Trude Simonsohn, Jahrgang 1921, ist Überlebende des Konzentrationslagers Theresienstadt und des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau. In der Nachkriegszeit arbeitete die Krankenschwester mit traumatisierten Kindern.
Sie haben erst 1979 angefangen als Zeitzeugin zu sprechen. Warum nicht früher?
Am
Anfang fiel es mir schwer. Davor war aber auch niemand neugierig, muss
ich sagen. Leider. Nur ganz wenige wollten erfahren, was ich in den
Konzentrationslagern erlebt hatte.
Haben Sie das Erlebte zunächst also verdrängt?
Nein,
aber ich musste lernen, damit umzugehen. Man brauchte Zeit, um sich zu
vergegenwärtigen, was alles passiert war. Mein Mann und ich haben nach
dem Krieg viel gearbeitet, haben funktioniert, aber nicht gelebt. Wenn
wir sofort realisiert hätten, wen wir alles verloren und welche
Todesängste wir ausgestanden haben, hätten wir Selbstmord begangen.
Wie ist das Alltagsleben für Menschen, die im KZ waren, weitergegangen?
Es
ging natürlich nicht normal weiter. Viele Erwachsene waren – mehr noch
als Kinder – so traumatisiert, dass sie überhaupt nicht reden konnten.
Ich bin glücklich, dass ich darüber reden kann. Mein Mann sagte einst,
wenn wir nicht darüber reden, werden wir es nie schaffen. Ich habe
überlebt und kann über meine Erlebnisse sprechen. Ich fühle mich den
Toten gegenüber verpflichtet, die nicht mehr erzählen können, es aber
gerne täten.
Antisemitismus ist auch
heute in unterschiedlichen Formen zu beobachten, sei es als Parolen auf
Demos bis hin zu den tödlichen Anschlägen von Paris. Helfen
Zeitzeugengespräche gegen Antisemitismus?
Zeitzeugengespräche
helfen nur, wenn Schüler bereits durch den Unterricht Interesse
entwickeln, mit Zeitzeugen zu sprechen. Ich selbst kläre das immer
vorher ab. Daher habe ich bisher keine Enttäuschungen erlebt.
Sie
sagen, dass Anzeichen von Antisemitismus immer sofort thematisiert
werden sollten. Denken Sie, dass derzeit genug getan wird?
Niemand
in Deutschland kann sich beschweren, dass es nicht genug Information
über die deutsche NS-Vergangenheit gibt. Die Medien berichten oft. Das
kann ich positiv anmerken. Viel tun allein reicht aber nicht, wenn
Menschen nicht bereit sind, sich mit dem Thema zu beschäftigen. Man kann
auch nicht allein über Antisemitismus sprechen. In Deutschland muss man
in diesem Zusammenhang auch über Rassismus reden und sehen, warum es
dazu kommt. Da spielen Schullehrer und Eltern eine wichtige Rolle.
War es eine Überwindung für Sie, zehn Jahre nach ihrer Befreiung aus dem Konzentrationslager nach Frankfurt zu kommen?
Wir
hatten das Glück, dass wir erst nach Frankfurt kamen, nachdem wir in
Deutschland Freunde gefunden hatten, die einst im Widerstand aktiv
waren. Als wir zehn Jahre nach Kriegsende hierher kamen galten die Leute
vom 20. Juli ja noch als Hochverräter.
Welchen Umgang mit heimischen Widerstandskämpfern hätten Sie sich gewünscht?
Jeder
Widerstand gegen das eigene Volk ist viel schwerer. Bis heute macht
mich wütend, wie schlecht die Deutschen mit ihren Widerstandskämpfern
und etwa den Kindern von Staufenberg umgegangen sind. In Frankfurt wurde
in den 1990er Jahren die Johanna-Kirchner-Medaille an Leute verliehen,
die im Widerstand waren oder jemandem geholfen haben. Sie können sich
nicht vorstellen, wie diese Leute geweint haben, dass sie erstmals
gelobt und nicht beschimpft wurden. Ich habe mitgeweint. So sehr hat es
mich berührt.
Erinnern Sie sich an ein ungewöhnliches Gespräch mit einem Zuhörer?
In
einem Gespräch erwähnte ich, dass Papst Pius II. eine unheimliche Macht
innehatte, aber mit den Nazis kollaboriert hat. Viele Menschen wären
gerettet worden, wenn sich der Papst genauso verhalten hätte wie der
dänische König, der sagte, er kenne nur Dänen und keine Juden, sonst
müsse er auch einen Stern tragen. Nicht jeder hätte viel ändern können,
aber etwas hätte jeder tun können. Nach der Veranstaltung kam ein
älterer Mann zu mir und sagte, der Papst hat auch Juden gerettet. Ich
erwiderte, wenn Jesus 1942 in Berlin gewesen wäre, hätte man ihn
umgebracht. Er wäre nach Auschwitz deportiert worden. Jesus war Jude.
Das hat den Mann erstaunt. Das ist vielen Menschen nicht bewusst.
Hatten Sie nach dem Krieg jemals Angst vor antisemitischen Anfeindungen?
Angst
hatte ich nicht, als ich nach dem Krieg nach Deutschland kam, aber
Distanz. Ich habe auch heute keine Angst. Denn ich muss sagen, dass –
egal, welche Regierung an der Macht war – meine Arbeit immer geschätzt
wurde. Das macht natürlich viel aus.
Wie würden Sie sich wünschen, dass man mit Problemen wie Antisemitismus und Rassismus anders umgeht?
Es sind alle gefragt, sich darum zu kümmern und Lösungen zu finden. Auch Sie!
Interview: Corina Silvia Socaciu
Zeitzeugengespräch: Am morgigen Mittwoch, 28. Januar, 10.15 Uhr spricht Simonsohn über die Kinder im KZ Theresienstadt, Uni Frankfurt, Campus Bockenheim, Raum HV, Hörsaalgebäude. cos
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