Was die Kinder nicht mitnehmen konnten, liegt auf dem Boden zwischen Schrank und Kommode, ein Hüpfball, eine bunte Plastiklokomotive. In weißen Holzregalen stehen Bücher und Spiele, dazwischen stecken kleine Feuerwehrautos und Kuscheltiere. Der dunkle Teppichboden ist schmutzig, es sieht so aus, als seien die Kinder gerade außer Haus, im Park oder in der Schule. Nur eine dicke Staubschicht verrät, dass hier schon lange niemand mehr gespielt hat.
"Wir haben sie verloren", sagt Peter K. später, als er die Tür zu seiner Wohnung schließt, in der er jetzt nur noch mit seiner Frau Anita lebt. Die beiden machen sich auf den Weg zum Wiener Hauptbahnhof, es ist frühmorgens, kurz nach sechs Uhr, gleich geht ihr Zug. "Wir in unserer Familie wären eigentlich zu fünft, aber wir sind nur zu zweit", sagt er. "Denk dir einmal, wie weh das tut." Drei Stunden und 16 Minuten Fahrt liegen vor ihnen. So weit wohnen ihre beiden jüngsten Kinder von ihnen entfernt. Anita K. holt ihr Handy hervor. Sie wischt durch die Fotos, die ihr von den Betreuerinnen und Betreuern des Jugendamts regelmäßig zugesendet werden. Sie sieht ihre Kinder beim Rodeln, beim Puzzlen, beim Karussellfahren. Klassische Kindheitsfotos, nur die Eltern fehlen.
"Wir in unserer Familie wären eigentlich zu fünft, aber wir sind nur zu zweit. Denk dir einmal, wie weh das tut"
Peter und Anita K. heißen eigentlich anders. Um ihre zu schützen, bleibt auch der genaue Wohnort ihrer Kinder geheim. Die beiden haben zwei Söhne und eine Tochter. Philipp, 21 Jahre alt. Laura, 13. Und Paul, 10. Aber sie haben kein Sorgerecht, es wurde ihnen entzogen. Den Großteil ihrer Kindheit haben die Geschwister ohne die Eltern gelebt: Philipp zog mit sieben in eine Wohngruppe der Wiener Kinder- und Jugendhilfe (MA11), Laura und Paul mit sieben und vier. Der Grund: Verwahrlosung. So steht es in den Akten über die Familie, die der ZEIT vorliegen. Und: Die Eltern sind mit der Erziehung der Kinder überfordert. Ein Grund dafür ist, dass beide mit einer intellektuellen Behinderung leben. Für Familien wie sie gibt es in Österreich nur wenig Unterstützung. Die MA11 sollte den Kindern ein besseres, ein sicheres Leben bieten. Doch im Fall von Familie K. geschah das Gegenteil.
Laura und Philipp sollen beide in der Obhut der Kinder- und Jugendhilfe sexuelle Übergriffe erlebt haben. Philipp, der älteste Sohn, sei schon vor Jahren in seiner Wohngruppe zum Oralsex gezwungen worden, da war er neun Jahre alt. Fünf Jahre später sei seine kleine Schwester Laura gezwungen worden, den Penis eines Jungen in den Mund zu nehmen. Beide Vorfälle wurden von der Kinder- und Jugendhilfe dokumentiert. Laura war damals acht Jahre alt. Der Junge lebte in derselben betreuten Wohngemeinschaft wie sie.
Mutmaßliche Übergriffe im Heim, die Unterbringung der Kinder in weiter Entfernung zu den Eltern - die Geschichte der Familie K. ist kein Einzelfall. Sie zeigt, wo ein System, das für das Wohl der Kinder sorgen soll, an seine Grenzen stößt.
Sowohl der Volksanwaltschaft als auch der Kinder- und Jugendanwaltschaft werden jährlich mehrere Fälle von Missbrauch zwischen Kindern in Fremdunterbringung gemeldet, wie viele es genau sind, kann niemand genau sagen. Denn nur wenn die Täter über 14 Jahre alt sind, werden sie strafrechtlich verfolgt. Über alle Vorkommnisse, die nicht zu einer Anzeige führen, wird laut MA11 keine gesonderte Statistik geführt.
Alles beginnt in den früher 2000er-Jahren. Peter und Anita K. leben an der Armutsgrenze, wohnen mit ihrem Sohn Philipp in einer kleinen Gemeindebauwohnung in . Anita K. arbeitete früher als Weißnäherin, ein Beruf, der heute mehr oder weniger ausgestorben ist - sie ist schon seit vielen Jahren arbeitslos. Anita K., heute in ihren Vierzigern, spricht langsam und bedacht, manchmal wirkt sie abwesend. Ihr Mann ist ganz anders: Peter K., Mitte 50, ist groß, hat eine laute, kräftige Stimme. In den Akten über seine Familie beschreibt ihn die MA11 als "dominant" und "kaum an seinen Kindern interessiert". Er war beim Bundesheer, danach arbeitete er eine Zeit lang als Security-Mann. Seit einem Fahrradunfall gilt er als arbeitsunfähig.
Bei der Erziehung ihres ältesten Sohnes Philipp sind die beiden wegen ihrer intellektuellen Behinderung immer wieder auf Hilfe angewiesen. Die Hausaufgaben mit Philipp zu machen, ihm zu erklären, dass er in die Schule muss, fällt ihnen schwer. Ein paar Jahre geht alles gut. Die Familie erhält Unterstützung einer Familienhelferin des Jugendamtes. Doch 2006 beginnen die Probleme. Nach einiger Zeit sagt ihnen ein Mitarbeiter der MA11, Philipp könne nicht mehr zu Hause leben. In den Akten wird vermerkt, dass Philipp in der Schule nicht aufpasse, sich hyperaktiv und aggressiv verhalte, sprachliche Defizite habe. Zu Hause werde er vernachlässigt, es sei dreckig, durch die Haustiere sei der Geruch in der Wohnung unerträglich. Die Eltern fühlten sich auf den Schritt der MA11 nicht vorbereitet. Peter K. sagt: "Sie haben ihn einfach mitgenommen."
Von da an lebt Philipp in einer Wohngruppe in Wien, die Eltern sehen ihn einmal die Woche, jeden Samstag. Sie gehen mit ihm spazieren, manchmal Eis essen. Jedes Mal hoffen sie, dass ihr Sohn zu ihnen zurückkommen kann. Gegenüber seiner Psychologin sagt Philipp damals, er habe drei Wünsche: dass er nach Hause darf, dass es keine WGs mehr gibt und dass alle Kinder zu Hause leben dürfen.