Es fühlt sich kurz an wie ein Samstagmorgen in den Neunzigern, als sich Eltern noch einmal im Bett herumdrehen konnten, während die Kinder bei diversen privaten Sendern von Zeichentrick-Marathons bespaßt wurden. Batman & Robin, die Turtles, Superman, die X-Men, Ghostbusters und viele andere Helden übertrumpften sich auf den frühen Sendeplätzen mit der Weltenrettung. Visuell reiht sich „Invincible" genau hier ein, und auch erzählerisch scheint eher die junge Zielgruppe bedient zu werden, allerdings in ausschweifenden vierzig Minuten pro Folge statt der üblichen 20 bis 25.
Ein erster Hinweis, dass es hier doch dramatischer zugehen könnte als erwartet. Die Serie erzählt zunächst, wie ihr titelgebender Held zu seinen Fähigkeiten kommt. Während die meisten Superhelden von ihren übermenschlichen Kräften überrascht werden, sich ihr Leben nach einem Tierbiss, einem Unfall im Labor oder einer unbekannten genetischen Disposition vom einen auf den anderen Tag komplett verändert, ist es hier andersherum. Mark Grayson (gesprochen von Steven Yeun) wartet seit seinem siebten Lebensjahr darauf, dass sich endlich etwas tut. Sein Vater ist ein Außerirdischer, der zur Erde gesandt wurde, um deren Bewohner vor Unheil zu bewahren und es gilt als gesichert, dass Nachkommen die Alien-Eigenschaften ihrer Eltern erben. Nolan Grayson (J. K. Simmons) kann fliegen, ist superstark, superschnell und superresistent, ein mittlerweile fast ödes Standard-Repertoire für einen Helden, aber effektiv. Jeden Tag sieht Mark in den Nachrichten, wie sein Vater als „Omni-Man" für die Welt im Einsatz ist, bevor pünktlich das Abendessen einfliegt. Die irdische Mutter Debbie hat sich an die Vor- und Nachteile des Super-Partnerlebens gewöhnt, ihren Sohn sähe sie aber lieber weiterhin in Jeans als im hautengen Anzug.
Ein Name würde die Wahl einfacher machenDoch nach zehn langen Jahren des Wartens ist es so weit: „Das ist das, was alle wollen. Etwas Heldenhaftes - mit Aussagekraft", raunt der weise Schneider ( Mark Hamill), als die Graysons in dessen geheimem Laden stehen und Mark sich für ein Outfit entscheiden soll. Ein Name würde die Wahl einfacher machen, und nach einem schicksalhaften Gespräch entscheidet sich der Teenager für „Invincible", auch wenn sich bald herausstellt, dass er keineswegs so „unverwundbar" ist, wie der Titel vermuten lässt.
Invincible hat noch eine lange Reise vor sich: Die gleichnamige Comicvorlage kam 2018 nach 15 Jahren an ihr Ende, sie stammt von Robert Kirkman, der sich in der Fernsehlandschaft mit der Serie zu seinen „The Walking Dead"-Comics längst einen Namen gemacht hat. Auf den ersten Blick könnten diese beiden Adaptionen unterschiedlicher nicht sein. Die eine realverfilmt, pessimistisch und brutal, die andere animiert, locker, erbaulich. Doch dann sind die ersten 35 Minuten der Pilotfolge vorüber, und plötzlich vollzieht sich eine Wendung, die hoffen lässt, dass keine Kinder mit Zugriff auf die elterlichen Streaming-Angebote sich von der quietschbunten Optik zum Einschalten haben verleiten lassen. Denn auf einmal dominiert die Farbe Rot, und es wird klar, wieso die Serie erst ab achtzehn Jahren freigegeben ist.
Es tun sich Abgründe auf in dieser Welt, die von einer Horde Superhelden bevölkert ist, die sich buchstäblich darum prügeln, wer als Mitglied der beliebtesten Teams die Erde beschützen darf. Aus einem dieser Abgründe steigt Dämonendetektiv Damien Darkblood hervor, inklusive Schreibblock, Trenchcoat und Schlapphut, der nun ermitteln soll, wie es zu dem gewaltsamen Zwischenfall kam und was Marcs Familie damit zu tun hat. Ähnlich großartig groteske neue Figuren folgen Darkblood. In einem rigorosen Befreiungsschlag entledigt sich Kirkman des Erbes berühmter Kultfiguren wie Batman, The Flash oder Wonder Woman und erschafft Helden, die einiges können, noch viel mehr aber nicht. Die in einer Welt leben müssen, in der ihr Dasein zur Selbstverständlichkeit geworden und mit unerfüllbaren Ansprüchen behaftet ist, in der jeder Misserfolg dokumentiert und zum Running Gag bei Instagram wird.
In so einer Welt muss man vor allem abgebrüht sein, und um das hörbar zu machen, hat Kirkman als seine Sprecher eine beeindruckende Expertenriege für zynische Schnippischkeit versammelt, darunter Sandra Oh, Seth Rogan, Gillian Jacobs und Zazie Beetz. Es ist ein Wagnis, diese „Superheldenserie für Erwachsene", wie Amazon, wo die acht Folgen der ersten Staffel veröffentlicht werden, es nennt. In der scheinbaren Dissonanz zwischen dem visuellen und erzählerischen Stil liegt der Reiz, der die Kinder der Neunziger zum Einschalten bewegen wird und der Serie die Chance eröffnet, ihnen zu beweisen, dass sie jenseits von Abgrenzung zu Altbekanntem etwas über die Gegenwart zu erzählen hat. Vielleicht sogar etwas Heldenhaftes - mit Aussagekraft.
Invincible läuft bei Amazon Prime Video.