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Rezension

Joni Mitchells Zeichnungen

Als „painter derailed by circumstance“ hat sich Joni Mitchell einst bezeichnet, als durch Umstände entgleiste Malerin. Das ist natürlich selbstironisch – nach Zugunglück hören sich ihre Songs wirklich nicht an. Aber es stimmt ja, wer ihre Platten in die Hand nimmt, sieht zwangsläufig zuerst die bildende Künstlerin. Fast jedes ihrer Cover hat Mitchell selbst gestaltet, von der jugendstilhaft verspielten Blumenfülle auf „Song to a Seagull“ bis zum nachdenklichen Ölgemälde auf „Turbulent Indigo“, einem unverfrorenen Van-Gogh-Pastiche.

Mitchells Verbundenheit zur Kunst ist auch in ihrem Buch „Morning Glory on the Vine“ zu sehen. Ende 1971, als gerade das Jahrhundertalbum „Blue“ erschienen war, stellte Mitchell handgeschriebene Songtexte, Gedichte und Zeichnungen zusammen, die sie im Freundeskreis als Weihnachtsgeschenk verteilte. Jetzt hat sie das Buch bei Canongate veröffentlicht.

Ihre Entwicklung von der klassischen Folkästhetik hin zur Abstraktion lässt sich darin visuell nachvollziehen. Im Vergleich zur ersten Zeichnung des Bandes, die noch von filigranen Art-Nouveau-Linien lebt, sind die meisten der späteren Arbeiten geradezu poppig: viel Filzstift, viel einfarbige Fläche.

Die Bildauswahl erlaubt einen persönlichen Einblick in Mitchells Umfeld, sowohl auf Reisen als auch zu Hause im Laurel Canyon. Wir sehen anonyme Konzertbesucher in New York oder die flüchtig im Garten skizzierte Judy Collins. Zwischen zwei Porträts eines finster dreinblickenden Graham Nash hat Mitchell die Lyrics zu „Willy“ geschrieben, einem Liebesbekenntnis zu Nash, ihrem damaligen Freund. Neben weiteren Musikerkollegen (Neil Young, David Crosby) hat Mitchell die amerikanische Malerin Georgia O’Keeffe porträtiert, die hier zur erhabenen, in einen Wüstenhimmel aufragenden Naturgewalt wird.

„I sing my sorrow and I paint my joy“, hat Mitchell mal erklärt. Auch in den faksimilierten Texten finden sich öfter Sprachbilder aus der Kunst. „I am a lonely painter / I live in a box of paints“, heißt es etwa in „A Case of You“. Insofern ist dieses Buch eine Wiedervereinigung der Affekte. Auch wenn die bei Joni Mitchell nie wirklich getrennt waren.

26. Oktober 2019.