spiel, das in Ausstat­tung und Licht­set­zung stark an die Fass­bin­der-Melo­dra­men der 70er-Jahre erin­nert (in denen Fass­bin­der sich wiederum auf Douglas Sirks Melo­dra­men bezog). „Occi­den­tal“ faszi­niert in seiner ambi­va­len­ten Bild­spra­che und Beloufa rekur­riert heiter sowohl inhalt­lich als auch formal auf unter­schied­lichste Genres und Narra­ti­ons­for­mate: Melo­dram und Lust­spiel, Unter­gangs­drama und gesell­schaft­li­ches Sitten­bild, Krimi­nal­fall und Liebes­drama. Beloufa hat den Film voll­stän­dig selbst finan­ziert und in seinem Studio die Kulis­sen des eklek­tisch einge­rich­te­ten Hotel Occi­den­tal entste­hen lassen: einen gesell­schaft­li­chen Mikro­kos­mos, in dem gesell­schaft­li­che Themen wie Reli­gion, Rassis­mus, Sexua­li­tät und ökono­mi­sche Fragen verhan­delt werden, ohne diese jedoch mit bana­len Antwor­ten oder poli­ti­scher Program­ma­tik wieder zu demon­tie­ren – in den Worten von Neil Beloufa selbst: I don’t like Slogans.

Das große Ganze sucht man auf dieser Berli­nale vergeb­lich: Keine großen Verschwö­run­gen, keine großen Filme über isla­mis­ti­schen Terror, keine Schlech­tes-Gewis­sen-für-die-Privi­le­gier­ten-Filme wie „We feed the world“. Ist das schon Eska­pis­mus, die Flucht ins Klein-Klein der eige­nen Scholle – oder eine will­kom­mene Wieder­ent­de­ckung künst­le­ri­scher und filmi­scher Möglich­kei­ten, sich eben nicht für die Lösung aller real­po­li­ti­schen Probleme einspan­nen zu lassen? Wo die Gegen­wart nicht so recht begeis­tern kann, da funk­tio­nie­ren Film­kunst und Kunst­film als hervor­ra­gen­des Gegen­gift: Dem Eska­pis­mus frön­ten sowohl die Retro­spek­tive, in der man Science Fiction-Filme vergan­ge­ner Jahr­zehnte inklu­sive Rainer Werner Fass­bin­ders groß­ar­ti­ger „Welt Am Draht“ entde­cken konnte, als auch die Hommage, die sich in diesem Jahr den schwel­ge­risch-opulen­ten Werken von Kostüm­bild­ne­rin Milena Cano­nera widmete.

Nicht aus der Ruhe zu bringen

Gele­gen­heit zur Entde­ckung der Gegen­welt bieten auch die neuen Produk­tio­nen, die hier gezeigt wurden und von denen zumin­dest einige in der nächs­ten Zeit auch im Kino anlau­fen dürf­ten, in jedem Fall: Von der fulmi­nan­ten Queer-Camp-Klamotte „The Misand­rists“, einem moder­nen Matri­ar­chats-Märchen respek­tive einer liebe­vol­len -Dysto­pie von Bruce LaBruce, über Pfer­de­göt­ter bis hin zur jiddi­schen Version eines Indie-Films namens „Menashe“, die komplett in jener Spra­che und mit Bewoh­nern der chas­si­di­schen Commu­nity in Brook­lyns Borough Park gedreht wurde. Aki Kauris­mäki, der finni­sche Analog-Vergöt­te­rer, dessen neuer Film „Die andere Seite der Hoff­nung“ im Wett­be­werb läuft, lässt sich schließ­lich auch vom aktu­el­len Lieb­lings­ta­ges­thema Flücht­linge nicht aus seiner gewohnt stoi­schen Ruhe brin­gen: Bei ihm wird der syri­sche Prot­ago­nist mit all seinen Proble­men kurzer­hand ins filmi­sche Kauris­mäki-Amal­gam aus kruden Dialo­gen und Räumen in sozia­lis­ti­schem Retro-Chic getaucht und auf echten 35 Milli­me­tern Film auf die Lein­wand gebracht.


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