1 Abo und 0 Abonnenten
Artikel

Agriturismo: Wo nur die Nachtigall den Schlaf stört

Ach, Italien! Es gibt kaum einen schöneren Seufzer, um unserer ewigen Sehnsucht nach mehr Lebensfreude und Genuss Ausdruck zu verleihen. Unsere Sommerkolumne nimmt Sie mit auf die Reise.

Die Autostrada del Sole, seltener auch A1 genannt, führt von Mailand nach Neapel, vom Norden in den Süden . Es ist die längste Autobahn des Landes. Sie führt durch die Emilia Romagna, wo jede Ausfahrt einen kurz verleitet, doch noch den Blinker zu setzen, um sich wenigstens noch im nächstgelegenen Ort ein Panino belegen zu lassen. Als Souvenir für die Weiterfahrt, mit Prosciutto Crudooder Mortadella. Oder passt etwa noch ein Stück Parmigiano Reggiano in den Kofferraum? Hm, schon zu spät.

Und sie führt durch die - man erahnt die Grenze beim Fahren -, die Landschaft wird wieder hügeliger, Zypressenspitzen schwanken im leichten Wind und weisen den Weg zu diesen alten Häusern, die so lächerlich schön aussehen wie auf den Postkarten und die einen richtig aufrütteln und ernsthaft überlegen lassen, ob man nicht doch ein neues, friedfertigeres Leben genau da drüben, an der A1, irgendwo in der Toskana beginnen sollte. Magari! (Übrigens ein wunderbares italienisches Wort, eine Mischung aus einem dahingeseufzten "Schön wär's!" und einem tastenden "vielleicht?", aber wir schweifen ab, konzentrieren wir uns auf die Straße.)

Stau. Wir fahren gerade sehr langsam um Florenz herum, als wir merken: Nach Rom schaffen wir es heute nicht - viel zu viel sole auf der Autostrada. Sitz vollgeschwitzt, Lenkrad knallheiß, Stirn nass, Polenta im Kopf. Also bestellen wir einen am Autogrill, einer dieser hektischen, italienischen Raststätten, und beraten, während die Lkw, vermutlich randgefüllt mit Salumi aller Art, an uns vorbeirauschen. Wir brauchen eine Unterkunft, Ruhe, Schatten, gutes Essen. Wir brauchen einen agriturismo.

Ein agriturismo liegt im ländlichen Raum, etwas abgelegen, also nicht direkt an der A1, sondern ein paar kaputte Straßen und kleine Dörfer weiter. Vielleicht sind die Zimmer nicht so komfortable und sauber wie in teuren Hotels, aber dafür wird man von den Gastgebern umso herzlicher begrüßt. Er bietet meist einen ruhigen Schlafplatz, manchmal Katzen, Ziegen, Hühner und Pools, aber immer reichlich Essen und sehr guten und sehr günstigen Hauswein.

Ein halber Liter drei Euro, so in der Größenordnung. Das habe ich noch nie verstanden. Wenn meine italienischen Freunde mich früher im Sommer neugierig fragten, ob das Bier in Deutschland wirklich so billig sei wie Wasser, wunderte ich mich immer auch ein bisschen, denn bei ihnen kostete der Wein so viel wie eine große Flasche Wasser. Ist der nicht mehr wert?

In Apulien, der Region, aus der mein Vater kommt, gehen wir einmal im Sommer in einem agriturismo essen. Er liegt so versteckt, dass selbst wir manchmal die kleine Straße verpassen, die zu dem Bauernhof führt. Das Menü kostet 20 Euro. Es gibt kleine Teller mit Vorspeisen, Pittule, frittierte Teigbällchen, gegrillte Auberginen, Ricotta, Peperonata und vieles mehr und danach noch hausgemachte Pasta und danach noch Fleisch und danach noch Obst. Und danach ist man satt und frühstückt am nächsten Morgen nicht und geht auch lieber nicht ans Meer. Man verdaut einfach.

Gute agriturismi sättigen also, überraschen und könnten den Tourismus in Italien entscheidend entzerren. Damit nicht immer alle nach San Gimignano oder Montepulciano rennen, sondern auch andere, ähnlich schöne Ecken des Landes kennenlernen.

In Umbrien zum Beispiel. Wir biegen auf einen Kiesweg ein, parken das Auto im Schatten der Bäume. Eine Frau zeigt uns ein kleines Zimmer mit Blick auf Berge und Wälder. Wir springen in den Pool, bis wir merken, dass die Sonne bald untergeht. Die Olivenbäume bei unseren Liegen schimmern schon silbrig. Außer uns ist nur noch eine italienische Familie da, die Eltern lesen, die bambini planschen.

Später essen wir auf einer Terrasse, die Sonne geht jetzt unter, die Landschaft verfärbt sich, erst zögernd, zart und gelblich und dann entschieden, stark und rötlich-orange. Bis sie hinter dem Bergdorf verschwindet, die Umrisse des Kirchturms noch zu erkennen sind und es plötzlich finster ist. Beim Nachtisch flattern Fledermäuse über uns. Der Wind ist jetzt angenehm frisch, "Was für eine Ruhe!", denken wir da noch.

Wir schlafen ein. Es piept. Eine Alarmanlage? Hier draußen? Es piept. Regelmäßig. Sie geht nicht aus. Es piept wieder. Unser Auto? Wir zählen: etwa alle sechs Sekunden, wir kriegen in dieser Nacht kaum ein Auge zu. Wir googeln und verstehen: Es war die Nachtigall, die unter unserem Fenster saß und unseren Schlaf störte. Völlig übermüdet fahren wir am nächsten Tag auf der Autostrada del Sole nach Rom. Den agriturismo haben wir uns gemerkt. Wir kommen wieder, mit Ohropax.

Zum Original