Der Entwickler der viel versprechenden Technik, Hans Werner Müller von der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, zweifelt jedoch am Erfolg der Kopftransplantation. "Was Canavero da vorhat, geht schief; das habe ich ihm auch so gesagt", mahnt er gegenüber "Spiegel Online". PEG ließ die verletzten Axone der Versuchstiere nämlich nicht wieder sprießen; vielmehr wuchsen neue Zellausläufer aus dem Gehirn Richtung Rückenmark und aktivierten dort für die Bewegung der Beine verantwortliche Nervenzellen.
Als Testlauf für die "GEMINI"-Methode behandelten südkoreanische Forscher von der Konkuk University in Seoul, die eng mit Canavero zusammenarbeiten, einen Hund mit durchtrenntem Rückenmark mit PEG. Drei Wochen später konnte der Beagle angeblich wieder selbstständig laufen. Doch die Veröffentlichung liefert kaum Belege für den vermeintlichen Erfolg und taugt kaum als Rechtfertigung für einen Humanversuch.
Experimentelle Vorläufer 1908Der US-amerikanische Physiologe Charles Guthrie verpflanzt erstmals den Kopf eines Lebewesens auf den Körper eines anderen. Er näht den Kopf eines Hundes seitlich an den Hals eines anderen. Das Tier zeigt anfangs Reflexe, muss aber nach wenigen Stunden getötet werden.
1940Dem sowjetischen Biomediziner Sergei Brukhonenko gelingt es, einen vom Körper abgetrennten Hundekopf, der über Schläuche mit einer Herz-Lungen-Maschine verbunden ist, kurze Zeit am Leben zu erhalten.
1954Der sowjetische Chirurg Wladimir Petrowitsch Demichow transplantiert den vorderen Teil eines Welpen samt Vorderpfoten an den Nacken eines größeren Hundes. Eines seiner Versuchstiere überlebt fast einen Monat, die meisten sterben hingegen nach wenigen Tagen.
1970Der US-amerikanische Neurochirurg Robert White entfernt den Kopf eines Rhesusaffen und setzt ihn auf den Körper eines Artgenossen, dessen eigener zuvor abgenommen wurde. Das Tier kann hören, sehen, riechen und schmecken, ist aber vom Hals abwärts gelähmt und stirbt nach neun Tagen.
Beim Menschen gelang es erst ein einziges Mal, beschädigtes Rückenmark zu reparieren. Der polnische Neurochirurg Pawel Tabakow vom Universitätsklinikum Breslau und seine Kollegen verhalfen 2013 einem 28-Jährigen, der nach einer Messerattacke von der Brust abwärts gelähmt gewesen war, zu ersten wackligen Schritten. Dank der Transplantation von Neuronen aus der Nase, welche die Lücke im Rückenmark überbrücken, kann er mittlerweile sogar wieder Auto fahren - ein echter Erfolg in der Therapie von Lähmungen, aber leider bislang ein Einzelfall.
Von all dem will Canavero nichts hören. Der Mann mit dem fast manischen Schaffensdrang treibt Aikido und Jiu-Jitsu, beherrscht nach eigenen Angaben acht Sprachen und bezeichnet sich als professionellen Verführer. Neben seinen medizinischen Publikationen verfasste er auch ein Buch mit dem Titel "Donne scoperte", zu Deutsch "Enthüllte Frauen", auf dem ein nackter Po prangt. In diesem soll der geneigte Leser lernen, mit Hilfe von "aktuellen neuropsychologischen Erkenntnissen über das weibliche Gehirn (...) den Körper der Frau zu sexuellen Zwecken zu manipulieren". Für seine kruden Ideen und seinen Hang zur Selbstüberschätzung bekannt, sieht er sich als Vorreiter, als Visionär, der seiner Zeit voraus ist - wie einst Louis Pasteur, der für seine These, winzige Lebewesen verursachten gewisse Krankheiten, von seinen Zeitgenossen verlacht wurde.
Canaveros Pioniergeist birgt außerdem zusätzliche Risiken. Verzweifelte melden sich freiwillig für die unausgereifte OP - wie der Russe Valery Spiridonow, der an einer schweren Form des Muskelschwunds leidet. Durch die Krankheit sterben die motorischen Nerven im Rückenmark nach und nach ab, was letztlich zum Tod führen wird. Geistig bleibt der 30-jährige Programmierer dabei jedoch völlig klar. Dank seinem Fortschrittsglauben und dem Vertrauen in die selbstbewussten Prognosen Canaveros sieht er den Eingriff als letzten Ausweg.
"Ein naiv-simplizistisches Menschenbild"Doch selbst wenn die Chirurgen alle medizinischen Hindernisse überwinden sollten: Niemand weiß, wie die menschliche Psyche darauf reagiert, wenn man plötzlich mit einem fremden Körper aus der Narkose erwacht. In Einzelfällen scheitern Transplantationen sogar an den seelischen Auswirkungen: Clint Hallam, dem ersten Mann, der eine neue Hand erhielt, musste diese gut zwei Jahre darauf wieder abgenommen werden, weil er die Gliedmaße eines Verstorbenen nie als seine eigene akzeptierte.
Transplantationspatienten werden therapeutisch begleitet, damit sie mit der belastenden Situation zurechtkommen. Nicht selten treten Fragen wie "Bin ich immer noch derselbe wie vorher?" und Schuldgefühle gegenüber dem Spender auf. Mit dem Körperteil verändern sich ebenfalls die Hirnareale, welche die einzelnen Körperregionen repräsentieren. So entstehen beispielsweise Phantomschmerzen nach Amputationen. Ein kompletter Austausch des Körpers könnte demnach ungeahnte Folgen haben.
Bedenken äußert auch der Medizinethiker Bert Heinrichs von der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn: "Die Idee, den Körper einfach wie ein Ersatzteil austauschen zu können, zeugt von einem naiv-simplizistischen Menschenbild. Die Philosophie hat sich mittlerweile weitgehend von einem strikten Leib-Seele-Dualismus verabschiedet. Diesen sollten wir jetzt nicht einfach durch die Trennung in das Gehirn als Sitz des Bewusstseins und den Körper als maschinelles Anhängsel ersetzen."
Mittlerweile wurden Valery Spiridonows Hoffnungen indes zerschlagen, als Canavero bekannt gab, dass die umstrittene OP in China stattfinden soll und somit nur ein chinesischer Staatsbürger in Frage kommt. Tatsächlich könnte keine westliche Ethikkommission diesen Menschenversuch genehmigen.
Genauer Ort des Geschehens soll nun die Universität in Harbin sein, an der Xiaoping Ren praktiziert: ein Chirurg, der an der ersten Handtransplantation beteiligt war und Canaveros Ideen gegenüber aufgeschlossen ist. Bereits 2013 tauschte Ren die Köpfe einer Reihe von Mäusen aus und schuf so weiße mit schwarzem Kopf und umgekehrt. Die Nagetiere konnten zwar blinzeln und ihre Schnurrhaare bewegen, waren jedoch vom Hals abwärts gelähmt. 2017 verpflanzte er den Vorderteil einer jungen Ratte in den Nackenbereich einer ausgewachsenen - ähnlich wie bei Wladimir Demichows Hunden. Im Jahr zuvor folgte er Robert Whites Beispiel und transplantierte einem Affen einen Kopf, unternahm aber keinen Versuch, das Rückenmark an den neuen Körper anzuschließen. Der tierische Proband musste nach 20 Stunden eingeschläfert werden. Seitdem schlägt der Chinese leisere Töne an und gibt zu: Bis zum ersten Menschenversuch könnte es noch dauern. Und auch der Vorsitzende des chinesischen Komitees für Organverpflanzungen, Huang Jiefu, meldete sich inzwischen zu Wort und wies Medienberichten zufolge darauf hin, dass derartige Tests am Menschen in seinem Land gegen geltendes Recht verstoßen würden.
"Es gibt schlimmere Zustände, als tot zu sein. Es ist gut möglich, dass der Patient anschließend zwischen Leben und Tod dahinvegetiert", mahnt der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Neurochirurgie Walter Stummer. "Jeder einzelne Schritt dieses gewaltigen Vorhabens ist komplex und fehleranfällig. Hintereinandergeschaltet summiert sich das Risiko. Canavero bastelt sich hier ein Konzept aus bereits etablierten Techniken und Grundlagenforschung zusammen. Hinzu kommt, dass man bei einem Patienten mit einer neurologischen Vorerkrankung wie Valery Spiridonow sogar ein gesundes mit einem kranken Rückenmark verbinden müsste. Dieses zusätzliche Problem thematisiert er nicht einmal."
Es bleibt also mehr als fraglich, ob die Kopftransplantation in absehbarer Zeit stattfinden wird. Man müsste nicht nur alle rechtlichen Hürden nehmen, sondern auch eine ganze Mannschaft an Top-Chirurgen zusammenstellen, die sich alle auf den unausgereiften Plan einlassen.
Sergio Canavero inszeniert sich zwar gerne als moderner Doktor Frankenstein, könnte die Operation aber gar nicht selbst durchführen - dazu fehlt ihm das entsprechende Knowhow. Doch der Tausendsassa hat längst ein neues Projekt: Innerhalb der nächsten drei Jahre möchte er das erste Gehirn verpflanzen.
Meilensteine der Transplantationsmedizin1883: Einem Patienten wird Schilddrüsengewebe implantiert, nachdem seine eigene Schilddrüse chirurgisch entfernt wurde.
1905: Erste erfolgreiche Transplantation von Augenhornhaut
1954: Erste erfolgreiche Nierentransplantation mit eineiigen Zwillingen als Spender und Empfänger; erste Verpflanzung eines ganzen Organs
1957: Erste Knochenmarktransplantation
1958: Die Entdeckung der humanen Leukozyten-Antigene, an denen das Immunsystem fremdes Gewebe erkennt, hilft, das Problem der Abstoßung in den Griff zu bekommen.
1967: Erste Herztransplantation; Patient erliegt nach 18 Tagen einer Lungenentzündung.
1967: Erste erfolgreiche Lebertransplantation
1970: Entdeckung des immunsuppressiven Wirkstoffs Ciclosporin, der die Überlebenszeit von Transplantationspatienten stark verlängert
1983: Erste erfolgreiche Transplantation eines Lungenflügels
1998: Erste Handtransplantation
2000: Erste Transplantation beider Hände
2005: Erste Gesichtstransplantation; eine durch einen Hundeangriff entstellte Französin erhält Nase, Kinn und Lippen.
2008: Erste erfolgreiche Transplantation beider Arme
2011: Erste Kehlkopf- und Luftröhrentransplantation, durch die eine Patientin ihre Stimme wiedererlangt
2012: Bisher aufwändigste Gesichtstransplantation inklusive Kiefer, Zunge und Zähnen
2014: Erste erfolgreiche Penistransplantation
2014: Erste erfolgreiche Uterustransplantation, durch die ein gesundes Kind zur Welt kommt
Bateman, C.: World's First Successful Penis Transplant at Tygerberg Hospital. In: South African Medical Journal 105, S. 251-252, 2015 Brännström, M. et al.: Livebirth after Uterus Transplantation. In: The Lancet 385, S. 607-616, 2015 Gander, B.: Composite Tissue Allotransplantation of the Hand and Face: A New Frontier in Transplant and Reconstructive Surgery. In: Transplant International 19, S. 868-880, 2006 Hakim, N.S., Papalois, V.E.: History of Organ and Cell Transplant. Imperial College Press, London 2003