Die Nacht zum 6. Dezember ist stürmisch, der Wind erreicht in Böen 70 Kilometer pro Stunde. Niemand sieht oder hört etwas, als die Täter mit einer Säge im Gepäck auf den Baum klettern - weder die zwei Polizisten, die vor dem Roten Rathaus Wache stehen, noch die zehn bis fünfzehn Studenten der Mahnwache, die schon seit Beginn der Streikaktionen vor dem Regierungssitz übernachten.
Gegen vier Uhr morgens werden die schlafenden Studenten von zwei Polizisten geweckt. Mit Taschenlampen durchsuchen die Beamten die Schlafstätte nach einer Säge. Sie verdächtigen die Studierenden, die sechs Meter hohe Spitze des 25-Meter-Weihnachtsbaums gegenüber dem Roten Rathaus geköpft zu haben. Anstelle der Baumspitze weht dort nun eine Flagge mit der Aufschrift: "Gekürzt". Bevor die Polizisten sich auf den Heimweg machen, sammeln sie noch schnell die Zweige vom Gehweg. Für die Weihnachtsfeier.
"Wir haben nichts mit der Aktion zu tun", beteuern die Studenten. Doch seitdem der Baum nicht mehr der alte ist, interessiert sich die Medienöffentlichkeit für die Mahnwache. Nun kommen fast täglich Fotografen, Zeitungsredakteure und Kamerateams. Sogar die "Tiroler Tageszeitung" berichtet empört über das "Politische Attentat" auf die österreichische Fichte.
Nackt und nass auf den Titelseiten
Dieser Streik lebt von den Medien. Vor sechs Jahren, als die Berliner Studenten das letzte Mal streikten, war das Internet noch Luxus. Handys besaßen nur Geschäftsleute. Heute stehen die Streiktermine im Netz. Aktionsgruppen verständigen sich per Mailverteiler. "Der Streik ist bemerkenswert gut organisiert", sagt Amory Burchard, Mitarbeiterin der Hochschulseiten des Berliner "Tagesspiegel". Die Proteste seien medienorientierter als früher. "Die Studenten telefonieren ständig bei uns durch, was gerade passiert."
Die Studierenden wissen, wie sie wahrgenommen werden. Die Bilder von in der Spree badenden Wirtschaftswissenschaftlern erschienen am nächsten Tag auf den Titelseiten überregionaler Tageszeitungen. Einen ganz ähnlichen Effekt hatte eine Flitzer-Aktion von Studierenden auf dem Ku'Damm am vorletzten Freitag. Achtundsechzig löste so etwas noch gesellschaftliche Empörung aus, heute verursachen junge, nackte Menschen bei den Passanten nur noch ein überraschtes Schmunzeln. Selbst das Springer-Boulevardblatt "BZ" fragte nur: "Friert ihr nicht?"
Der Student Magnus Merscher von der Technischen Universität hat die Flitzer-Aktion mitorganisiert. Er ist vom großen Erfolg der Aktion überrascht. "Nackte Tatsachen ziehen eben gut. Besonders wenn auch Studentinnen dabei sind", sagt er. "Das ist eine gute Möglichkeit, die Proteste an Leute heranzutragen."
Von der 19-jährigen Marieke war noch kein Foto in der Zeitung. Dafür hat sie seit dem Beginn des Streiks nicht viel geschlafen. Sie war Streikposten, hat in der AG "Mobilisierung" Flyer gebastelt und verteilt. Sie hat Tee gekocht, Passierscheine geschrieben, war ein Wochenende bei einem Treffen in Frankreich, um eine europaweite Studentenbewegung anzuschieben, und die meisten Nächte hat sie in der Uni übernachtet. Und sie hat immer wieder versucht, mehr Leute zum Mitmachen zu überreden. "In so einer Situation kann man einfach nicht nichts machen", sagt sie.
Jetzt sitzt sie in der Streikzentrale, dem Info-Pool, vor dem Audimax der Humboldt-Uni und informiert jeden, der es will, über die politischen Motive der Studierenden, über den derzeitigen Stand des Streiks und bevorstehende Aktionen. Sie sieht müde aus. "In den letzten fünf Tagen sind immer weniger Leute gekommen", meint sie, "wir haben inzwischen echt Probleme, Streikposten zu finden." Viele bleiben zuhause, weil sie denken, dass der Streik jetzt von selbst läuft.
Schon am ersten Tag des Streiks sei ihr aufgefallen, wie viel weniger Leute morgens aus dem Bus stiegen. Für die, die zuhause bleiben, hat sie wenig übrig: "Das ist doch ein Scherz, wenn man sich mal anguckt, was wir hier tun." Viele würden nörgeln und kämen dann noch nicht einmal zu den Vollversammlungen, um abzustimmen. Auch wenn Marieke ein bisschen Verständnis hat für diejenigen, die weiter zu ihren Veranstaltungen gehen. "Doch ich verliere lieber jetzt ein Semester, als dann irgendwann Studiengebühren zahlen zu müssen", meint sie.
Die Mediziner scheinen anderer Meinung zu sein. An der Charité ist vom Streik wenig zu merken. Vereinzelt flattern zerfetzte Transparente an den Gebäuden. "Es läuft mies", gibt Jan von der AG "Material und Aktion" zu. "Es fehlt uns einfach die Basis." Ein harter Kern von 30 Aktiven versucht an der medizinischen Fakultät den Protest aufrechtzuerhalten.
Letzte Woche wurde täglich immerhin ein Gebäude besetzt, Lehrveranstaltungen mit Anwesenheitspflicht finden aber weiterhin statt. "Ich selbst habe meine Fehlzeiten in Seminaren ausgereizt und muss ab sofort wieder hin", sagt Jan. Schon auf der ersten Vollversammlung waren 60 Prozent der Medizinstudenten gegen den Streik, die Zahl dürfte inzwischen deutlich gestiegen sein.
Die massakrierte Fichte polarisiert die Passanten
Eine allgemeine Streikmüdigkeit bekommt mittlerweile auch Marieke an der Streikzentrale im Hauptgebäude der Humboldt-Uni zu spüren. Sie wirkt abgekämpft, aber keineswegs resigniert. "Wir können noch so viel erreichen", sagt sie. Die Studenten haben beschlossen, ihren Streik bis Anfang Januar fortzusetzen. Im neuen Jahr wird es Anhörungen bei allen Parteien geben - Ergebnisse der Besetzungen der Parteizentralen.
Auch die Studenten der Mahnwache wollen trotz Nachtfrost weiter durchhalten. Seit der Sache mit dem Weihnachtsbaum reagieren die Passanten polarisierter als vorher, sagt Physik-Student Sebastian, 21. "Manche beschimpfen uns, weil sie glauben, dass wir die Spitze abgesägt haben. Aber die meisten finden es gut, dass wir hier sind."
Als einer aus der Runde gerade die Heiligabend-Schicht verteilen möchte, bringt eine Bekannte einen Topf mit dampfender Gemüsesuppe. So wie sie kommen inzwischen regelmäßig Sympathisanten vorbei. Nicht nur Studenten sind darunter. Lutz Wilmering besucht die Lagernden bereits seit zwei Wochen. Der 54-Jährige fährt jeden Tag aus Berlin-Reinickendorf ans Rote Rathaus. "Ich wollte nicht nur reden, sondern selbst aktiv werden", sagt er. Aber im Freien übernachten, das sei zu viel in seinem Alter. Jeden Abend nimmt er die letzte U-Bahn nach Hause. Am 24. Dezember wird er eine Ausnahme machen: "Dann bleibe auch ich über Nacht."
Daniel Schalz und Steffen Hudemann