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Italien: "Siiiiiiiii!!!!!"

Der Moment, die Sekunde des reinen Glücks, in der Europameister wurde, zog an mir vorbei: Donnarumma hält. Er hält einfach. Danach, die Kamera fängt es ein, geht er ein paar Schritte, schaut ernst. Ich sehe Donnarumma, verstehe das alles aber nicht, bin gedanklich noch bei Jorginho, der seine Elfmeter doch immer so lässig ins Tor hupst. Wie konnte er nur verschießen? Er hätte doch nur treffen müssen! Aber Gianluigi Donnarumma, die Bilder beweisen es, hat gerade gehalten. Nach ein paar Sekunden schwappt die Gewissheit wie Wellen eines Meeres über mich, mit ansteigender Wucht: Italien ist Europameister! Trainer Mancini weint, Kapitän Chiellini reckt den Pokal in den Himmel. Siiiiiiiii!!!!!

Was wäre ich jetzt gerne in Italien! Auf der Piazza del Popolo in Rom glücksbesoffen in einem Brunnen baden. In Neapel, mit einer Italien-Fahne um den Hals, auf einem motorino durch die engen Straßen knatternd. In Florenz, auf dem Piazzale Michelangelo, auf die vor mir liegende, feiernde Stadt schauend. Ich bin in Hamburg. Ich wurde kurz vor dem Spiel erstgeimpft. Immerhin in meinem Italien-Trikot.

Und nun weiß ich nicht so recht, ob der Impfstoff schon ballert oder ob es wirklich so schön ist, Europameister zu werden. Denn es fühlt sich unfassbar gut an. Noch einmal: Italien ist Europameister!!! Das erste Mal seit 1968. Nach dem letzten Triumph der italienischen Nationalmannschaft, dem Weltmeistertitel 2006, habe ich mich wochenlang gefreut, wirklich innerlich gefreut. Hatte ich einen schlechten Tag, sagte ich mir: Naja, immerhin sind wir noch Weltmeister. Da war ich 13. Heute bin ich 27 und weiß, dass ich mich wochenlang freuen werde. Ich weiß auch, dass es Menschen gibt, die das für vollkommen bescheuert halten. Schon klar: Ich erhalte keine Siegerprämie, darf Leonardo Spinazzola nicht hochheben, bin nicht mit Manuel Locatelli und Matteo Pessina befreundet, obwohl ich es wirklich gerne wäre, und ich war nicht im Stadion (darüber bin ich wiederum ganz froh). Kurz: Ich habe nix mit den Menschen in meinem Alter zu tun, die da gerade im Konfettiregen des Wembley-Stadions Notti Magiche grölen. Oder doch?

Es war die perfekte Europameisterschaft. Es war die perfekte Mannschaft. Es war der perfekte Trainer. Die ersten drei Siege in der Gruppenphase brachten den Azzurri die Leichtigkeit, weckten bei den Tifosi die Euphorie und die Lust, es mit dieser Mannschaft zu halten. Mit den Locken des jubelnden Manuel Locatelli, nach seinen zwei Toren gegen die Schweiz. Mit Ciro Immobile, der gegen den Pfosten bratzt, der zu spät am Ball vorbeirauscht, der seufzt und flucht, der sich aber nach jeder vergebenen Torchance die blonden Haare aus der Stirn streicht und breitbeinig wieder losstratzt. Mit Jorginho, der jeden Fehler seiner Mitspieler so elegant und vorausschauend ausbügelt. Mit Lorenzo Insignes Drehschuss, dem inzwischen europaweit bekannten tir a gir. Mit Marco Verratti, mit dem ich auch gerne befreundet wäre, nicht nur weil er sich unnachahmlich vor die Füße des ballführenden Gegners wirft und auf diese Weise ziemlich erfolgreich und dreist Bälle ergaunert. Mit Leonardo Spinazzola natürlich, der das Turnier seines Lebens spielt und der sich, dauergrinsend, in Wembley als Erster seine Medaille abholen darf.

Und mit Matteo Pessina, der ein Tagebuch führt und es auf Instagram veröffentlicht. Nach dem Spanien-Spiel schreibt er, die Mannschaft sei erst gegen fünf Uhr morgens aus London nach Coverciano, ins Trainingszentrum bei Florenz, zurückgekehrt. Federico Bernardeschi, der wenige Stunden zuvor einen wichtigen Elfmeter verwandelt hatte, habe cornetti alla crema für alle organisiert, dann seien alle satt und vermutlich cremafinalglücklich eingeschlummert. Am nächsten Abend sei Pessina mit seinem Kumpel Locatelli (Loca) ins Zimmer des Mittelfeldspielers Nicolò Barella gegangen, der sich gut mit Weinen auskenne. Dort hätten sie ein Glas getrunken. Pessina schreibt, dass es das sei, das große Geheimnis: "Wir sind 26 Freunde." Der EM-Sieg hat bewiesen, dass das stimmt.


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