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Flüchtlinge in Serbien: Sjenica - Endstation „Hotel Berlin"

Belgrad (APA) - Während im Zentrum Belgrads Flüchtlinge in der Kälte ausharren, sitzen auch im Süden des Landes Hunderte bei Minusgraden fest. In dem ehemaligen „Hotel Berlin" in Sjenica, das 2013 zum Flüchtlingslager umfunktioniert wurde, leben 440 Flüchtlinge und hoffen auf eine Weiterreise in die EU. Ein Ziel, das besonders für Afghanen nicht in naher Zukunft liegt.


Das Flüchtlingslager im „Hotel Berlin" liegt an einem Gebirgshang in einer der kältesten und ärmsten Regionen Serbiens. Sjenica liegt etwa sechs Autostunden von Belgrad entfernt vor den Bergen Montenegros. Vom Lager Sjenica gibt es kein Weiterkommen und auch kein Zurück. Seit Serbien im vergangenen Jahr auf Druck der EU-Staaten die Grenzen für Flüchtlinge geschlossen hat, sind 7.300 Flüchtlinge in dem Balkanland gestrandet. Der Großteil von ihnen lebt in den 17 staatlichen Unterkünften im Land, so legen es aktuelle Zahlen des UNO-Hochkommissariats für Flüchtlinge (UNHCR) nahe.

440 Flüchtlinge sitzen im Flüchtlingslager in Sjenica fest, doppelt so viele wie vorgesehen. Davon seien 200 von der Regierung verteilt worden, 250 seien alleine gekommen. Die Mehrzahl der Bewohner komme aus dem Irak und aus Afghanistan, rund 20 Syrer und etwa gleich viele Kubaner, sowie eine kleine Zahl an Iranern und Pakistanis. Das Lager habe einen guten Ruf, auch die muslimisch geprägte Umgebung könnte eine Rolle spielen, erklärt der Direktor des Camps, Fikret Hamidovic. In der Region in Südwestserbien seien 85 Prozent Muslime. Nur wenige Meter vom Flüchtlingslager entfernt steht eine Moschee.


Im Eingangsbereich des Lagers ist eine Warteliste angebracht. Sie führt die Flüchtlinge an, die aus Syrien und aus dem Irak kommen und in eine der zwei sogenannten Transitzonen einreisen und Asyl in Ungarn beantragen dürfen. Zurzeit sind es 20 Personen am Tag aus ganz Serbien, Familien haben dabei Vorrang, erklärte Dino, der Koordinator des Flüchtlingslagers, der in Sjenica aufgewachsen ist und nach eigenen Angaben viel Mitgefühl und Hilfe seitens der örtlichen Bevölkerung erlebt hat.

Rund zwei bis drei Monate sollen die Namen auf dieser Liste stehen. 


Nach Dinos Einschätzung funktioniert auch der Ablauf an der Transitzone für Araber und Kurden gut. Demnach sollen 300 Flüchtlinge bereits die ungarische Grenze überquert haben, 200 sollen darauf warten, sie demnächst zu überqueren. Gerüchten im Lager zufolge, wolle Ungarn aber die Zahl derer, die die Grenze überqueren dürfen, nun von derzeit 20 auf zehn senken. Dino befürchtet, dass sie noch weiter reduziert werden könnte und schließlich keine Flüchtlinge mehr nach Ungarn durchgelassen werden. Auch der illegale Grenzübertritt sei ein großes Risiko - nicht nur wegen der angeblich brutalen Vorgangsweise von ungarischen Grenzbeamten: „Wenn die Flüchtlinge die Grenze illegal übertreten, werden sie weder hier, noch in einem anderen Lager mehr aufgenommen", schilderte Dino.


Während sich manche der Flüchtlinge im Lager auf der Liste wiederfinden, haben sich für andere die Umstände geändert. „Es gibt seit drei Monaten keine Liste für Afghanen", sagte Dino ohne weitere Details zu nennen. Flüchtlinge aus Afghanistan müssten grundsätzlich länger warten, gerade die Alleinstehenden warten sehr lange, „bis zu zwei Jahre", sagte Dino.


Diese Wartezeit sei schwer zu überbrücken. Organisierte - wie sportliche - Aktivitäten sind wegen der Überbelastung des Camps nicht möglich. Wichtig sei es, den notwendigen Dingen nachzukommen, wie der Essensausgabe. Bei dieser reichte die Schlange zu Mittag bis zu den Sanitäranlagen. Familien, junge Männer und Kinder stellten sich an, um Hühnerkeulen, Fladenbrot, Kartoffeln und Kekse abzuholen. Nur eine Stunde später wurden auch Unterwäsche und Socken ausgegeben.

In der Eingangshalle steht ein Bett neben dem anderen. Dazwischen wurden mit Tüchern verhängte kleine Rückzugsräume geschaffen. In der Eingangshalle schirmen dünne Stofftücher, die über die Stockbetten gehängt werden, von dem lauten Treiben ab. Dafür, dass das Treiben nicht in Streit umschlägt, sollen drei Aufsichtspersonen am Tag sorgen, so Dino.


Trotzdem bekommt Igor Samar nachts kaum ein Auge zu. Der junge Pakistani ist einer der wenigen im Lager, der nicht vom Traum von Europa spricht. Ihn beschäftigen indes der Hass und die Hetze auf Flüchtlinge, sagte er. Auch die Entwicklung und das Erstarken der Rechtspopulisten in Europa mache ihm Angst. Er wünsche sich einen Sinneswandel für die Gesellschaft, sagte der 32-Jährige. Neben ihm hustet ein kleines Mädchen. Die medizinische Versorgung sei nicht ausreichend. Das größte Problem sei aber die fehlende psychologische Betreuung, die „hier mehr als die Hälfte der Menschen brauchen". Ein Psychologe soll schon seit Monaten keinen Besuch mehr gemacht haben, erklärte Samar.


Im oberen Stockwerk des „Hotel Berlin" wohnt seit vier Monaten eine Familie aus Mosul. Auf dem Doppelbett schläft die Mutter mit ihren zwei Töchtern und dem kleinen Sohn, auch er hustet. Die kurdische Familie ist aus Angst vor der Jihadistenmiliz „Islamischer Staat" (IS) geflohen. Der Mann habe sich für ein Nachrichtenmedium zu der Terrororganisation geäußert und sei daraufhin bedroht worden, erzählte die Frau. Die Familie will nun nach Deutschland, da auch der älteste Sohn (18) dort lebe.

Während in den aufgelassenen Lagerhallen in der serbischen Hauptstadt vorwiegend junge Männer hausen, finden im Camp Sjenica Frauen, Familien und unbegleitete minderjährige Flüchtlinge eine Unterkunft. Vier unbegleitete minderjährige Flüchtlinge leben in dem Camp. Einer von ihnen, Tahir aus Afghanistan, ist vor drei Monaten in dem Flüchtlingsheim angekommen. Der junge Afghane gab an, seit einem Jahr HIV positiv zu sein. Zwar werde er mit Medikamenten behandelt, habe aber trotzdem Schmerzen. Auch er möchte nach Europa, nach Frankreich, denn in Serbien, so sagte er, hat er keine Möglichkeit auf eine Ausbildung.


„Ist die Grenze wieder offen?", fragte die 14-Jährige Yalda. Sie ist mit ihrer Familie aus Afghanistan geflohen, nachdem ihr Bruder von den Taliban umgebracht wurde. Die Fluchtroute führte sie über Griechenland, wo sie Englisch und auch etwas Griechisch lernte. Im Lager schläft sie nun mit insgesamt 13 Menschen in zwei Stockbetten in einem der mit Tüchern verhüllten Zimmer. Unter ihnen ist auch ein neugeborenes Kind. Vier Kinder seien in den letzten drei Monaten zur Welt gekommen, fünf Frauen seien schwanger, berichtete der Koordinator des Flüchtlingslagers.


Bald soll das Camp entlastet und knapp die Hälfte der Flüchtlinge in ein neues Lager übersiedelt werden. Dazu wird eine Textilfabrik in der Nähe des Ortes umgebaut. Die Rohre für Heizungen seien schon verlegt, es sei aber noch einiges zu tun, berichtete Ninja, eine Mitarbeiterin der Hilfsorganisation CARE. Das Flüchtlingslager in Sjenica wurde von den lokalen Behörden bereitgestellt. Die Flüchtlinge werden von CARE und lokalen Partnern versorgt.


Das „Hotel Berlin" steht für den Wunsch vieler Flüchtlinge in ihr erklärtes Zielland Deutschland zu kommen. Viele berichten davon, Verwandte in Europa zu haben. Knapp elf Monate nach der Schließung der Balkanroute ist die Hoffnung der Flüchtlinge noch immer groß, doch aus dem früheren Transitland Serbien wurde für viele eine Endstation.

( S E R V I C E - CARE-Spendenkonto: IBAN AT77 6000 0000 0123 6000; BIC: BAWAATWW)

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