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Mehr Miteinander statt Zahlen

Warum der Demografische Wandel alle angeht


Oranienburg: Vier Referenten, zwei Organisatoren, vier Journalisten, drei Gäste, viele freie Stühle. Nein, es geht nicht um ein neues Gesellschaftsspiel. Die Grünen-nahe Heinrich-Böll-Stiftung hatte kürzlich zu einer öffentlichen Diskussion über Lebensqualität im ländlichen Raum in die Kreisstadt eingeladen. Das Publikum war überschaubar. Die Debatte dafür lebhaft.

 

Andächtige Stille herrsche im Saal. „Das ist angebracht“, scherzt Professor Stephan Beetz von der Hochschule Mittweida. „Wir beerdigen ja auch etwas – das Volk. Nicht die Gesellschaft!“ Der Soziologe beschäftigt sich seit über 20 Jahren damit, wie sich der ländliche Raum verändert. Im Unterschied zu Demografen untersucht er, wie Menschen miteinander leben. Wird über den Demografischen Wandel gesprochen, sind meist nur die gestiegene Lebenserwartung und der Rückgang der Geburtenrate gemeint. „Wir haben vor allem mit Wanderungsprozessen zu tun“, stellt Beetz klar. „Weder werden Leute im ländlichen Raum älter, noch bekommen sie weniger Kinder.“

Zahlen sind nötig, um Phänomene anschaulich zu machen. Der Soziologie-Professor verzichtet bei seinem Vortrag im Regine-Hildebrandt-Haus darauf. Warum? „Wir glauben, Zahlen sagen etwas aus. Aber was heißt es denn, wenn 30 Prozent der Leute älter als 65 Jahre sind?“ Auch Prognosen findet er nicht immer hilfreich. Wenn, wie in einem benachbarten Bundesland geschehen, angekündigt wird, die Zahl der Hauptschüler steige im Jahr 2025, fragt er sich, welches Armutszeugnis die Verantwortlichen dem Bildungssystem ausstellen. Abgesehen davon, dass die künftigen Hauptschüler noch nicht einmal geboren sind.

 

Entscheidend für die Kommunen ist, wie sie sich positionieren. So gibt es in Brandenburg und in Oberhavel Regionen, die Zuzüge verzeichnen, während andere Einwohner verlieren. Prozesse wie Kreisgebietsreformen haben seiner Meinung nach nichts mit Demografie zu tun. Weil manche Orte „verschwinden“, ändern sich Politikstile. Beetz treibt weniger die Sorge um gesellschaftliche Strukturen als demografische Veränderungen. Lebensqualität habe auch eine politische Dimension. Für ein viel größeres Problem hält er die Individualisierung. Kommunalpolitiker seien gut beraten, das Gemeinsame zu suchen. Simone Klee vom Projekt MOSAIK, was für Märkische Orte für soziale, arbeitsmarktpolitische und interkulturelle Kompetenz steht, regt Leitbilddiskussionen an. Sie führt Weiterbildungen mit Gemeindevertretern und interessierten Bürgern durch, in denen diese lernen, Vielfalt in den Kommunen wertzuschätzen. Warum? In Regionen mit Abwanderungstendenz können abwertende und ausgrenzende Einstellungen gegenüber schwachen Gruppen zunehmen.

 

„Ja, bei uns spüren wir den Wandel“, sagt RegioNord-Geschäftsführer Olaf Bechert. „Aber die Bürger im Norden von Oberhavel sind nicht ohnmächtig, in einigen Orten registrieren wir sogar Zuwachs.“ Gransee, Zehdenick und Fürstenberg/Havel haben einen noch nicht alltäglichen Weg gewählt. Die Orte haben sich zusammengeschlossen, um aus einem gemeinsamen Kooperationsfonds Projekte unterstützen zu können. Die Maßnahmen sind zahlreich. So bekommen regionale Auszubildende im Niedriglohnbereich eine Entgeltaufstockung, wurden Unternehmer in einer Datenbank zusammen geführt und eine Mitfahrbörse etabliert. Eine Kommunikationsplattform im Internet soll den Leerzug von Innenstadtgeschäften verhindern, die Standorte werden kulturell und touristisch gemeinsam vermarktet und auch als Wohngegend zieht die Region vor allem Senioren an.

 

„Der große Teil der Bürger denkt nur an sich“, echauffierte sich ein Diskussionsteilnehmer. „Praktische Beispiele installieren, verteidigen, durchhalten und kleine Erfolge feiern“, ermunterte Olaf Bechert.

Nicht ein Modellprojekt nach dem anderen, sondern einen langen Atem für sinnvolle Initiativen, wünschte sich Professor Beetz. Für das Leben im ländlichen Raum in Brandenburg hat er aus eigener Erfahrung seine ganz eigene Definition von Lebensqualität: „Ich musste mit Menschen zusammen kommen, mit denen ich in der Großstadt nie zusammen gekommen wäre.“ Fragt man Zugezogene, ist das auch ein häufiges Argument für den ländlichen Raum. Denn viele bürgerschaftliche Ansätze vom Seniorenbus bis zum Willkommensverbund für Flüchtlinge kommen aus dem Umland.


(veröffentlicht in Wochenzeitung Märker 5./6.4.2014)