Sie ist eine der wichtigsten Stimmen des islamischen Feminismus in Nordafrika und vertritt eine neue Lesart der koranischen Texte: Interview mit der marokkanischen Autorin Asma Lamrabet.
Alle. In jeder Religion wurden die heiligen Texte von Männern ausgelegt. Dabei hat manche frauenfeindliche Vorschrift im Islam noch nicht einmal ein Fundament im Koran. Zum Beispiel finden Sie in der arabischen Welt oft die Bestimmung, dass Frauen einen Vormund (arabisch „wali") brauchen, also Vater oder Bruder, die Entscheidungen für sie treffen. Aber weder im Koran noch in der Sunna, der Tradition des Propheten Mohammed, steht etwas dazu. Der Vormund ist eine reine Produktion der islamischen Rechtsprechung. Solche Bestimmungen darf es nicht weiter geben.
Marokko hat die Vorschrift, dass Frauen einen Vormund brauchen, glücklicherweise im Familienrecht von 2004 gestrichen. Dennoch überwiegen in der marokkanischen Gesellschaft konservative Einstellungen bei Frauenrechten. Woran liegt das?
Die Menschen setzen das neue Familienrecht nicht um. Selbst gebildete Marokkanerinnen kennen ihre neuen Rechte nicht. Das liegt daran, dass es keine „Reform der Mentalität“ gibt, das geht nur über mehr Bildung. Wir müssen vermitteln, dass Gleichberechtigung nichts Abstraktes ist, sondern zu unserem islamischen Bezugssystem gehört. Man verlangt von der islamischen Welt, sich zwischen Moderne und einem islamischen Traditionalismus zu entscheiden. Damit müssen wir aufhören, die jungen Menschen überzeugt das nicht mehr.
Dieses archaische Gesetz stammt noch aus der Kolonialzeit, aber das Schlimme ist, dass die Menschen hier tatsächlich glauben, es wäre islamisch. Hier müssen wir unsere Köpfe stärker dekolonisieren. Keine Religion erlaubt sexuelle Beziehungen außerhalb der Ehe, aber das ist eine moralische Frage zwischen dem Einzelnen und Gott.
Ja, sie leben anders, selbst wenn sie ein Kopftuch tragen. Für viele bedeutet das Kopftuch eine Befreiung, denn so können sie ausgehen, arbeiten oder sich in einer Organisation engagieren. Es gibt noch viel zu tun, denn die sexuelle Belästigung in den Straßen ist ein massives Problem und immer noch haben viele Männer die Angewohnheit, ihre Schwestern und Ehefrauen herumzukommandieren, ihnen zu sagen, wie sie sich kleiden sollen. Die Freiheit, uns zu kleiden, wie wir möchten, müssen wir erst noch erreichen, auch beim Kopftuch.
Religiöse Ämter bleiben bisher Männern vorbehalten. Sind Sie für weibliche Imame?
Keine einzige Stelle im Koran verbietet weibliche Imame. Im Gegenteil, der Prophet Mohammed hat es ausdrücklich einer Frau erlaubt, als Imamin tätig zu sein, die den Koran sehr gut kannte. Der Koran liefert also Argumente für weibliche Imame und nicht gegen sie. Letztlich ist es eine Frage der Mentalität. Denn eine Frau, die das Gebet leitet, ist ein bisschen wie eine Politikerin, die ein Land leitet. Das stößt vielen Männern noch auf. Auch hier sind sich die Religionen einig.
Das klingt, als wären Sie sich in Ihren Forderungen mit westlichen Feministinnen einig.
Säkulare, westliche Feministinnen haben mich am Anfang hart kritisiert. Sie wollten nicht akzeptieren, dass eine praktizierende Muslima, die zudem damals noch das Kopftuch trug, über Frauenrechte spricht! Aber das ist auch eine Form von Patriarchat, ein weibliches Patriarchat. Sie haben kein Recht, mir zu diktieren, was ich fordern darf. Es gibt mehrere Feminismen, etwa den Feminismus der Befreiung in Lateinamerika oder den „Black Feminism“ in den USA. Warum nicht einen islamischen Feminismus?
Gibt es nicht heute eine größere Offenheit unter Feministinnen?
Das ändert sich langsam, ja. Man ist heute eher bereit, muslimischen Frauen zuzuhören, die sich mit einer neuen Lesart des Koran befreien wollen. Wenn ich in Frankreich lebte, wäre mein Feminismus ein anderer, aber ich bin Marokkanerin und Muslimin, das ist mein Hintergrund. Westliche Feministinnen müssen anderen Frauen die Wahl lassen, wie sie ihren Feminismus verstehen wollen.
Interview: Claudia Mende
Zum Original